Für Gourmets: 5 Sterne

Hari Kunzru: White Tears

„Wenn das Grauen an dich glaubt, kannst du nichts dagegen tun“
Alles beginnt mit einer Aufnahme, die Seth eines Tages in New York macht, er fängt eine Stimme ein, einen Sänger, den er gar nicht gesehen hat, und gemeinsam mit seinem Freund Carter filtert er den Gesang heraus. Die beiden sind in der Branche bekannt für ihren einzigartigen Sound, sie können alles so klingen lassen, als sei es alt, sehr alt – der schwerreiche Carter sammelt wertvolle Bluesplatten, Seth ist ein Computerfreak, sie kennen sich vom College.

„Klar, ich hörte die ganze Zeit Bluesmusik, aber dass ich diese alten Songs so mochte, diese geisterhaften Stimmen, die aus der Vergangenheit zu mir sprachen, lag unter anderem daran, dass ich in ihnen Zuflucht vor der Welt suchte.“

Doch als sie den geheimnisvollen Bluesgesang veröffentlichen, geraten sie plötzlich in einen Strudel höchst seltsamer Ereignisse: Carter verschwindet, und für Seth, der ihn sucht, verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit immer mehr, er weiß nicht mehr, was real ist und was nicht. Wird er verfolgt? Ist ihm ein rachsüchtiger Geist auf den Fersen? Blutrünstige Morde, Rassismus und ein New York, das es auf diese Weise schon sehr lange nicht mehr gibt: Davon handelt dieser unglaublich spannende Roman von Hari Kunzru.

„Ich habe das Gefühl, nicht mehr Herr über mein Leben zu sein. Nichts von dem, was ich tue, kann mich in meinem Innersten berühren. Meine Erinnerungen sind ein Geflecht aus verschwörerischen Verbindungen. Alles ist schon passiert.“

Über JEDEN Thriller wird gesagt, dass man ihn „atemlos“ lese und er „eine Sogwirkung“ besitze, deshalb sind diese Formulierungen extrem abgelutscht, aber Leute: Ich hab dieses Buch inhaliert, ich war sowas von gefesselt, ich war ernsthaft angefixt, und das passiert mir fast nie. Ich wollte lesen, lesen, lesen. Was für eine abstruse, gespenstische, großartige Geschichte! Zuerst denkt man, es gehe um diese beiden Freunde, die ein Tonstudio betreiben, obwohl sie so unterschiedlich sind, dann merkt man: Es geht um Musik, um Klänge, um Sound. Und plötzlich ist da diese Wut. Eine alte, tiefe, begründete Wut – die die beiden Jungs unabsichtlich entfesseln. Auf einmal tun sich Schichten auf, mit denen man nicht gerechnet hat, Abgründe, die nach Blut und Moder riechen: Rassismus, Sklaverei, Ausbeutung, Gewalt. Hari Kunzru erzählt nicht mehr linear, lässt alles zerfließen und vermischt irreale mit realen Elementen – es ist unmöglich, dieses Buch einzuordnen. Es ist kein Krimi, kein Thriller, kein reiner Roadmovie, es ist alles davon und doch viel mehr, das macht es so unglaublich bemerkenswert. Und so gut!

White Tears von Hari Kunzru ist erschienen bei Liebeskind (ISBN 978-3-95438-078-7, 352 Seiten, 22 Euro).

2 Comments to “Hari Kunzru: White Tears”

  1. Ich kann deine Begeisterung für den Roman absolut teilen! Die Geschichte ist so vielschichtig und durch die Verbindung von Realem und Irrealem so komplex, dass auch ich beim Lesen – wie du es schreibst – total angefixt war. Eines meiner absoluten Lieblingsbücher!

    Liebe Grüße
    Cora

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