Prost Mahlzeit: 1 Stern

Genie oder Wahnsinn?
Sam Leiser war drei Jahre alt, als er mit seinem Vater Yehuda und dem geheimnisvollen Meyer vor dem Holocaust nach Amerika flüchtete. Dort wurde aus Yehuda der berühmte Autor Jonathan Still, “Erfinder einer der bekanntesten Detektivgestalten der Neuzeit”. Jahre später lebt Sam in Paris und übersetzt des Vaters Werke ins Deutsche, stets auf der Suche nach geheimen Botschaften, die nur er deuten könnte. Getrennt von seiner großen Liebe Letitia, verliebt er sich in seine Spanischlehrerin Elizabeth und bekommt Besuch von seiner 12-jährigen, pubertierenden und den Aufstand probenden Tochter Ashy, die für ein Jahr bei ihm bleiben und den Schritt ins Erwachsenenleben schaffen soll. Die zahlreichen düsteren Gestalten, die die Türschwelle von Sam heimsuchen, und sein egozentrischer Charakter sind bei diesem Vorhaben aber nicht unbedingt hilfreich.

Der Vogel, der spazieren ging ist eine Mischung aus moderner Fiktion und “film noir” zum Lesen. Zwar fehlt das zentrale Motiv dieses Filmgenres – ein Mord – , doch die teilweise kriminellen Machenschaften der Romanfiguren sind davon nicht weit entfernt. Wer wem an den Kragen will und warum eigentlich – das ist eine Frage, die bis zum Schluss ungeklärt bleibt. Die Atmosphäre erinnert stark an jene alten Detektivgeschichten, die Sams Vater schrieb – vermutlich eine bewusste Anlehnung an diese Sparte. Allerdings fehlt es an einer klaren Struktur, Figuren kommen und gehen, verfolgen jemanden, brechen ein und stehlen, verlieben sich, sterben. Elizabeths Vater spielt eine merkwürdige Schlüsselrolle, und als Yehuda mit der Gangsterverwandtschaft in Paris eintrifft, gerät die Lage – und die Handlung im Roman – vollständig außer Kontrolle. Es ist ein wirrer Reigen an Gestalten, die Martin Kluger auftreten lässt, die Hintergründe sind überraschend dunkel, obwohl eigentlich kaum etwas Verachtenswertes passiert. Ein großes Ganzes kann ich inhaltlich nicht erkennen, ich folge den einzelnen plastischen Szenen wie in einem klassischen Schwarz-Weiß-Film, bei dem man schon ganz genau aufpassen muss, um den Faden nicht zu verlieren.

Gut gelungen sind die Einschübe jüdischer Kultur und jüdischen Humors, besonders für Tochter Ashy sind die Wurzeln der Familie von Bedeutung. Grundsätzlich aber kommt die Komik, von der andere Rezensenten schwärmen, nicht bei mir an. Stilistisch gesehen ist Der Vogel, der spazieren ging ein undurchgängiger Mix aus klaren, schönen Formulierungen wie “Lebst du allein, ist die Küche der einsamste Ort der Welt” und überstrapazierten, komplizierten Sätzen, die dem Leser schnell die Geduld rauben, ein Beispiel: “Ihr edles Ringen mit Gott, ihre Sehnsucht nach Innigkeit und Hingabe, das frühe Sich-Versenken in den Quijote, der das Reich Gestalten-mischender Möglichkeit viel ungetrübter aufmischte als Goethe: alles profanisiert von einem gescheiterten Chauvinisten mit violetten Augen, der sich einbildete, ihr leiblicher Vater zu sein und, wenn mich nicht alles täuschte, scharf auf sie war.” Ich kann mich daher lange nicht entscheiden, ob ich dieses Buch nun mag oder nicht, ich schwanke von Seite zu Seite und hoffe auf einen Knalleffekt am Ende, auf des Rätsels Lösung, auf ein zufriedenes Nicken meinerseits – das aber leider ausgeblieben ist.

Der Vogel, der spazieren ging ist erschienen bei Dumont (ISBN 978-3-8321-7998-4, 19,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Familienglück auf Eis
Wenn man 13 ist, ist das Leben kompliziert. Für Jake gilt das in besonderem Maße: Mutter Mary ist Alkoholikerin, Vater Bill gerade ausgezogen, der große Bruder Matt verschwunden, der kleine Bruder Andy auf ihn angewiesen. Wir schreiben das Jahr 1985 und Jake möchte gern unbeschwert sein, die Jugend genießen, sich eine Midi-Anlage kaufen. Auch Mary war einst – wie die Rückblenden aus den Sechzigerjahren erzählen – lebensfroh und voller Hoffnungen. Sehr eng war sie ihrer Schwester Rachel verbunden, doch der Kontakt brach ab und die beiden Frauen treffen sich erst 15 Jahre später wieder. Dann kommt plötzlich ein lang verstecktes und gefährliches Familiengeheimnis ans Licht …

Am Ende eines Sommers erzählt die Geschichte einer Familie, die sich stets sehr nah am Abgrund bewegt. Als Leser fühlt man mit Jake mit, der sich in der unglücklichen Lage befindet, gerade groß genug zu sein, um Verantwortung zu übernehmen – aber immer noch klein genug, um sich dabei wie ein verzweifeltes Kind zu fühlen. Das Buch lebt von zwei Handlungssträngen, Jake berichtet aus seiner Sicht, Mary bekommt eine eigene Perspektive in der Vergangenheit, die erklären soll, wieso es zu den Ereignissen 20 Jahre später kommt. Isabel Ashdown schreibt sehr flüssig, in einem Stil ohne Widerhaken und Fallen. Ihre Charaktere sind glaubhaft, die Atmosphäre hat sie gut eingefangen, manche Worte brennen wie Säure.

Mein Kritikpunkt an diesem Buch ist die Verwirrung, die nach der letzten Seite bleibt. Viele Fragen sind noch offen, wenn der Roman bereits geschlossen ist: Wer ist wessen Vater, wer hat wen hintergangen? Was hat es mit dem Familiengeheimnis tatsächlich auf sich, warum haben sich die Schwestern entzweit? Trotz hoher Konzentration auf alles, was in und zwischen den Zeilen steht, ist das nicht ganz klar, man muss ein wenig weiterrätseln, sich wundern, noch mal nachdenken. Zwar ist das Ende wunderbar passend wie ein Puzzleteil, gleichzeitig aber dennoch irritierend und schockierend. Dies ist ein Buch, das den Finger genau auf die Wunde legt. Und dann fest hineindrückt. Das macht es authentisch. Eitel Sonnenschein suche man woanders!

Am Ende eines Sommers ist erschienen im Eichborn Verlag (ISBN 978-3-8218-6120-3, 19,95 Euro).

Netter Versuch: 2 Sterne

Bei der Bibliophilin habe ich das Buch Rost von Philipp Meyer gewonnen – noch einmal herzlichen Dank!

Zwei Freunde und ein Mord
Isaac will weg aus der Provinz, aus der sterbenden Stahlstadt, die einst reich war und nach Schließung der Stahlwerke nur noch Arbeitslose beherbergt. Isaacs Schwester Lee hat sich schon vor Jahren aufgemacht zur Uni, deshalb ist er nach dem Selbstmord der Mutter mit seinem kranken Vater allein. Er stiehlt ihm Geld und macht sich zu Fuß auf den Weg, er will nach Kalifornien und studieren. Sein bester Freund Poe, der Footballspieler hätte werden können, aber nur bei seiner Mutter im Trailer herumhängt, begleitet ihn – nur ein Stück, wie er sagt. Doch kaum sind die beiden unterwegs, kommt es zu einem verhängnisvollen Zwischenfall, bei dem der schmächtige Isaac in Notwehr einen Obdachlosen tötet. Und der rabiate, zukunftslose Poe wird dafür verhaftet.

Rost ist ein Buch über Verlierer, über Menschen, die gescheitert sind, die ihre Arbeit verloren haben, die dem Alkohol verfallen sind und vor sich hin vegetieren. Der junge Isaac möchte diesem Schicksal entkommen, doch das Leben stellt ihm eine Falle und lässt ihn nicht aus. Philipp Meyer schreibt über eine Freundschaft zwischen zwei jungen Männern, die nach klassischem Schema verschieden sind – Isaac klein und schlau, Poe stark und dumm – und doch im Ernstfall zusammenhalten. Der eine steht für den anderen ein und verrät ihn nicht, auch wenn er dadurch selbst in Schwierigkeiten gerät. Schade ist jedoch, dass schon mit dem Klappentext der gesamte Inhalt erzählt ist, denn die Geschehnisse inklusive Verhaftung sind nicht der Auftakt, sondern die ganze Geschichte. Die Perspektiven wechseln zwischen Isaac – der sich irritierenderweise selbst oft mit Kleiner anspricht oder mit du –, Poe, Lee, Poes Mutter, dem Sheriff und Isaacs Vater. Sie alle berichten von ihrem verpfuschten Leben, keiner von ihnen ist glücklich.  

Da die Handlung extrem beschränkt ist, rückt die Sprache umso mehr in den Vordergrund. Und leider behagt mir Philipp Meyers Stil so gar nicht. Er schreibt sehr direkt, umgangssprachlich, rotzig. Das erinnert an DBC Pierre und Philippe Dijan. Die Erzählweise ist scheinbar distanziert und gleichgültig: „Denk an Poe, was macht der wohl gerade? Fickt wahrscheinlich deine Schwester. Oder liegt besoffen irgendwo herum. Und doch, er ist dir nachgestiegen in den Fluss. Und er ist auf deine Spritztour mitgekommen. Und hat mit der Schlägerei begonnen, ganz genau. Alleine wärst du besser dran gewesen.“ In dieser Art verlaufen Isaacs Gedanken. Details werden über Seiten ausgebreitet, es gibt viele penetrante Wiederholungen, was das Lesen recht zäh macht. Zudem bevorzugt Philipp Meyer abgehackte Sätze wie: „Er wachte eine Weile später auf. Tat alles weh. Kein Platz, sich mal zu strecken. Wurde langsam dunkel.“ Zwar streut er zwischendurch einige schöne und herausleuchtende Sätze ein, grundsätzlich aber ist mir die Tonart zu gehässig und gelangweilt.

Der Stil von Rost passt nicht im Geringsten zum moralischen Inhalt. Dazu besteht auch keine Verpflichtung, aber da weder die Handlung noch die Sprache herausragend sind, hat dieses Buch wenig Feuer. Mir wäre eine nachdenklichere, tiefergehende Erzählstruktur lieber gewesen, passend zu einer leeren Stadt und ebenso leeren Menschen. Die Protagonisten geben zwar Einblicke in ihr zerstörtes Innenleben – aber sie tun es auf so unverbindliche, uninteressante Weise, dass ich dem Autor das Drama hinter den Ereignissen nicht abkaufe.

Netter Versuch: 2 Sterne

Ein Lesefluss, in dem man ertrinkt
Die zurückhaltende Elisa ist Maklerin, und sie mag leere Wohnungen, schätzt Räume, Böden und Fenster mehr als Menschen. Zu sich selbst hat sie ein beinahe schizophrenes Verhältnis, sie findet sich hässlich und fühlt sich wie tot, eine Totgeburt ist sie in ihren Augen. Und doch träumt sie vom erfüllten Klischeeleben, von einem Mann, zu dem sie nach Hause kommen kann, von Kindern. Sie hat keine Stabilität, zieht immer wieder um, nirgends hält es sie: “Ich werde umziehen, gleich morgen, die Post stellen sie mir inzwischen mit einer solchen Selbstverständlichkeit zu, zum Kotzen”. Ein Therapeut kann ihr nicht helfen, er scheint es auch nicht zu versuchen, sie erzählt ihm, was er hören will, treibt ihre Späße mit ihm. Verschiedene Männer ziehen durch ihren Alltag, aber einen Widerhaken, um dranzubleiben und sich zu verlieben, bieten sie Elisa nicht. Anders könnte das vielleicht mit Georg sein, der in einem besonderen Fall ermittelt: Die Wohnungen der Maklerfirma werden eine nach der anderen von einem unbekannten Täter in Brand gesteckt …

Stillborn ist ein Ausnahmebuch, ein Strom, der den Leser von den Füßen reißt. Das liegt an der Flut von Worten, die über einem zusammenschlagen. Denn Michael Stavaric schreibt in einem unfassbar wortreichen Stil, er reiht Wörter und Sprachfetzen so aneinander, dass sich ein atemloser Sog ergibt, dass eine Wucht entsteht, der man kaum standhalten kann. Die Kommataste auf seiner Tastatur ist vermutlich völlig abgenutzt. Diese Schreibweise lässt den Roman hektisch werden, ruhelos und anstrengend. Klare Strukturen gibt es nicht, die Satzstellung ist stellenweise so verdreht, wie das Deutsche es zulässt. “Am Abend, wir treffen uns spontan, er, sie, ich, atmen, atmen gemeinsam, er atmet wie ein Mensch eben atmet, ein, aus, ein, aus, ich atme anders, es fühlt sich kalt an, kalt, tot” heißt es dann oder: “Herr Doktor, man lebt, lebt, arbeitet, atmet, macht seinen Job, gewinnt, verliert, lernt, lernt sich, ihn, sie kennen, verstehen, schätzen, kann gut mit Eltern, Tieren, aber man ist tot, tot innen drin, das ist viel schlimmer, das sieht keiner.”

Es ist schwierig, sich nicht in diesen Beschreibungen zu verirren, die Augen haben Probleme, diesen Wortaneinanderreihungen zu folgen und den Faden, der alles verbindet, zu erkennen. Ich bin jemand, der praktisch nichts anderes tut als lesen, und doch habe ich Mühe mit diesem Roman, immer wieder wirft es mich aus dem Lesen hinaus, ich muss zurückblättern, um vorwärts zu kommen. Die Protagonistin bleibt mir trotz der Einblicke, die sie zulässt, fremd, sie ist neurotisch und hat derart wenig inneres Gleichgewicht, dass sie kaum lebensfähig scheint. Dennoch muss man dem Autor zugestehen, dass er etwas gewagt hat, dass er versucht hat, das Leben so zu fassen, wie es manchmal ist: überbordend, belastend, eine unendliche Sammlung aus widerspenstigen Reizen. Dieses Buch zu lesen, ist, wie einen Fünf-Liter-Eimer Flüssigkeit mit einem Strohhalm auszutrinken, nur einzelne Wörter passen durch und oft verschluckt man sich. Stillborn hat mich fasziniert, aber begeistert hat es mich nicht.

Stillborn ist erschienen im dtv (ISBN 978-3-423-13915-1, 8,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Das Wunderland der Fantasie
“Wenn ein Heiliger stirbt, riecht es im Umkreis von acht Kilometern nach Blumen.” So klingt Menschen aus Papier: fantasievoll, verrückt, außergewöhnlich.  Dies ist ein Buch, das völlig außer Konkurrenz steht, das heraussticht aus der 08/15-Masse der Veröffentlichungen. Seinen Inhalt wiederzugeben, ist beinahe unmöglich, zu überladen ist es an Personen, zu ausufernd in der Handlung. Da sind Federico de la Fe, der seine Traurigkeit bekämpft, indem er sich selbst Brandwunden zufügt, und seine Tochter Little Merced, die Limonen lutscht wie Bonbons. Dann gibt es Merced de la Papel, eine Frau aus Papier, “Beine aus Pappe, ein Blinddarm aus Zellophan und papierne Brüste”. Eine Rolle spielen auch Froggy, Sandra und die anderen Mitglieder der EMF, die vereint sind in einem ganz besonderen Krieg: Sie wehren sich gegen den übermächtigen Saturn, der sie stets beobachtet, sie wollen frei sein, sie führen Krieg “gegen eine Geschichte, gegen die Geschichte, wie Saturn sie schreibt”.

Menschen aus Papier ist ein wildes Buch, das in kein Genre und keine Schublade passt – dafür sorgt wörtlich gesehen schon das ungewohnt große Format. Salvador Plascencia lässt einen bunten Reigen an Figuren auftreten, die alle für sich erzählen, und doch gibt es Überschneidungspunkte, die Erzählstränge überlappen sich, die Ereignisse sind miteinander verwoben. Der ständige Perspektivenwechsel wirft ein facettenreiches Licht auf die Protagonisten und die Handlung. Eine Hauptperson gibt es nicht, es scheint, als könne jeder sich an der Entwicklung der Geschichte beteiligen, als sei ihr Ausgang stets offen. Auch optisch ist dieser Roman eine originelle Abwechslung zu “normalen” Büchern: In Spalten gesetzt, mit leeren Stellen oder grauen Markierungen durchzogen, gleicht der Text dem abstrusen Inhalt und fordert den Leser heraus.

Der Fokus auf der mexikanischen Lebenswelt und der schweren Traurigkeit, die die Menschen verfolgt, macht den Vergleich zu Gabriel García Márquez verständlich, auch wenn sich Salvador Plascencia einer komplett anderen Art bedient, einen Roman zu schreiben: Er stellt sich selbst hinein in dieses Buch – wie, das soll nicht verraten werden – und lässt eine Beziehung zwischen Autor und Buchfiguren entstehen, die schon Jostein Gaarder zu großem Erfolg geführt hat. Menschen aus Papier ist ein Berg von einem Buch, den man erst einmal erklimmen muss, Wegweiser gibt es keine, eine erklärende Karte auch nicht. Menschen haben Heiligenscheine in diesem Roman, sie betäuben sich selbst, indem sie Bienen auf ihren Armen ausdrücken, sie verstecken sich hinter Blei, sie tun nichts, was auch nur irgendwie einer nachvollziehbaren Realität entstammen könnte. Salvador Plascencia hat ein berauschendes, faszinierendes Buch geschrieben, auf das man sich bewusst einlassen muss. Der einzige Schwachpunkt in meinen Augen ist, dass die Flut an Charakteren letztlich nirgendwohin führt, dass das Buch in seiner eigenen Fantasiewelt verloren geht. Aber das ist zu verkraften und vermutlich so gewollt. Was bleibt also übrig am Ende dieses unvergleichlichen Erlebnisses? Der Kleber, der Buchseiten wie Menschen aus Papier zusammenhält, das, was immer hinter allem steht. Natürlich. Die Liebe.

Menschen aus Papier ist erschienen bei Edition Nautilus (ISBN 978-3894015879, 19,90 Euro).

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Ungewöhnlich und verwirrend
Ins neue Jahr hinein feiert Janus seinen Geburtstag im verschneiten Berlin. Viele Freunde sind gekommen, auch Jackie, in die Janus verliebt ist, die sich ihm jedoch immer wieder entzieht. Und einer fehlt: Janus’ Bruder Bobby. Er ist verschwunden, untergetaucht, in der Welt unterwegs. Regelmäßig meldet er sich über seinen Blog “Finale Hysterie” und berichtet aus Las Vegas und anderen schillernden Orten, die er besucht. Der Grund seines Weggangs ist unklar, sein Verleger wütend. Dann geht auch Janus auf Reisen, jeden Monat meldet er sich aus einem anderen Land, England, Frankreich, Nepal, Amerika. Und als Bobby ihn braucht, fliegt Janus schließlich zu ihm.

Unter diesem Einfluss ist ein höchst merkwürdiges Buch über ein mittelaltes Brüderpaar, das sich gern abheben möchte von den Durchschnittsmenschen, das philosophieren will und das Leben deuten. Beide sind von der Welt angeödet und denken – jeder auf seine Weise – viel nach, was sich in kryptischen Sätzen und scheinbar weisen Erkenntnissen niederschlägt. “Ein neuer Tag, guten Morgen, wie schrecklich”, heißt es dann, und: “Menschliche Gehirne sind seltsam” oder: “Wie kann es dazu kommen, dass Menschen bereit sind, ihr Leben gegen ihr eigenes Land zu richten? So vertieft in ihre Ideologie, dass es keinen Ausweg mehr gibt, bis gestorben werden muss. Was sind die Gründe? Zerrüttete Familienverhältnisse, mangelnde Vaterliebe, Überliebe der Mutter? Werde, was du bist.”

In einer wilden, unstrukturierten Reihenfolge stellt Henning Kober Sätze aneinander, die nichts miteinander zu tun haben, Textkohärenz gibt es kaum. Das erschwert es ungemein, der Geschichte zu folgen – wobei eigentlich gar keine nacherzählbare Geschichte zu erkennen ist. Vielmehr ist dieser Roman eine lange Perlenschnur aus schillernden Metaphern wie “Seine Augen sind große, blühende Planeten” und völlig abgeschliffenen Gedankengängen, die nichts mehr hergeben. Aufgepeppt wird das Ganze mit viel Alkohol und einer ordentlichen Prise Drogen. Ein Sinn dahinter oder gar ein roter Faden ist nicht greifbar, der Stil erinnert fast an ein sehr exaltiertes Tagebuch eines von sich übermäßig eingenommenen Schreibers. Die Dialoge sind überraschend öde, und als die Perspektive zwischen den zwei Brüdern gegen Ende hin immer schneller, teilweise mitten im Abschnitt, wechselt, nimmt auch die Verwirrung zu. Dies ist eindeutig ein Buch, bei dem man sich als Leser unweigerlich fragt, ob man vielleicht zu beschränkt ist, um dem Autor in die beschriebenen melancholischen Gefilde zu folgen. Mir ist es jedenfalls nicht gelungen.

Unter diesem Einfluss ist erschienen im S. Fischer Verlag (ISBN 978-3100402189, 18,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Interessante Einblicke in grausige Taten
Von einem Arzt erzählt Ferdinand von Schirach, der seine Gattin mit einer Axt im Keller zerhackt. Von einer jungen Frau, die ihren Bruder in der Badewanne ertränkt. Und von neun anderen Menschen, die aus Eifersucht, aus Rache, aus Neid ein Verbrechen, einen Mord begangen haben. Kurz und klar sind die Geschichten, kein Wort ist zu viel, aber auch keines zu wenig. In einer sehr reduzierten Prosa berichtet der Berliner Anwalt und Strafverteidiger von elf Fällen aus seiner beruflichen Erfahrung. Und bastelt daraus ein kleines Büchlein, das man schnell gelesen hat, aber lange nicht vergisst.

In einer gelungenen Mischung aus Fakten und Fantasie lässt Ferdinand von Schirach die Ereignisse lebendig werden, die zu einem Mord oder einem Überfall geführt haben. Und obwohl er Dinge, Menschen, Gefühle und Umstände beschreibt, von denen er nichts wissen kann, glaubt man ihm als Leser, dass es sich genau so zugetragen hat. Die Fälle, so heißt es, sind wahr. Und Schirachs Buch hat eine regelrechte Begeisterungswelle ausgelöst: Er befriedigt damit auf literarische Weise die stets vorhandene Sensationsgeilheit der Menschen. Verbrechen vermittelt einen Einblick in das Innenleben von Straftätern und man darf sich als Leser ohne Scham wie ein Voyeur fühlen. Wer etwas getan hat, steht weniger im Vordergrund als das Motiv: Warum ist dieser Mord geschehen, was hat dazu geführt? Trotz urteilsfreier Teilnahmslosigkeit scheint der Strafverteidiger in jede Geschichte eine Prise Verständnis einzustreuen: Hier hat jemand etwas verbrochen, aber eigentlich hatte er doch keine andere Wahl …

Verbrechen zu lesen, ist ein bisschen wie eine dieser Fernsehsendungen à la “Autopsie” anzuschauen – nur viel niveauvoller. Nicht jeder Täter ist einfach nur böse und muss bestraft werden. Vielmehr arbeitet Ferdinand von Schirach in einem klugen Balanceakt heraus, was wir alle längst wissen: dass es nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch noch sehr viel Grau gibt im Leben. Er hat eine Ahnung von dem, was er beschreibt, er bringt die blutigen Details zu Papier, lässt Menschen den Verstand verlieren und Gewalt hervorbrechen wie ein Sommergewitter. Es wundert mich nicht, dass dieses Buch so viele positive Reaktionen bekommen hat: Es ist gut geschrieben, es ist interessant und man gruselt sich so schön.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Hintergründe und Auswirkungen einer Tragödie
Nick lebt mit seiner schönen Frau und zwei kleinen Söhnen in einer Kleinstadt. Sein Leben ist nicht unglücklich, aber auch nicht erfüllt. Aus dem Trott reißt ihn der Tod seines Freundes Rob: Er hat zuerst seine Freundin Kate erschossen und dann die Waffe gegen sich selbst gerichtet. Er ist von dem Sockel gestürzt, auf den ihn, den erfolgreichen Schriftsteller, die Bewohner der Kleinstadt gestellt haben. Entsetzen und Ungläubigkeit machen sich breit, während ein Medienrummel um den Skandal beginnt. “Wir benahmen uns kollektiv wie eine Hure, die über das Leben, das sie führt, wütend ist, sich aber trotzdem schminkt und wartet und zur Verfügung steht.” Abseits der Öffentlichkeit muss Nick mit dem, was geschehen ist, fertig werden – aber er schafft es nicht. Schon in ihrer gemeinsamen Kindheit warf der exzentrische Rob seinen Schatten auf den schüchternen Nick, und als sie erwachsen waren, blieb Nick die Motte und Rob das Licht. Nicks Ehe geht es so wie vielen anderen: Er und Lucy kommunizieren kaum, sie leben aneinander vorbei und reiben sich dabei auf. Während Nick nach der Wahrheit und seiner eigenen Identität sucht, funkt ihm auch noch Robs reizvolle Schwester Bonnie dazwischen …

Was niemand sah ist ein überraschend fesselnder Roman über die Hintergründe eines Eifersuchtsdramas. Mit Nick hat Eli Gottlieb einen Durchschnittstypen erschaffen, der in seinem eigenen Leben nicht glänzen kann, der im trüben Teich einer Kleinstadt vor sich hin dümpelt und dem der Tod eines Freundes vor Augen führt, wie leer seine Tage sind. Dabei kann der amerikanische Autor mit einem geschmeidigen Erzählstil und originellen Formulierungen wie “Lucy wartete zu Hause auf mich, als ich von der Arbeit kam, und sie sah aus wie eine Stadt bei Stromausfall” punkten. Er hat Talent, er ist ein Geschichtenerzähler, der es versteht, aus einem so wenig verlockenden Stoff wie diesem – ein Leben in einer 08/15-Kleinstadt, ein Gescheiterter, der seine Freundin und sich selbst erschießt – einen so verwickelten Plot zu entwerfen, dass man tatsächlich bis zum Schluss interessiert am Ball bleibt.

Zwar wartet Was niemand sah mit einigen klischeehaften Wendungen auf, die an sich gut durchdachte Struktur und die geschliffene Sprache machen das jedoch wieder wett. Man kann sich identifizieren mit diesem Protagonisten, der im Dunkeln steht, als der helle Stern seines egozentrischen Freundes erloschen ist. Was ihm noch bleibt, das muss er sich mühsam zusammenklauben, seine Frau und seine Eltern sind ihm dabei nicht gerade eine Hilfe. Klar ist, dass er dem Leser zu Beginn viel verschweigt und die Wahrheit erst am Ende aufdeckt. Wie es sich gehört für ein gutes Buch.

Was niemand sah ist im Droemer Verlag erschienen (ISBN 978-3426198896, 19,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ein unsentimentaler Blick auf das Leben in der DDR
Für W. liegen die Zeiten in der DDR lange zurück. Und das findet er auch gut so. Umso überraschter ist er, als ihm eine merkwürdige Einladung ins Haus flattert: Er soll an einem Symposium teilnehmen und über seine Erfahrungen als unbekannter unterdrückter Untergrunddichter sprechen. W. hält sich selbst gar nicht für einen Dichter, und dass er unterdrückt worden sein soll, ist ihm neu. Er verlangt Akteneinsicht – denn: “Wozu braucht man ein Gedächtnis, wenn man eine Akte hat?” – und vor ihm entfaltet sich sein eigenes Leben aus der Sicht der Stasi: Jahrelang wurde W. beschattet, für republikfeindlich erachtet und als gefährlich eingestuft. Und alles nur wegen einiger unfassbar schlechter Teenager-Liebesgedichte an Brieffreundin Liane in München. W. ist schockiert und muss erkennen, dass er offenbar ein ganz anderes Leben geführt hat als bisher gedacht – ein wesentlich interessanteres nämlich.

Ich schlage vor, dass wir uns küssen ist ein ebenso amüsanter wie intelligenter Roman über die DDR und ihre paranoiden Auswüchse. Mit so grottigen Reimen wie “Baby, wenn du sterbst, Baby, dann ist Herbst” ergattert W. als Jugendlicher einen Platz in der Verdächtigenliste von Oberleutnant Schnatz. Über Jahre liest er W.s poetische Ergüsse und kommentiert sie akribisch. Schreibt W. über den Frieden, meint Schnatz “fatalistische Anschauungen” zu erkennen, geht es um die Jahreszeiten, ist darin für die Stasi eine “negative Grundhaltung zu Teilbereichen der sozialistischen Gesellschaft” verborgen. Dabei liegt in W.s Gedichten nichts anderes als pubertäre Verliebtheit und Sehnsucht nach Liane: “An muß ich dich flehen, nicht von mir zu gehen” heißt es da oder: “Und nicht nur küssen, meine Liebe, ich denke auch an andre Triebe”. Das ist in erster Linie peinlich. Und sehr unterhaltsam.

Als Österreicherin jüngeren Jahrgangs sind meine Überschneidungspunkte mit der DDR gleich null. Umso kurioser und faszinierender ist für mich das Leben, das die Menschen einst unter diesem Regime geführt haben. Während Leser mit persönlichem Bezug sich von diesem Roman vielleicht brüskiert fühlen, genieße ich diesen unpathetischen und sehr zynischen Einblick in eine fremde Welt. Frei von Kitsch oder Ostalgie und abseits von grausamen Schicksalen, die sich im Osten Deutschlands ohne Zweifel abgespielt haben, beschreibt Rayk Wieland die DDR als Farce, als Institution, die sich selbst ad absurdum führte, die sich verrannte in Bürokratie und Kontrollwahn. Schon allein die Idee, einen unbekannten unterdrückten Dichter zu schaffen, der fassungslos ist, als er von seiner wahren Bedeutung für die Republik erfährt, finde ich genial. Die abgedruckten Gedichte verleiten zum Fremdschämen – und zeigen auf sarkastische Art, was man in jedes Wort hineininterpretieren kann, wenn man nur will. Rayk Wieland gießt einen Eimer Spott über die DDR – und wirft damit ein erleichternd heiteres Licht auf die Zeit der Mauer. Ganz nach dem Motto: Komik ist Tragik in Spiegelschrift. Wunderbar!

Ich schlage vor, dass wir uns küssen ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN 978-88897-553-0, 17,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein bunter Reigen an skurrilen Geschichten
Rita Palka ist Schriftstellerin. In der Provinz soll sie ihre Erzählung “Zwei schwarze Jäger” vorlesen – doch interessierte Zuhörer gibt es keine, und so erfindet Rita spontan eine Geschichte. Damit beginnt ein wahrer Zyklus an kurzen Episoden, jedes Kapitel steht für sich. Das “Personal der Schriftstellerin Rita Palka” tritt auf, einer nach dem anderen erscheint auf der Bildfläche: Eine Dame im Rollstuhl, die eine düstere Erotik ins Spiel bringt, ein Lektor, der für einen Kellner entflammt, und eine junge Frau, die durch herbe Enttäuschungen Mordgelüste entwickelt, sind nur drei der vielen Figuren, die an den schriftstellerischen Fäden von Brigitte Kronauer tanzen. Was sie alle verbindet, ist die spürbare Leere in ihrem Leben, die sie mit Glück hätten füllen sollen – doch darin, ihre Ziele zu erreichen, sind sie aus unterschiedlichen Gründen gescheitert.

Zwei schwarze Jäger ist ein Episodenroman, ein locker gestricktes Konstrukt aus kurzen Geschichten, die sich im dritten Teil des Buchs langsam annähern und Zusammenhänge erkennen lassen. Wie durch ein Kaleidoskop wirft Brigitte Kronauer das Scheinwerferlicht auf die einzelnen Charaktere, die aus verschiedenen Gesellschaftsschichten stammen, jung sind oder alt, männlich oder weiblich. Diese Autorin hat eine scharfe Beobachtungsgabe, und sie bildet mit einer pointierten Sprache ab, was die Wirklichkeit zeigt: dass das Leben ein hartes ist, dass man sich schneiden kann an seinen Kanten. Dies ist eine Satire, ein Abdruck der Gesellschaft, ein Einblick in das Wohnzimmer des alltäglichen Leids. Ob in der Provinz oder in der Großstadt: Unglücklich sind die Menschen überall. Mit einer schmunzelnden Boshaftigkeit wirft Brigitte Kronauer ihre Figuren eine nach der anderen gegen die Wand. Dass dabei eine von ihnen zum Mörder wird, wirkt schon beinahe selbstverständlich.

Brigitte Kronauer spielt mit der Sprache wie eine Geigenvirtuosin, sie begutachtet Ausdrucksformen von allen Seiten, dreht und wendet sie, schüttelt die Sprache, damit sie hergibt, was sie geben kann. Hier schreibt eine Autorin um des Schreibens willen. Lange Sätze, elegante Formulierungen und verblüffende Metaphern dominieren ihren Stil. “Roch es hier womöglich nach zerquetschten Maikäferchen?” heißt es beispielsweise oder “Meine Taten stehen wie unabhängige Wesen, wie gepackte Koffer neben mir, die ich bloß noch zu einer bestimmten Adresse tragen muss.” Dieses Buch zu lesen, ist, wie einem Künstler beim Jonglieren zuzusehen. Wie schafft er das nur, fragt man sich, und wird es nie nachmachen können. Zwei schwarze Jäger ist ein verwirrender Roman, dem man manchmal mehr mit dem Gespür folgen muss als mit dem Verstand, und der die Geduld des Lesers das eine oder andere Mal arg strapaziert. Man sollte also genügend davon mitbringen.

Zwei schwarze Jäger ist erschienen im Klett-Cotta Verlag (ISBN 978-3-608-93885-2, 21,90 Euro).