„Unter der glatten Oberfläche des Vertrauten wartet etwas anderes darauf, die Welt in Stücke zu reißen“
„Das Zusammenleben mit ihm war, als betrachte man das Meer. Jeden Tag hatte es eine andere Farbe, waren die schaumbedeckten Wellen unterschiedlich hoch, aber es zog mit der immer gleichen rastlosen Stärke in Richtung Horizont.“
Das sagt Circe über Odysseus, und damit sind wir gleich bei der Stärke dieses Buchs: Es erzählt die Sagen, die wir kennen, aus der Sicht einer Frau. Endlich hat jemand diesen Stoff, diesen mythischen, uralten, in Tausenden Unterrichtsstunden durchgekauten Stoff genommen, umgedreht, von der anderen Seite beleuchtet – und dadurch so zum Strahlen gebracht, dass das golden glänzende Cover mehr als nur passend ist. Ich bin durch dieses Buch geflogen wie im Rausch, denn ich konnte – und obwohl ich so viel lese, geschieht das nur selten – nicht aufhören, mich nicht lösen, ich wollte wissen, wie es weitergeht. Und das ist umso kurioser, weil ich es ja eigentlich sowieso WUSSTE, weil ich sie kenne, die Geschichten von Odysseus und Athene, von Hermes und Poseidon und Zeus und Medea, ich kenne sie alle und gut: In der Schule waren es mir die liebsten Stunden, in denen uns die Lateinlehrerin einfach nur die alten Mythen vorlas. Umso großartiger war es jetzt, dank Madeline Miller zu ihnen zurückzukehren, und mehr als das: Sie besser kennenzulernen, sie klarer zu sehen – durch die Augen einer Frau. Denn alle diese Heldensagen handeln von Männern, erheben Männer, lobpreisen Männer, und sämtliche Ehefrauen und Nymphen sind nichts als Ablenkung, Spieleinsatz, Beute.
„Als Bräute wurden Nymphen bezeichnet, aber das war es nicht, was die Welt in uns sah. Wir waren ein nie enden wollendes Festmahl, dargeboten auf einem Tisch, wunderschön und sich ständig erneuernd. Und so furchtbar schlecht im Weglaufen.“
Female empowerment ist ein Schlagwort der Stunde, und das hat einen Grund: Es fehlen die Heldinnensagen. Es fehlen die Gefühle von Penelope, als Odysseus nach zwanzig Jahren zurückkam und ein anderer war. Es fehlt der Blick auf die Beweggründe der weiblichen Figuren, der Fokus liegt stets nur auf den Kerlen. Strophen über Strophen wird gesungen über ihren Mut und ihre Muskeln, Kampf und Krieg. Aber ganz ehrlich? Ich bin Circeist viel interessanter. Es nimmt all die Mythen und fügt Emotionen dazu, die endlich einmal nicht von Testosteron durchzogen sind. Sondern von Mitgefühl und Voraussicht, von Ehrlichkeit, Angst und Weisheit. Female empowerment plus griechische Mythologie – das ist eine großartige, wahnsinnig schlaue Kombination, und deshalb MÜSST IHR DIESES BUCH LESEN. Lasst euch becircen!
„Wir sind hier. So fühlt es sich an, wenn man in der Flut schwimmt, wenn man auf dem Antlitz der Erde wandert und spürt, wie sie unsere Füße berührt. So fühlt es sich an, wenn man lebt.“
Ich bin Circe von Madeline Miller ist erschienen im Eisele Verlag (ISBN 9783961610686, 528 Seiten, 24 Euro), hervorragend übersetzt von Frauke Brodd.