“… dass manchmal die Worte eines anderen genügen, damit man etwas ins Herz schließt”
Großvater Leonardo ist für Nicola ein Held, ein Krieger, ein Großer. Bei ihm und der Großmutter hat er viel Zeit verbracht, und jetzt, da er erwachsen ist und studiert, schmerzt es ihn, das Alter und das Asthma am Großvater nagen zu sehen. Leonardo stammt aus Barletta in Apulien, er ging zum Arbeiten mit seiner Familie nach Mailand – und kehrte nie zurück. Bewahrt hat er seine Heimat im Herzen, stets blieb seine Sprache der Dialekt, denn “Italienisch war für ihn eine Sprache, die morgens zusammen mit den Enkeln ins Haus kam und es abends mit ihnen verließ”. Nun ist nur noch ein letztes Bindeglied mit der Vergangenheit übrig: eine Wohnung am Meer, alt, verlassen, renovierungsbedürftig. Seit Jahrzehnten wird in der Familie Russo über diese Wohnung gestritten: “Es waren nicht die Gleichgültigkeit, die Nachlässigkeit, die harte Schale des Egoismus der Einzelnen, die eine gute Lösung verzögert hatten. Alle vier Geschwister dachten, das Wort des anderen sei Lüge, Opportunismus. Das hatte Spuren hinterlassen, hatte gegärt und schließlich zu Verbitterung geführt.” Und so spricht der Großvater endlich ein Machtwort: Die Wohnung wird verkauft. Drei Männer – Leonardo, sein Sohn Riccardo und dessen Sohn Nicola – brechen auf, um diese Mission zu erfüllen, um jeder für sich ein Kapitel ihres Lebens abzuschließen, und um sich unbeabsichtigt dabei ganz neu zu begegnen.
Dem italienischen Autor Marco Balzano, geboren in Mailand, ist mit Damals, am Meer, ein gefühlvolles, ausdrucksstarkes Stück Literatur gelungen, frei von Pathos und doch unter die Haut gehend. Er schreibt über das Gefühl der Heimatlosigkeit, das Verlorensein im eigenen Leben und in der eigenen Familie. Ich-Erzähler Nicola hat keinen Halt, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs als Lehrer durch und wird dafür von seinem Vater verachtet, keiner sieht ihn als wahren Mann und doch ist er schon müde wie einer. Als er erfährt, dass Vater und Großvater ans Meer aufbrechen, drängt er sich gegen den Willen Riccardos auf: “Ich entschied mich für die Reise, um ihn zu ärgern.” Doch er rechnet nicht damit, dass das gemeinsame Abschiednehmen ihn dem abweisenden Vater näher bringen wird. Am schlimmsten sind der desolate Zustand der Wohnung und ihr Verkauf für Leonardo, der sich mit dem Fortgang der Zeit und ihren Veränderungen abfinden muss. Barletta war seine natürliche Umgebung, in der er sich bewegte wie ein Fisch im Wasser, doch in seiner Abwesenheit hat das Dorf weitergemacht, sich gewandelt, hat ihn vergessen. Der Verfall der Wohnung am Meer ist ein Symbol für den Verfall der Familie – jener der Russos im Speziellen sowie der italienischen Familie im Allgemeinen. Die Kinder können wegen der schlechten Arbeitsbedingungen nicht aus dem Haus, die Eltern schuften und häufen dabei nur Frust an, die Großeltern verstehen den Wandel der Zeit nicht und bleiben auf der Strecke.
Es ist herrlich, wie pointiert und klug Marco Balzano drei Generationen anhand dreier Männer porträtiert. Sie dürfen wunderbar italienisch sein, sie schreien sich an, sie streiten – auch in der Öffentlichkeit – und fluchen, sie sind temperamentvoll und hitzig, aber gleichzeitig zurückhaltend, wenn es darum geht, Gefühle zu zeigen. Da werden dann Schultern geklopft und es wird ratlos geschwiegen. Das ist scharfsinnig, authentisch und sehr unterhaltsam. Ich fühle mich aufgehoben in diesen Schilderungen, ich sehe Großvater, Vater und Sohn vor mir wie in einem dieser klassischen italienischen Filme, die geprägt sind von unendlicher Melancholie und klangvollen Flüchen, die die Madonna inkludieren. Unten am Meer sind die Männer einigermaßen hilflos, und “dass keine Frau dabei war, die uns half, ruhig zu bleiben und nicht alles zu verpfuschen, empfanden wir bestimmt alle drei als Mangel”. Damals, am Meer ist eine intelligente, eindrucksvolle Erzählung über Verlust und die monotone Gleichgültigkeit, die der Alltag erzwingt, über Erinnerungen und ihren fraglichen Wahrheitsgehalt. Es ist ein Buch über das nostalgische Festhalten an der Kindheit, ein Buch über das Meer – grandios, mit Bedacht und Talent geschrieben. Bei Marco Balzano haben die Worte eines anderen genügt, damit ich Damals, am Meer ins Herz geschlossen habe.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt…
… fürs Auge: ja! So, wie dieses Cover aussieht, ist dieses Buch: originell, ein wenig anders, voller Resignation und Hoffnung zugleich.
… fürs Hirn: das Bewusstsein, wie Entwurzelung sich über Generationen vererbt und wie Dialekt, Konventionen und Erinnerungen für immer verschwinden.
… fürs Herz: die Liebe, die diese drei Männer so offensichtlich füreinander empfinden und stets hinter Verächtlichkeit verstecken.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat zur Szene, in der Nicola alte Bocciakugeln findet, mit denen er früher am Meer gespielt hat: “Es handelte sich um Sand von vor zwanzig Jahren, er war noch nicht zerfallen und verschwunden. Das wären die richtigen Körnchen gewesen, die Atome, damit hätte ich die Sanduhr meiner Zeit füllen können. Mit der festgebackenen Erde meiner Kindheit.”
Damals, am Meer ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN 978-3888977268, 17,90 Euro).