Bücherwurmloch

Zitat der Woche
Ich glaube, es war Liebe. Ist man ihr einmal begegnet, dann will man nicht mehr sinken. Dann sehnt man sich für immer nach dem Licht und der Oberfläche.

Aus: Der Plan von der Abschaffung des Dunkels von Peter Hoeg

Für Gourmets: 5 Sterne

“… dass manchmal die Worte eines anderen genügen, damit man etwas ins Herz schließt”
Großvater Leonardo ist für Nicola ein Held, ein Krieger, ein Großer. Bei ihm und der Großmutter hat er viel Zeit verbracht, und jetzt, da er erwachsen ist und studiert, schmerzt es ihn, das Alter und das Asthma am Großvater nagen zu sehen. Leonardo stammt aus Barletta in Apulien, er ging zum Arbeiten mit seiner Familie nach Mailand – und kehrte nie zurück. Bewahrt hat er seine Heimat im Herzen, stets blieb seine Sprache der Dialekt, denn “Italienisch war für ihn eine Sprache, die morgens zusammen mit den Enkeln ins Haus kam und es abends mit ihnen verließ”. Nun ist nur noch ein letztes Bindeglied mit der Vergangenheit übrig: eine Wohnung am Meer, alt, verlassen, renovierungsbedürftig. Seit Jahrzehnten wird in der Familie Russo über diese Wohnung gestritten: “Es waren nicht die Gleichgültigkeit, die Nachlässigkeit, die harte Schale des Egoismus der Einzelnen, die eine gute Lösung verzögert hatten. Alle vier Geschwister dachten, das Wort des anderen sei Lüge, Opportunismus. Das hatte Spuren hinterlassen, hatte gegärt und schließlich zu Verbitterung geführt.” Und so spricht der Großvater endlich ein Machtwort: Die Wohnung wird verkauft. Drei Männer – Leonardo, sein Sohn Riccardo und dessen Sohn Nicola – brechen auf, um diese Mission zu erfüllen, um jeder für sich ein Kapitel ihres Lebens abzuschließen, und um sich unbeabsichtigt dabei ganz neu zu begegnen.

Dem italienischen Autor Marco Balzano, geboren in Mailand, ist mit Damals, am Meer, ein gefühlvolles, ausdrucksstarkes Stück Literatur gelungen, frei von Pathos und doch unter die Haut gehend. Er schreibt über das Gefühl der Heimatlosigkeit, das Verlorensein im eigenen Leben und in der eigenen Familie. Ich-Erzähler Nicola hat keinen Halt, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs als Lehrer durch und wird dafür von seinem Vater verachtet, keiner sieht ihn als wahren Mann und doch ist er schon müde wie einer. Als er erfährt, dass Vater und Großvater ans Meer aufbrechen, drängt er sich gegen den Willen Riccardos auf: “Ich entschied mich für die Reise, um ihn zu ärgern.” Doch er rechnet nicht damit, dass das gemeinsame Abschiednehmen ihn dem abweisenden Vater näher bringen wird. Am schlimmsten sind der desolate Zustand der Wohnung und ihr Verkauf für Leonardo, der sich mit dem Fortgang der Zeit und ihren Veränderungen abfinden muss. Barletta war seine natürliche Umgebung, in der er sich bewegte wie ein Fisch im Wasser, doch in seiner Abwesenheit hat das Dorf weitergemacht, sich gewandelt, hat ihn vergessen. Der Verfall der Wohnung am Meer ist ein Symbol für den Verfall der Familie – jener der Russos im Speziellen sowie der italienischen Familie im Allgemeinen. Die Kinder können wegen der schlechten Arbeitsbedingungen nicht aus dem Haus, die Eltern schuften und häufen dabei nur Frust an, die Großeltern verstehen den Wandel der Zeit nicht und bleiben auf der Strecke.

Es ist herrlich, wie pointiert und klug Marco Balzano drei Generationen anhand dreier Männer porträtiert. Sie dürfen wunderbar italienisch sein, sie schreien sich an, sie streiten – auch in der Öffentlichkeit – und fluchen, sie sind temperamentvoll und hitzig, aber gleichzeitig zurückhaltend, wenn es darum geht, Gefühle zu zeigen. Da werden dann Schultern geklopft und es wird ratlos geschwiegen. Das ist scharfsinnig, authentisch und sehr unterhaltsam. Ich fühle mich aufgehoben in diesen Schilderungen, ich sehe Großvater, Vater und Sohn vor mir wie in einem dieser klassischen italienischen Filme, die geprägt sind von unendlicher Melancholie und klangvollen Flüchen, die die Madonna inkludieren. Unten am Meer sind die Männer einigermaßen hilflos, und “dass keine Frau dabei war, die uns half, ruhig zu bleiben und nicht alles zu verpfuschen, empfanden wir bestimmt alle drei als Mangel”. Damals, am Meer ist eine intelligente, eindrucksvolle Erzählung über Verlust und die monotone Gleichgültigkeit, die der Alltag erzwingt, über Erinnerungen und ihren fraglichen Wahrheitsgehalt. Es ist ein Buch über das nostalgische Festhalten an der Kindheit, ein Buch über das Meer – grandios, mit Bedacht und Talent geschrieben. Bei Marco Balzano haben die Worte eines anderen genügt, damit ich Damals, am Meer ins Herz geschlossen habe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt…
… fürs Auge: ja! So, wie dieses Cover aussieht, ist dieses Buch: originell, ein wenig anders, voller Resignation und Hoffnung zugleich.
… fürs Hirn: das Bewusstsein, wie Entwurzelung sich über Generationen vererbt und wie Dialekt, Konventionen und Erinnerungen für immer verschwinden.
… fürs Herz: die Liebe, die diese drei Männer so offensichtlich füreinander empfinden und stets hinter Verächtlichkeit verstecken.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat zur Szene, in der Nicola alte Bocciakugeln findet, mit denen er früher am Meer gespielt hat: “Es handelte sich um Sand von vor zwanzig Jahren, er war noch nicht zerfallen und verschwunden. Das wären die richtigen Körnchen gewesen, die Atome, damit hätte ich die Sanduhr meiner Zeit füllen können. Mit der festgebackenen Erde meiner Kindheit.”

Damals, am Meer ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN 978-3888977268, 17,90 Euro).

Geschmacklos: 0 Sterne

Billiger Ramsch aus dem arabischen Trödelladen
Seit 992 Nächten bekommt die 82-jährige Fatima Abdul Aziz Abdullah Besuch von der unsterblichen Scheherazade. Im Libanon geboren, lebt Fatima in Amerika, seit sie 17 ist. Nacht für Nacht erzählt sie Scheherazade eine Geschichte – meist von ihrem Elternhaus in Deir Zeitoun. Welchem ihrer zehn Kinder oder ihrer vielen Enkelkinder sie dieses Haus vererben soll, weiß Fatima auch nach 992 Nächten noch nicht. Dabei läuft ihr die Zeit davon, denn nach der 1001. Nacht – davon ist Fatima überzeugt – wird ihr Leben zu Ende sein. Und sie muss noch so viel erledigen: ihren Enkel Amir, bei dem sie seit ihrer Scheidung von Ibrahim vor Kurzem wohnt, muss sie verheiraten und von der absurden Vorstellung heilen, er sei homosexuell. Dieser versucht seinerseits sein Glück als Schauspieler, wird aber nur für Terroristenrollen gecastet – weshalb ihn sein Aussehen ins Visier des FBIs rückt. Scheherazade besucht nach jeder von Fatimas öden Geschichten eines ihrer Kinder und besieht sich deren Leben.

The Night Counter – zu Deutsch unter dem Titel Feigen in Detroit veröffentlicht – ist ein leider völlig missratener Roman, bis zum Platzen angefüllt mit Klischees über Menschen arabischer Herkunft. Hauptfigur Fatima ist alt, egozentrisch, stur und intolerant. Die Homosexualität ihres Enkels ist ihr ein Gräuel – in ihren Augen verboten vom Koran – und als ihre siebzehnjährige Urenkelin schwanger und hilfesuchend vor der Tür steht, will sie nicht einmal mit der Sünderin reden. Sie ist dermaßen antiquiert und unsympathisch, dass ich sie während der Lektüre innerlich mehrmals eine blöde Kuh schimpfe. Dass Alia Yunis mir weismachen will, das FBI verfolge wegen eines anonymen Tipps ernsthaft einen ab und zu als Terroristen verkleideten Schauspieler, finde ich fast schon ärgerlich. Noch schlimmer aber ist ihre Darstellung von Scheherazade, die – beladen mit klimperndem Goldschmuck – am liebsten nur schlüpfrige Geschichten hören würde und tatsächlich mit einem fliegenden Teppich unterwegs ist. Das ist nicht amüsant, sondern einfach nur lächerlich. Mit diesem extrem klischeehaften Fluggerät sucht sie Fatimas Kinder – zum Glück nicht alle zehn! – auf, die sie natürlich nicht sehen können. Es folgen endlose und uninteressante Beschreibungen über den Alltag dieser verschiedenen Figuren, die ich irgendwann aus Langeweile nur noch querlese. Alia Yunis schürt mit der Erfindung der ewig gestrigen Fatima das Feuer, alle Muslime seien radikal, uneinsichtig, seien gegen Homosexualität und wilde Ehe und unwillig, sich zu integrieren. Nach fast sieben Jahrzehnten in Amerika spricht sie noch immer nicht gut Englisch. Sie hängt sich mit aller Macht an die Erinnerungen aus ihren ersten 17 Lebensjahren. Ihre Kinder halten kaum Kontakt zu ihr, und dass sie sich von Ibrahim getrennt hat, kann ich nicht nachvollziehen. Fatima ist in keiner Hinsicht etwas Besonderes – genau wie dieses Buch.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Bild der hennaverzierten Hände ist schön, Autorenname und Buchtitel gehen aber ein wenig unter.
… fürs Hirn: einfach nur ärgerlich, dieser Reigen an uralten Klischees.
… fürs Herz: ach. Nein. Da finde ich nichts.
… fürs Gedächtnis: hoffentlich so wenig wie möglich.

9

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Schauen will ich, so viel, wie in meine Augen hineinpaßt”
Als Franz zur Welt kommt, sind die Hebamme und die Verwandten nicht gerade begeistert: Schon wieder ein Mädchen! Franz kann mit diesem Urteil wenig anfangen, fühlt er sich doch weder weiblich noch männlich, sondern menschlich: “Er beschloß, zu dem zu werden, der er war, und nicht der zu sein, welchen die Welt in ihm zu sehen fest entschlossen war.” Als später der kleine Bruder Steffen geboren wird, ist die Familienehre gerettet. Mit ihm und der großen Schwester Lena schlägt Franz die Zeit tot in der Wohnhaussiedlung. Während der Vater durch den Frust des Alltags immer grauer wird, bemüht die Mutter sich nach Kräften um Sauberkeit und Ordnung: “Für die Mutter war das Leben etwas, das man erledigte. Je weniger Spuren man dabei machte, desto besser.” Gegen Spuren hat auch Franz etwas. Die Pubertät macht deutlich, dass er eigentlich eine Franziska ist. Er kommt aufs Gymnasium, er ist klug, aber an seinen körperlichen Entwicklungen hat er kein Interesse: “Unter allen Umständen war zu vermeiden, daß mit ihm das geschah, was mit anderen geschah.” Ältere hübsche Frauen findet Franz anziehend, Jungs sind ebenfalls interessant. Es kommt zu ersten Knutschereien und Partys, auf denen geschwoft wird. Immer mehr denkt Franz über die klassische Rollenverteilung in der Gesellschaft nach – und sucht nach einem Mittelweg für sich selbst.

Das Mädchen Franz ist eine sensible Erzählung über das typische Verhalten von Frauen und Männern, über Schubladendenken und Klischees. Frauen putzen und gehorchen in diesem Buch, Männer verdienen das Geld. Dazwischen gibt es nicht viel, das merkt auch Franz schnell. Es stört mich allerdings, dass Sabine Neumann letztlich keine Möglichkeit für Franziska findet, als etwas Drittes zu leben – es bleibt bei Überlegungen zu diesem Thema. Franz ist im ersten Teil des Buchs ein “er”, dann eine “sie”. Von Bisexualität oder Transsexualität ist nicht die Rede, Franz fühlt sich eigentlich nicht im falschen Körper. Was also will dieses Buch? Ein wenig nachdenken über Stereotype. Franz ist unsicher und grübelt, aber das Aufbegehren leitet sich später ab in lange Haare, John-Lennon-Musik und Anti-Atom-Sticker. Sabine Neumanns Schreibstil ist nicht übermäßig auffallend, der Lesefluss eher abgehackt, weil viele einzelne Sätze in einer eigenen Zeile stehen. Kinder dürfen echte Kinder sein in dieser Erzählung, die raufen und kleine Tiere tot treten. Beim Lesen kommt es mir oft so vor, als würde die Handlung in Österreich spielen, weil die bayerische Mentalität – Sabine Neumann stammt aus Regensburg – sehr ähnlich ist. Am besten bringt das der Satz auf den Punkt: “Alles ist nur halb so schön, wenn man nicht dabei gesehen wird.”

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
naja.
… fürs Hirn: die klugen Beobachtungen über die automatisierte Zuteilung von weiblichen und männlichen Eigenschaften in unserer Gesellschaft.
… fürs Herz: ans Herz geht diese Erzählung nur bedingt.
… fürs Gedächtnis: die derben Dialoge zwischen Franz, seinen Eltern und Großeltern.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Mit dem Herz der anderen auf der Zunge
Ein kleiner Bissen mit großer Wirkung: Kurz vor ihrem neunten Geburtstag kostet Rose ein Stück Zitronenkuchen, den ihre Mutter gebacken hat. Und fällt fast vom Stuhl wegen der geballten Sehnsucht, die sie darin schmeckt. Nicht viel besser ergeht es ihr beim Abendessen mit dem “abwärtskreiselnden, sich in Sehnsucht verzehrenden Hühnchen”. Rose gerät in Panik und weiß sich keinen Rat: “Mein Gehirn fühlte sich an wie ein volles Glas Wasser, das ich vorsichtig durch den Flur balancieren musste.” Woher kommen all diese Gefühle im Essen? Warum kann Rose sie plötzlich schmecken? Und wie soll sie diese Begabung wieder loswerden? Ihre liebevolle, aber mit der Suche nach einer erfüllenden Tätigkeit beschäftigte Mutter ist Rose keine Hilfe, ebenso wenig wie der stets abwesend wirkende Vater oder ihr großer Bruder Joseph, ein Freak, der sich sämtlichen Formen menschlichen Miteinanders verweigert. Nur George, Josephs bester und einziger Freund, glaubt Rose, der “Essenshellseherin”, in ihn ist sie schon mit neun Jahren verliebt. Sie werden sich näher kommen, viele Jahre später, doch dem Schicksalsschlag, der dazu führt, zerbricht Roses Familie beinahe endgültig.

Aimee Benders Roman Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen liegt ein originelles Konzept zugrunde: Ein Mädchen kann Stimmungen, Gefühle, Herkunftsorte im Essen erschmecken – und muss lernen, mit dieser unerwünschten Gabe zu leben. Die simple Nahrungsaufnahme wird für Rose plötzlich zur Qual, sie fühlt die Wut der Tomatenpflücker, die Traurigkeit ihrer Mutter, das Leid der geschlachteten Schweine. Sie muss sich von seelenlosem Fastfood ernähren, von maschinell hergestellten Snacks, um nicht ständig Informationen zu erhalten, um die sie nicht gebeten hat. Eine schräge, kauzige Familie hat Aimee Bender entworfen, vier Menschen, die zufällig in einem Haus leben, einander aber nach Möglichkeit ausweichen. Ein Familienleben oder Gespräche finden kaum statt. “Am besten kann ich Dad so beschreiben: Er war ein Mann, der genau wusste, was er wollte, er war intelligent, im Grunde seines Herzens aber ganz einfach und hatte ausgerechnet drei hochkomplizierte Menschen als Familienmitglieder abbekommen: eine Frau, deren Einsamkeit zum Himmel schrie, einen Sohn, dessen Blick so durchdringend war, dass man ihm eine Cornflakesschachtel vor die Nase stellen musste, damit er von einem abließ, und eine Tochter, die nach einem normalen Schulmittagessen eine Viertelstunde spazierengehen musste, um sich davon zu erholen.” Rose ist eine Ausnahmeerscheinung, sie gewinnt die Sympathie des Lesers, sie verleiht dem Buch ihre leicht verzweifelte, kindlich-resignierte Stimme, ihre Beobachtungen geben den Figuren Gestalt.

Merkwürdigerweise kommt Roses Talent im Buch nicht jene Gewichtung zu, die man erwarten würde. Vielmehr steht im Roman wie in Roses Leben ihr realitätsferner Bruder im Mittelpunkt, der vor allem durch verstörende Leblosigkeit glänzt – und ebenfalls eine geheimnisvolle Begabung zu haben scheint. Dies zu wissen, ist sicher gut, bevor man sich an die Lektüre macht, damit keine Enttäuschung aufkommen kann. Aber dass irgendetwas “normal” ist in Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen – das sollte man sich ohnehin nicht erwarten. Dafür aber einen erfrischend anderen Blick auf die menschliche Existenz, die sich bei Aimee Bender nicht an die Naturgesetze halten muss. Die Autorin aus Los Angeles hat einen zauberhaften, melancholischen Roman geschrieben über ein seltsames Mädchen und seine seltsame Familie, der weltweit unter den Kritikern für Furore sorgt. Überraschend, surreal, fantasievoll ist dieses Buch, voll ausbalancierter Formulierungen, geistreicher Einfälle, erfüllt von einer bedrückend-herzergreifenden Atmosphäre – und einer ganz besonderen Traurigkeit.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein gelungenes Cover, sehr schön finde ich den Schatten des Kuchens.
… fürs Hirn: die Überlegung, dass es in Roses – unserer? – Welt kaum Köche, also Menschen, mit guten Gefühlen gibt, frei von Wut und Traurigkeit.
… fürs Herz: der Kuss!
… fürs Gedächtnis: Mein Lieblingszitat: “George zu küssen, war ein bisschen so, wie in flüssigem Karamell zu baden, nachdem man jahrelang mit Reisnudeln überlebt hat.”

Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3827009869, 19,90 Euro).

Bücherwurmloch

Solidarität mit dem Verlag mit der Fliege
Die Literaturlandschaft erlitte einen großen Verlust, würden die Tore des Eichborn Verlags tatsächlich geschlossen. Insolvenz wurde angemeldet, das Schicksal des 1981 gegründeten Verlags mit der Fliege liegt in den Händen der Manager. Der Verlag soll saniert werden – was hoffentlich gelingt. Die Bibliophilin hat eine schöne Aktion ins Leben gerufen, mit der die Bücherblogger ihre Solidarität mit dem Eichborn Verlag demonstrieren. Das allein wird natürlich nicht ansatzweise reichen, deshalb: Bücher kaufen! Von mir gibt es dazu drei Kauftipps aus dem Eichborn Verlag – drei Bücher, die ich in der letzten Zeit von Eichborn gelesen habe. Sie sind tatsächlich ausgezeichnet und auch ohne diese Aktion empfehlenswert:

Kopf aus den Wolken von Ruth Cerha
Am Ende eines Sommers von Isabel Ashdown
Das Paradies des August Engelhardt von Marc Buhl

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Deutschlands wichtigste Tage in Comicform
Ein Hoch auf die Zeichenkünste von Isabel Kreitz: Mit Deutschland. Ein Bilderbuch gibt die preisgekrönte Comic-Künstlerin einen völlig neuen Blick frei auf altbekannte Ereignisse. Nicht nur, dass sie Menschen, Mienen, Städte aus ihrer Feder fließen lässt, nein, sie stattet die Bilder und die dazugehörigen Worte auch mit einer ganz besonderen, beißend klugen Ironie aus. 1949 beginnt diese originelle Betrachtung Deutschlands, der Supermarkt, die Heimkehr der Zehntausend, das Farbfernsehen werden ebenso thematisiert wie der Bau der Mauer, die gefälschten Hitler-Tagebücher und der Einzug der Grünen ins Parlament.

Dabei bildet Isabel Kreitz nicht einfach ab, was über diese Meilensteine in der deutschen Geschichte gedacht, gesagt und gewusst wird, sie findet vielmehr einen überraschenden Zugang, zeigt das Geschehnis aus der Sicht einer Nebenfigur, eines Kindes, eines Bundeswehrsoldaten. Das ist absolut genial und hochintelligent gemacht. Um die Pointe zu verstehen, muss man meist über ausreichend Information verfügen. Für mich als Österreicherin offenbaren sich viele interessante Details über mein Nachbarland, mit dem uns diese berühmte Hassliebe verbindet.

Auf plastische Weise – beispielsweise indem sie Kinoplakate, Zeitungsausschnitte und Briefe in ihre Comics einbaut – lässt Isabel Kreitz die letzten 60 Jahre Deutschlands aufleben. Jedem Thema ist eine Seite gewidmet – nicht zu viel und nicht zu wenig, denn die Botschaft wird in nur wenigen Bildern und Worten glasklar vermittelt. In jedem Fall gibt es immer etwas zu entdecken. Toll!

Deutschland. Ein Bilderbuch ist erschienen bei Dumont (ISBN 978-3832196219, 19,99 Euro).

Allgemein

Die besten Voraussetzungen für einen gelungen Sommer sind …
… Sonnenschein, ein Liegestuhl, ein eisgekühlter Cocktail und ein gutes Buch. Zumindest in Bücherwurmkreisen sind das die Zutaten für sommerliche Zufriedenheit. Welches Buch haltet ihr dabei heuer in den sonnencremeverschmierten Händen? Was ist euer Lesetipp für den Sommer 2011? Ich bin sehr gespannt auf eure Empfehlungen – und gehe erst mal lesen. 😉

Für mitreißend spannende Lesesonnenstunden empfehle ich Room von Emma Donoghue.

Wer ein bisschen was Heiteres vor die Sonnenbrille braucht, sollte am besten zu Die besten Wochen meines Lebens von Martin Page greifen.

Und mein Tipp für die Aussteiger unter euch, die von Kokosnüssen und Südseeinseln träumen, ist Das Paradies des August Engelhardt von Marc Buhl.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Denn wer ein Herz aus Diamant hat, dessen Tränen sind warm und mächtig wie das Sonnenlicht”
“So kletterten sie alle über die Reling, einer nach dem anderen: der Fragende, der Antwortende, der Leuchtturmwärter, das Rosenmädchen, die kleine Königin mit Frau Margarete im Arm und zum Schluss die blinde weiße Katze. Sie gingen ein Stück in die Richtung, in der sie das Festland glaubten, nur ein kleines Stück, dann blieben sie unschlüssig stehen – ein elendes Häufchen in der dunkelgrün glänzenden Unendlichkeit.” Dies ist das Märchen, das Abel erzählt, ein poetisches, kraftvolles Märchen, in das er die Realität übersetzt. In dieser Realität ist Abel ein 17-jähriger Schüler, der sich ganz allein um seine sechsjährige Schwester Micha – die kleine Königin – kümmert. Im Nacken sitzen ihm das Sozialamt, das Abitur und Michas Vater, dem Neigungen nachgesagt werden, die gefährlich sind für kleine Mädchen. Das Rosenmädchen, das ist Anna, die eines Tages durch einen Zufall Kontakt zu Abel – dem drogenverkaufenden “polnischen Kurzwarenhändler” – aufnimmt. Anna, die aus gutem Hause mit ruhig-liebevollen Eltern kommt, Anna, die noch nie verliebt war und die ihr Herz an Abel verliert. “Kein Stein schien auf dem anderen zu bleiben, seit sie Abel kannte.” Denn Abel, der fantasievolle Märchenerzähler, ist umgeben von einer dunklen Aura, von einem düsteren Geheimnis, das Anna nicht ergründen kann. Er ist erfüllt von einer tiefen Liebe zu Micha, aber seine Welt ist voller Gewalt – und als zwei Morde geschehen, weiß Anna nicht, wem sie trauen kann.

Auf Antonia Michaelis’ Roman Der Märchenerzähler hat mich die Bibliophilin mit einer begeisterten Rezension im Zuge ihrer Entdecker-Challende für Jugendbücher aufmerksam gemacht. Der Oetinger Verlag publiziert wunderbare Kinder- und Jugendbücher, und mit Der Märchenerzähler ist ein besonderer Coup gelungen. Behutsam geht die Autorin mit ihren drei Figuren um, hüllt sie ein in helles Licht – und setzt sie dann in eine grausame, bitterkalte Wirklichkeit, an der sie zersplittern. Mit einem Märchen, mit Worten stemmen sich diese Kinder – Abel, Anna und Micha – gegen den eisigen Wind, der ihnen entgegenpfeift. Als Leser hofft man inständig, alles möge gut enden, und hat zugleich die finstere Ahnung, dass das nicht möglich sein wird. Der Märchenerzähler ist kein nettes, beschauliches Jugendbuch, sondern ein fesselndes, authentisches und sehr düsteres Drama mit starker Sogwirkung. Aufmerksamkeit verlangt Abels metaphorisches Märchen mit Guten und Bösen, mit rettenden Inseln und alles verschlingenden Wellen, mit dem ersehnten Festland, das in der Realität Abels 18. Geburtstag entspricht, der ihm das Sorgerecht für Micha sichern soll. Die brave, naive Anna wird hineingezogen in Abels Außenseiterleben, in seine Abgründe, und verhält sich auch für einen extrem verliebten Teenager arg leichtsinnig, gibt sich auf. Aber Antonia Michaelis hat sehr gut erfasst, wie das Leben schon für die 17-Jährigen ist: nicht im Entferntesten so, wie man es sich vorgestellt hat. Anna kämpft um Abel, kämpft um des Rätsels Lösung, sie wird verfolgt, verletzt, im Märchen hat sie als Rosenmädchen eine helfende Funktion, in Wahrheit ist sie die eigentliche Heldin.
“Was hast du denn auf dem Herzen?”, fragte er. “Nichts”, sagte sie. Er sah sie an. Sie zuckte die schmalen Schultern. Sie war viel schmaler als er, ein Ast im Wind. “Die Welt”, sagte sie.
Ein hervorragend erdachtes, mutiges Buch, voll Vertrauen in die Fähigkeiten lesender Jugendlicher geschrieben. Well done!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
ein wunderschönes Cover, geniale Farbe!
… fürs Hirn: die Auflösung am Ende, die dann doch überrascht – geschickt führt die Autorin den Leser in die Irre.
… fürs Herz: die kleine Micha, die sich an das Märchen klammert und darin in ihrer Kindlichkeit einen Ausweg sieht.
… fürs Gedächtnis: die furchtbare Szene in der dunklen Bootshalle, die man nicht mehr vergessen kann.

Der Märchenerzähler ist erschienen im Oetinger Verlag (ISBN 978-3-7891-4289-5, 16,95 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Wir lieben genauso wie wir reisen – für kurze Zeitspannen und auf vorgegebenen Wegen”
“Virgile war nicht immer die beste Gesellschaft für sich selbst, aber das Zusammenleben zwischen dem, was er zu sein glaubte oder zu sein wünschte, und dem, was er war, verlief ohne allzu große Auseinandersetzungen.” Bis zu dem Tag, an dem Clara Virgile verlässt – per Nachricht auf dem Anrufbeantworter. An sich schon schlimm genug – aber Virgile kennt gar keine Clara. Hat er sie einfach vergessen? Ist ihm vielleicht entfallen, dass er mit ihr eine Beziehung geführt hat? Leidet er womöglich an einer tödlichen Krankheit? Vorsorglich kündigt Virgile seinen Stromanschluss und lässt sich von seinen Freunden trösten, die auf merkwürdige Weise von seinem angeblichen Liebeskummer erfahren haben und ihm über den Verlust von Clara hinweghelfen wollen. Das genießt er so sehr, dass er die Wahrheit verschweigt. Doch allmählich fragt sich Virgile, wer nun eigentlich verrückt ist: er oder Clara? Seine Psychiaterin weiß keine Antwort. Also bleibt Virgile nur eine Möglichkeit: Clara zu finden.

Virgile ist ein Neurotiker, ein Hypochonder, ein fast schon zwanghafter Mensch, der nur zum Schein am gesellschaftlichen Leben teilnimmt und innerlich vereinsamt. Seine ganze Liebe gilt der Stadt Paris: “Als Virgile mit knapp achtzehn Jahren an der Gare de Montparnasse ankam, hatte er beschlossen, dass Paris das Objekt seiner Liebe sein würde, weil man schließlich seine Liebe irgendwo lassen musste.” Sein Brot verdient Virgile in einer Werbeagentur, und seine Wohnung liegt in einem Haus voller Prostituierter. Virgile hat viele weibliche Freundinnen, in die er einst unglücklich verliebt war. Sein Leben ist geregelt, starr, festgefahren – und dann kommt Claras Nachricht, die alles infrage stellt, ihn nicht mehr loslässt, ihn aufrüttelt. Zum ersten Mal steckt Virgile den Kopf aus seinem Panzer und beschnuppert die Welt. Oder wie er selbst es ausdrückt:
“Ich habe einen Unfall gehabt.” “Aha. Was für eine Art von Unfall?” “Einen Unfall mit der Wirklichkeit.”

Die besten Wochen meines Lebens begannen damit, dass eine Frau mich verließ, die ich gar nicht kannte ist ein feinsinniger, charmant-komödiantischer Roman, der auf einer brillianten Idee basiert: Ein Mann wird von einer Frau verlassen, die er … nun ja, der Titel sagt es schon. In bester Woody-Allen-Manier kämpft der Protagonist mit seinen Spleens und Marotten. Er hat sich eingenistet in seiner Seltsamkeit und der Einsamkeit des Großstadtlebens. Da braucht es schon einen genialen Einfall, um ihn daraus zu befreien. Martin Page ist ein international bekannter französischer Autor, das vorliegende Buch sein fünfter Roman. Es erinnert in Stil und Botschaft stark an Anna Gavalda und François Lelord, ihres Zeichens ebenfalls schwer erfolgreiche französische Schriftsteller. Wie das Buch ist auch der Thiele Verlag eine Entdeckung, der schöne, schlichte Bücher im Programm hat. Dieses hier ist wie ein buntes Cupcake, süß und nach Zitronen duftend, wie ein Sonnenstrahl an einem nebligen Tag.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ein eher unauffälliges Cover. Ich wundere mich über die unförmige Tasche der Frau, mag aber das Logo des Verlags, das wie ein Band wirkt.
… fürs Hirn: die Botschaft: Lass dein Leben nicht an dir vorbeiziehen!
… fürs Herz: die Szene, in der Virgile allein in seiner dunklen Wohnung sitzt, auf dem Kopf einen Helm mit Stirnlampe.
… fürs Gedächtnis: Mein Lieblingszitat: “Die Frauen und ihre Kleidung faszinierten Virgile. Sie weckten bei ihm Gedanken an Chamäleons, die sich ihrer Umwelt immer neu farblich anpassen und so mit ihr verschmelzen. Durch diese ständige Suche nach einem neuen Aussehen entzogen sie sich jedem Zugriff.”

Die besten Wochen meines Lebens begannen damit, dass eine Frau mich verließ, die ich gar nicht kannte ist erschienen im Thiele Verlag (ISBN 978-3-85179-120-4, 16 Euro).