Gut und sättigend: 3 Sterne

“Ich will endlich anfangen, mein Leben zu leben” …
… so lautet der Vorsatz von Mead, Ex-Genie und Sohn eines Bestatters aus der Kleinstadt. Bisher war sein Leben nämlich in hohem Maße fremdbestimmt, vor allem von Meads ambitionierter Mutter, dem “sechsbeinigen Monster”. Sie wollte stets etwas Besseres für Mead, der eigentlich Theodore heißt, als eine Zukunft im Möbelladen und Bestattungsinstitut von Vater und Onkel. Während seiner gesamten Kindheit und Jugend war Mead daher der typische gemobbte Außenseiter, neben dem in der Cafeteria niemand sitzen wollte, der Insekten in seinem Mittagessen fand und von den Klassenrüpeln bedroht wurde. Nur sein Cousin Percy – körperlich kräftig, baseballbegabt und nicht an guten Noten interessiert – stärkte ihm den Rücken. Mit gerade einmal 15 Jahren schafft Mead es an die Universität von Chicago, wo er ein Mathematikstudium beginnt und sich eingehend mit der Riemann’schen Vermutung beschäftigt, was ihm weltweiten Ruhm einbringen könnte. Doch wenige Tage vor seiner Abschlussprüfung und seinem Vortrag vor renommierten Mathematikern schmeißt Mead alles hin, kehrt nach hause zurück, will bei seinem Vater arbeiten und von der Mathematik nichts mehr wissen. Und alle fragen sich: Was ist geschehen?

Der verführerische Charme der Durchschnittlichkeit ist für den 18-jährigen Mead besonders groß. Seine Klugheit und seine Strebsamkeit machen ihn einsam – und das Leben der anderen, die es gemütlich haben in ihrer Mittelmäßigkeit, erscheint ihm überaus attraktiv. Seine Entscheidung löst bei seinen Eltern und Lehrern Entsetzen aus – zumal Mead sie im Unklaren über die Vorfälle lässt, die ihn dazu gebracht haben, seine große Leidenschaft, die Mathematik, aufzugeben. Erst nach und nach kommt ans Licht, dass der naive Mead aus dem Kaff, der noch nie einen Freund hatte, den falschen Leuten vertraut hat.

Melissa Jacoby hat biografische Teile ihrer eigenen Familiengeschichte in diesen Roman einfließen lassen: Ihr Großvater war Bestatter, ihr Vater ein mathematisches Genie. Meads Erfolge beruhen zwar in meinen Augen mehr auf Fleiß als auf Genialität, die lästigen Neider hat der junge Mann aber sowieso. Der verführerische Charme der Durchschnittlichkeit handelt von Andersartigkeit und Einsamkeit, von Verlust und Trauer, vom Wunsch eines Jugendlichen, den richtigen Lebensweg zu finden. Mead muss stets den hohen Erwartungen der anderen gerecht werden und lernt dabei nicht, auf seine innere Stimme zu hören – bis ihm die eigenen Illusionen plötzlich zerbröseln und er hart auf den Boden der Realität aufschlägt. Er flieht, um sich über seine nächsten Schritte klarzuwerden, und der Leser erfährt in Rückblenden, was den jungen Mathematiker derart aus der Bahn geworfen hat. Melissa Jacoby hat einen leichtfüßig-amüsanten, ereignisreichen Roman mit einem liebenswerten Helden geschrieben. Etwas irritiert bin ich von den Passagen, in denen Mead Gespräche mit Menschen halluziniert, die gar nicht anwesend sind; hier schießt die Autorin meiner Meinung nach ein bisschen übers Ziel hinaus. Davon sollte man sich aber nicht abschrecken lassen, denn insgesamt ist Der verführerische Charme der Durchschnittlichkeit ein lesenswertes Stück Unterhaltungsliteratur, mit einem klassisch amerikanischen Touch über die Moral von Freundschaften und allerhand Einblicken in die Seele eines begabten Teenagers ausgestattet. Gut!

Der verführerische Charme der Durchschnittlichkeit ist erschienen bei Droemer (ISBN 978-3-426-19902-2, 19,99 Euro).

Netter Versuch: 2 Sterne

Shockingly boring
Eine kleine Stadt namens Grouse County, die nichts Besonderes zu bieten hat. Ein Sherrif namens Dan, der dort für Recht und Ordnung sorgt. Die Fotografieassistentin Louise und ihr Mann Tiny Darling, von dem sie sich scheiden lässt. Das ist das Setting von Tom Drurys hochgelobtem “modern classic” The end of vandalism, das unter die “best of 45 years” gewählt wurde. Das Leben ist beschaulich in Grouse County, träge, ereignislos, und nach der Trennung von Louise und Tiny heiratet die Frischgeschiedene den Sheriff. Man liebt sich nicht unbedingt über alle Maßen, aber man kommt gut miteinander zurecht. Beide gehen ihren Berufen nach, Louise hat eine nervtötende Mutter, Tiny trauert ihr ein wenig nach und weiß ansonsten nichts mit sich anzufangen, und ab und zu gibt es eine halbwegs interessante Veranstaltung in der Stadt. Meistens jedoch nicht. Denn in Grouse County passiert eigentlich nichts. Genau wie in diesem Buch.

The end of vandalism gilt als Klassiker und wurde sogar mit einem Vorwort versehen. Darin heißt es, das Buch sei “an intelligent and kindhearted examination of a group of economically adrift characters in the modern American Middle West. And it’s fucking funny”. In der Tat ist es jedoch eher shockingly boring. Tom Drury, der auch mit Die Traumjäger sehr erfolgreich ist, hat zwar eine Szenerie geschaffen – ein verschlafenes Nest – und sich ein paar Figuren erdacht, er hat nur leider über 300 Seiten lang vergessen, seinem Roman mit Handlung Leben einzuhauchen. Die Konstellation Louise, Tiny und Dan könnte eine vielversprechende Dreieckskonstellation ergeben – davon kann aber nicht die Rede sein. Es gibt keine Eifersucht, auch keine Liebesgeschichte, keine Prämisse, keinen Spannungsbogen, keinen Höhepunkt. The end of vandalism ist am ehesten noch eine Studie des amerikanischen Lebens – was ich aber eigentlich nicht hoffen möchte, denn dann wäre dieses unendlich fad. Die Beschreibungen im Buch sind schrecklich öde: “After getting the groceries, Tiny had to pick Joan Gower up and bring her home. They were still living in the basement of the church in Margo, and Joan served three nights a week as a volunteer at the Saint Francis House animal shelter in Wylie. It was a b it of a jaunt from Margo to Wylie, and Tiny wished she had found an animal shelter or some other volunteer outlet closer to home.” Und so weiter, und so fort – auf diese Art ziehen sich die drögen Sätze seitenweise. Zudem führen die Menschen in diesem Roman keine normalen Gespräche, sondern erzählen einander nur völlig irrelevante Fakten. Als dann doch einmal etwas geschieht, als Dan und Louise mit einer privaten Tragödie konfrontiert werden, wird diese kaum thematisiert und dann, nachdem genug Zeit vergangen ist, einfach vergessen. Zu allem Übel hört das Buch sehr unvermittelt auf – und ich bleibe verwirrt und genervt zurück. Eine Haltung, mit der ich ziemlich allein dastehen dürfte, denn The end of vandalism bekam beste Kritiken und wurde sogar vorab in Auszügen im New Yorker publiziert. Ich kann nicht aufhören, mich darüber zu wundern.

8

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Die Sprache wird nicht schön, wenn der Schreiber ein schmutziges Leben führt”
“Zu guter Letzt wurde ich also Mörder. Doch das wurde ich auf die Art, auf welche sicherlich die meisten es werden. Mehr oder weniger unabsichtlich. Eine Handlung an der Grenze zum Nichtzustandekommen. Sie könnte ebenso gut gar nicht ausgelöst worden sein. Ich weiß nicht einmal, ob das, was geschah, wert ist, Mord genannt zu werden.” Rachsüchtig ist der Mensch, neidisch, niederträchtig, um nicht zu sagen böse. Da verwundert es nicht, dass er stets nach Möglichkeiten trachtet, andere aus dem Weg zu räumen. Möglichkeiten, die keinen Verdacht erregen. Und wer wohl könnte einen perfekteren Mord begehen als ein Arzt? Wir schreiben das Jahr 1919 und der Stockholmer Arzt Pontus Revinge legt eine Lebensbeichte ab. Er hatte einst eine solch ersehnte Möglichkeit gefunden, einen Menschen unbemerkt zu töten – und sie dem Schriftsteller Hjalmar Söderberg verraten, der sich davon zu seinem Roman Tyko Glas inspirieren ließ. Wie nebenbei hat Pontus Revinge seine vermeintlich nicht nachweisbare Mordmethode aber auch selbst angewendet: “Ich schlug zu, wie man mit einem Besenstiele auf eine Ratte einschlägt, sobald sie ihre Nase hinter dem Mülleimer vorreckt.” Durch den verübten Mord hat Pontus sich eine Praxis, eine Ehefrau und die Nähe zur süßen minderjährigen Frida erschlichen. Ein schlechtes Gewissen hat er nicht. Und doch verfolgt ihn die Tat ein Leben lang …

Den schwedischen Autor Hjalmar Söderberg und seinen zu Lebzeiten des Schriftstellers skandalösen Roman Tyko Glas gibt es wirklich. Kerstin Ekman – ihres Zeichens preisgekrönte Autorin – hat darauf aufbauend eine Geschichte gewebt, die eine vermeintliche Inspirationsquelle für Hjalmar Söderberg erfindet: einen Arzt, der jemanden tötet, der ihm vertraut. Schockierend, heimtückisch, angsteinflößend: Ärzte haben es nur allzu oft in der Hand, ob ein Leben weitergeht – oder endet. Das ist der Stoff für Alpträume und gute Bücher. Denn Kerstin Ekman hat mit Pontus Revinge einen eingebildeten, antiquierten, herrischen Protagonisten kreiert, der bei aller vermeintlichen Gleichgültigkeit doch von Minderwertigkeitsgefühlen und fast schon pädophilen Neigungen gequält wird. Ich habe Kerstin Ekman vor vielen Jahren – mit den 1998 und 2001 wiederaufgelegten Romanen Stadt aus Licht und Geschehnisse am Wasser – als eine Schriftstellerin kennengelernt, die sich auf düstere Stimmungen und die Nuancen zwischenmenschlicher Beziehungen versteht. Das stellt sie auch in Tagebuch eines Mörders unter Beweis. Sprachlich hat sie sich angepasst an die Umstände und Ausdrucksweisen des beginnenden 20. Jahrhunderts, der Ton ist bewusst geziert und aufgesetzt gehalten. Dadurch, dass das Buch aus Tagebuchaufzeichnungen von Pontus besteht, ergibt sich logischerweise eine recht eindimensionale Sichtweise, was die Autorin jedoch durch lebhafte Schilderungen so weit entschärft, dass das Buch nicht langweilig wird. Einen erhobenen moralischen Zeigefinger muss man nicht befürchten, die Frage nach der Schuld von Pontus Revinge kann und soll nicht eindeutig beantwortet werden. Darüber nachdenken darf aber jeder. Gelungen!

Tagebuch eines Mörders ist erschienen bei Piper (ISBN 978-3492054270, 17,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein tschechisches Geschichtenkarussell
„Ich bin gekommen, weil ich weiß, dass Sie hier in Prag allein sind, der Kommunismus ist vorbei und Yaromir ist tot. Jahrelang haben wir still und über riesige Entfernungen miteinander gekämpft, nie haben wir uns gesehen, und jetzt habe ich genug davon. Ich habe mir gesagt: Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein, wo er uns doch beide geliebt hat.“ Dabei wirken sie auf den ersten Blick grundverschieden: die „ätherisch-ruhige Maruška“ und Luiza, der „kleine Kernreaktor, ein unerschöpfliches Energiereservoir“. Was sie über Kontinente hinweg verbunden hat, war ein Mann: Yaromir. Maruškas Jugendliebe floh vor dem Krieg aus Prag und heiratete in Brasilien Luiza. Mit Maruška hielt er über all die Jahre brieflich Kontakt, und Luiza konnte das nur schwer akzeptieren: „Ich wusste, dass mich Yaromir nicht verlassen würde, und doch entwischte er mir irgendwohin in ein Reich aus eigenen Erinnerungen, der Realität seiner Heimat und Maruškas immateriellem, papierenem Zauber.“ Nun sind beide im hohen Alter, und Luiza steht eines Tages vor Maruškas Tür. Die Sprachbarriere überwinden die betagten Damen mithilfe von Marta und Lena – beide in Brasilien aufgewachsen, beide mit tschechischen Wurzeln –, die in Prag ihrem Lebensglück auf die Spur kommen wollen.

In Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein führt der Zufall vier Frauen zusammen – zwei davon haben ihr Leben bereits hinter sich, zwei sind noch jung. Ihre Familiengeschichten sind geprägt von der Auswanderung bzw. Flucht vieler Tschechen nach Brasilien im Zuge des Zweiten Weltkriegs. Dreh- und Angelpunkt im Leben von Maruška und Luiza ist der geheimnisvolle, charismatische Yaromir, den die tschechische Autorin Markéta Pilátová ebenfalls zu Wort kommen lässt. Aufgrund der vielen verschiedenen Perspektiven – insgesamt sind es fünf – ist es anfangs ein wenig schwierig, in den Roman hineinzufinden. Ist diese Hürde jedoch überwunden, entwickelt sich Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein zu einer runden Sache: gut geschrieben, voller unterschiedlicher Charaktere, gewürzt mit dem Zauber bedeutungsvoller Begegnungen. Dieses Buch handelt von der persönlichen Suche eines jeden nach der eigenen Heimat, es beschäftigt sich mit der Frage, wo – an welchem Ort, in welchem Land – ein Leben am besten gelebt werden und wo es enden soll. Jede der vier Frauen findet darauf eine andere Antwort. Markéta Pilátová, die selbst in Südamerika lebt, schreibt unpathetisch, gelassen, fast ein wenig flapsig. Sie zeigt auf, wie politische Hintergründe die Lebensgeschichten verschiedener Menschen beeinflussen können. Und sie hat vier Frauenfiguren geschaffen, die sich letztlich tatsächlich irgendwie ähnlich sind: in ihrer Suche nach dem Lebensglück.

Lieblingszitat: „Meine Mutter war eine Blondine mit einem kleinen, festen Hintern und einer Schweißermaske.“

Vielen Dank an die Bibliophilin für dieses Buch!

Für Gourmets: 5 Sterne

Der alte Traum vom unbeschwerten Leben
“Geld, Gott und Dreck, der Dreiklang des zwanzigsten Jahrhunderts, das gerade begonnen hatte” – dem will August Engelhardt entkommen. Zuhause in Deutschland als Nacktgeher und Fruchtesser verunglimpft und verurteilt, macht er sich auf die Suche nach einem Ort, an dem er nach seinen Vorstellungen leben kann, reist nach Indien, verweilt in der Kommune des Malers Diefenbach und gelangt schließlich auf die Südseeinsel Kabakon. Hier will er sich nur von Kokosnüssen, Sonnenlicht und der Weisheit seiner vielen Bücher ernähren. Den deutschen Kolonialherren und Missionaren der Nachbarinseln ist der nackte Verrückte, den die Eingeborenen überraschenderweise nicht töten, ein Dorn im Auge. Doch August ist ebenso harmlos wie glücklich. Dann aber tauchen seine Freunde Walter und Wilhelm auf, im Schlepptau eine Horde deutscher Sonnenanbeter, die August als eine Art Guru betrachten, und Anna, Augusts heimliche Liebe.

Marc Buhl hat einen fiktiven Roman über eine reale Person geschrieben: den Frühhippie August Engelhardt, Vegetarier und überzeugter Nudist, der sich im Jahr 1903 auf einen Strand unter Palmen setzte und anfing, sein Leben zu genießen. Er war ein Aussteiger, ein Glückssucher, der sich mit dem begnügte, was die Natur ihm bot, ohne ein Tier zu töten. Dem kalten Deutschland mit seinen Zwängen und Verboten, mit dem aufkeimenden Antisemitismus entflohen, ist er für die Einheimischen Kabakons eine Kuriosität: Er ist weiß, aber er hält sich nicht für etwas Besseres. Es findet eine zurückhaltende Annäherung statt zwischen August und Häuptling Kabua, auch mit Pater Joseph freundet sich August an. Der Pater hat seine missionarischen Illusionen längst verloren: “(…) aber was heißt schon Zivilisation: ein Postamt, eine Krankenstation, Beamte im Fieber, Pflanzer, im Herzen Geld und Zwiebeln im Atem, ein paar Kirchenleute wie er, die mehr dem Gekreuzigten ähnelten als dem Auferstandenen.” Und so könnte das Leben ruhig und erfüllt bleiben für August auf seiner Insel – doch seinem ersten Besucher, dem Musiker Max Lützow, folgen bald weitere. Sie machen August zum Gründer des Sonnenordens und sie bringen Missgunst, Rassendenken und den Tod mit sich.

Das Paradies des August Engelhardt ist ein ungemein unterhaltsames, lebenskluges und dazu noch herrlich gut geschriebenes Buch. Marc Buhl versteht es ausgezeichnet, die Eckdaten eines echten Lebens mit Fantasie, großem Einfühlungsvermögen und schriftstellerischem Talent zu einem glaubhaften Roman zu kombinieren. Gut recherchierte Details lassen die Südseeinsel, das Leben der Missionare, die Sprache der Einheimischen, das Rauschen der Wellen und den Geschmack von Kokoswasser lebendig werden. So sehr, dass man das Gefühl hat, ganz nah dran zu sein am sympathischen, friedfertigen August Engelhardt und der Palme, auf der er sitzt. Dieser Autor überzeugt mich mit Lebensweisheit, Ironie und ausbalancierten Formulierungen: “Die Nuss hatte dem Freund den Schädel zerschlagen, den zarten Knochen, eine brüchige Schale, viel Kraft hatte das nicht gekostet, im Gegenteil, viel zu schnell brachen die Schädel der Menschen, ganz anders als die der Haie, bei denen brauchte es Wut und Angst, bei den Menschen genügte auch eine kleine Enttäuschung.” Die Ankunft der anderen Aussteiger bereitet dem Inselglück von August ein jähes Ende: Er sieht sich konfrontiert mit all der menschlichen Niedertracht, die er zurückgelassen hat, und mit seinen Gefühlen für Anna, die Geliebte seines Freundes Walter. Wie die Dinge ihren logischen und gefährlichen Lauf nehmen, schildert Marc Buhl eindringlich und absolut lesenswert: Dies ist ein Roman über den ewigen Fluch der Menschen, nie und nirgends miteinander in Frieden leben zu können. Begeistert bin ich vom fulminanten, tragischen, stimmigen Ende – und von diesem ganzen wunderbaren Buch (sowie von der schönen Prägung, die sich unter dem Schutzumschlag versteckt)!

Lieblingszitat: “(…) aber Lesen ist vielmehr ein Hören, ein verinnerlichtes Hören eben, eine Rezitation der Stimme des Autors, der man lauscht. Über Welten und Zeiten hinweg konserviert sich die Stimme auf dem Papier, mal ein Flüstern, mal ein Stöhnen, eine Klage, Dozieren, Geschrei, aber immer Klang, immer ist da einer, der spricht, und einer, der lauscht, verbunden in einer seltsamen Intimität, und wie alle Ohrenkunst braucht es Zeit.”

Das Paradies des August Engelhardt ist erschienen im Eichborn Verlag (ISBN 978-3821861487, 18,95 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Alle guten Geschichten beginnen an einem Montag”
Lesen sollte man dieses Buch aber auch von Dienstag bis Sonntag. Es ist nämlich richtig gut. In der Geschichte “Der Teufel kommt nach Orechowo” steht der junge Soldat Leksi vor einer verflucht schwierigen Entscheidung: “Er war im Begriff, einer alten Frau einen Genickschuss zu geben, zuzuschauen, wie sie vornüber in den Schnee fiel, und sie dann zu begraben.” In “Merde bringt Glück” dagegen geht es um Homosexualität und Aids – eine berührende und traurige Story. Herausragend und lesenswert ist auch die Geschichte “Das Zwinkern des Löwen”. Mit dem Kurzgeschichtenband Alles auf Anfang beweist David Benioff seine Vielseitigkeit. Dieses Buch veröffentlichte er bereits 2004, vor seinem großen (und verdienten!) Erfolg Stadt der Diebe.

Es mag abgedroschen klingen, aber David Benioff schreibt mit Herz und Hirn. Er denkt sich ungemein originelle, amüsante, tragische Geschichten aus und gibt ihnen allen eine intelligente, ironische Spitze. Außer Zweifel steht zudem: David Benioff kann schreiben. Sehr gut sogar. “Die schlechten Tage kamen wie Churchills schwarze Hunde, sie lauerten im Flur vor meinem Zimmer, krallten sich im Teppich fest und nagten an den Rändern” ist ein Satz, der mir besonders gut gefällt, ebenso wie: “Wenn du in deiner Wohnung sitzt, spätabends, allein, seltsame Geräusche durch die Flure hallen, dich aufschrecken, und wenn du dann auf die andere Straßenseite blickst, durch das Fenster in die Wohnung eines Fremden, die nur vom Schein des Fernsehers erhellt wird, und dieses fremde Zimmer in ein kühles und gespenstisches Blau getaucht ist – genau diese Farbe hatten die Augen meines Vaters.” Es macht Spaß, diese wunderbaren Geschichten zu lesen – inhaltlich wie stilistisch. David Benioff überzeugt mich mit Witz und Charme (“Die Franzosen sind die Huren Europas, aber sie machen gute Weine”), mit ausgewogenen Formulierungen und fesselnden, tollen Ideen. Das Schräge daran: Ich mag ja eigentlich keine Kurzgeschichten. Aber ich mag diesen Autor. Ich würde eventuell wieder ein Buch von ihm lesen – das ist das größte Kompliment, das ich ihm machen kann.

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Ja, man steht rum, langweilt sich, also spuckt man”
Hanna ist 35 und Journalistin. Als sie beschließt, eine Reportage über die Welt von Menschen mit Migrationshintergrund in Berlin zu schreiben, trifft sie den 25-jährigen Tamer. Hanna will ihn näher kennenlernen, in sein Leben eintauchen, ein Porträt über ihn verfassen. Die journalistische Objektivität sowie ihre Distanz gehen ihr dabei recht schnell verloren. Und Hanna verändert sich: “Alles hat sich verschoben. Immer wieder sehe ich mich selbst in diesen unterwürfigen Momenten, in denen ich geradezu um Tamers Gunst bettle. In denen ich eine andere Frau bin, die ich vorher nicht kannte und, ehrlich gesagt, auch nicht kennen wollte. Ich weiß nicht, wo sie herkommt, und ich kann nur hoffen, dass sie wieder verschwindet, sobald dieser Artikel geschrieben ist.” Tamer ist ein Macho, er ist intolerant, rüpelhaft, frauenfeindlich und kriminell. Und Hanna, eine selbstbewusste, erfolgreiche Frau, hält immer öfter den Mund, verirrt sich ein wenig in Tamers Stadt – obwohl diese doch eigentlich auch ihre Heimat ist.

Mit Wunderland hat Sophie Albers ein kluges, befreiend einfaches Büchlein über das Miteinander verschiedener Kulturen geschrieben. Ihre Protagonistin Hanna sieht die Welt und vor allem die eigene Umgebung mit einem Mal durch Tamers Augen. Dessen Blick ist in erster Linie geprägt von Unmut, Antisemitismus und Machtgehabe. Tamer ist unflexibel und gebieterisch, ein junger Klischeearaber: “Er betrachtet die Dinge immer nur einmal. Danach kennt er sie ja schon. Einen zweiten Blick, einen zweiten Gedanken sind sie ihm nicht wert.” Hanna stößt das sauer auf: “Ich frage mich immer wieder, wieso ich mich dem eigentlich aussetze, warum ich mir diesen völlig sinnlosen Scheiß anhöre, der aus diesem verklebten Hirn quillt, das ich manchmal gern durchspülen würde: 120 Minuten im Vernunftvollwaschgang mit Toleranz-Zusatz und anschließendem Besonnenheitsschleudern.” Doch während sie sich ihre Meinung bildet über Tamer und über die Akzeptanz von Einwanderern, merkt sie: Sie selbst ist in Tamers Welt alles andere als willkommen.

Sophie Albers beschreibt eine Art Parallelwelt, von der jeder weiß, die aber kaum jemand bisher selbst betreten hat: Sie hat sich der Frage angenommen, wie junge Menschen mit Migrationshintergrund in Berlin leben, welche Ansichten und Wünsche sie haben. Ganz ohne moralischen Zeigefinger erzählt sie uns eine Geschichte, die die bekannten Probleme und Diskussionen zum Thema hat, ohne sich aber auf ein Urteil zu versteifen – und die trotzdem angenehm und schnell zu lesen ist. Ein wenig schade finde ich, dass Tamer arg stereotyp geraten ist – aber ansonsten funktioniert ein Roman über die Koexistenz fremder Kulturen vermutlich nicht so gut. Tamers Anschauungen sind Hanna fremd, und doch wird sie davon beeinflusst, sie steht nicht über ihm, zum Glück. Der Stil der Autorin ist prägnant und direkt, ihre Sprache will nicht als Kunstform beeindrucken, sondern dient als Werkzeug – das ist fast erholsam. In Wunderland geht es um den Verlust von Objektivität, der notwendig ist, um einmal einen ganz unverstellten Blick auf den Umgang von Deutschen und Einwanderer(kinder)n miteinander zu werfen. Wie definiert sich Heimat? Darüber nachzudenken, ist heilsam und wichtig. Ohne es auch nur einmal zu sagen, stellt dieses Buch die Forderung nach mehr Toleranz.

Lieblingszitat: “Er meinte, früher sei alles einfacher gewesen, da war man auf dem Spielplatz, und wenn ein Kind einen blauen Pulli anhatte wie man selbst, war das Grund genug, sich zu mögen.”

Wunderland ist erschienen im Knaus Verlag (ISBN 978-3-8135-0398-2, 14,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Ja, unser Sieg ist das Staunen, das Schwärmen, das Leuchtenkönnen!”
“Ort des Geschehens ist ein inzwischen längst entlaufenes, verschwommenes Kabul, mythisch und von nur kurzweiliger Anmut, in der sich Überlieferung nebst Gegenwart einfindet, eh diese, vom Krieg zerschlagen, in ihren innersten Sinn letztlich nur noch nach dem Gedächtnis jenes bunten Momentes verlangen kann, dessen Farben mittlerweile unauffindbar und dessen Atem vielleicht schon vergeudet ist.” Es ist die moralische Verpflichtung, die den Deutschen Jakob Benta Ende der Fünfzigerjahre in dieses magische Kabul bringt: Ein Freund ist hier gestorben, und er erweist ihm die letzte Ehre. Zunächst tut er sich schwer mit all dieser Fremdheit Afghanistans: “Mit Blicken, deren schwarze Brauen sich wie gotische Bögen zusammenschoben, mit einem so zerrissenen Herzen, dass dieser Mensch und Europäer unheilbar schien, solang dieser Aufenthalt nicht beendet war.” Die Annäherung an die unbekannte Kultur erfolgt über den Aufenthalt im Hause Da’ud Hussainis, Meisterkalligraph und Freund des Königs. Er zeigt Jakob Benta die Kunst der Kalligraphie und die Bedeutsamkeit der persischen Dichtkunst. Doch das Gute ist nicht von Dauer: weder Jakob Bentas Verbleib in Kabul noch der Friede im Land. Für die Familie Hussaini beginnt mit der Machtübernahme der Kommunisten eine traurige und entbehrungsreiche Zeit.

Gott im Reiskorn ist eine Mischung aus Biografie und Fiktion: Mariam Kühsel-Hussaini, 1987 in Kabul geboren und in Deutschland aufgewachsen, erzählt darin die Geschichte ihrer Familie – angereichert mit echten Fotos einerseits und viel fantasievollem Fabulieren andererseits. Sie berichtet von der überragenden Begabung ihres Großvaters Da’ud Hussaini, von der Begeisterung ihres Vaters Rafat für die Dichtung: “Dieser eine große Dichter peinigte ihn auf solch herrliche Weise, dass er manchmal eines seiner Gedichte für Tage, ja Wochen von sich fernhalten musste, um es nicht wieder und immer wieder zu lesen und darüber zu zerfallen, denn ebendas taten sie mit ihm.” Geschickt benutzt die junge Autorin die Figur des Deutschen Jakob Benta als europäischen Gegenpart zu Da’ud Hussaini, um die Kulturen aufeinanderprallen zu lassen. Als er recht unvermittelt verschwindet, bleibt der Fokus in Afghanistan, bei Da’uds Söhnen und Enkeln und bei den Unruhen im Land.

Bemerkenswert an Gott im Reiskorn ist die opulente, blumige Sprache, von ungesehener Eleganz, so dicht und bleibend wie ein schweres Parfum. Mariam Kühsel-Hussaini schreckt nicht vor dem großzügigen Gebrauch einer nahezu verpönten Wortkategorie zurück: dem Eigenschaftswort. Ihr Stil ist so reich an Adjektiven wie der Orient an Gewürzen: “Der König, ein magisch leichtsinniger und unternehmungsfreudiger Mann mit einer auffällig tiefen und attraktiven Stimme, fruchtig dunklem Teint, einer reizenden Hakennase und von ursprünglichem und üppigem Bedürfnis nach stets vorzeitiger Festlichkeit (…)” Dies ist eine Sprache, in der man wie in einem duftenden Bad schweben, in der man ertrinken kann. Sie ist kunstvoll, elegisch, hochstilisiert: “Nach einem langen Winter schwoll bereits das Geäst der Gärten wieder knospig an und die trübe und stehende Eisluft erwachte in tauenden Lerchenhimmeln.” So zu schreiben, ist ebenso altertümlich wie mutig – und macht Gott im Reiskorn zu einem Leserausch voller sinnlicher Eindrücke. Dieses Buch ist ein Porträt der empfindsamen afghanischen Künstlerseele, ein Roman, selbst angelegt wie ein einziges langes persisches Gedicht: schwülstig, voller Doppelsinn und purer Freude am Formulieren. Mariam Kühsel-Hussaini bedient sich ohne Zurückhaltung am Repertoire der deutschen Sprache, entlockt ihr Farben, Gerüche und Gefühle, zeichnet mit Worten wie ein Maler mit dicken, fröhlichen Strichen – das ist genau das Gegenteil von minimalistisch. Fremd und süß schmeckt dieser Roman, der unbedingt und in jeder Hinsicht einzigartig ist – innen wie außen, denn auch das wunderschöne Cover soll nicht unerwähnt bleiben.

Lieblingszitat: “Es gibt nun einmal dieses eine Erschütternde in uns, dieses tiefste Geschehen in uns, das mit keinem anderen Wort beschrieben sein will als mit Liebe, weil Liebe allein ebendas, was wir mit Liebe meinen, sprengend zu erläutern weiß und womöglich das einzige Wort auf der Erde, welches kein Wort, sondern eine Regung, eine Entscheidung, eine süße Verzweiflung ist.”

Gott in Reiskorn ist erschienen bei Berlin University Press (ISBN 978-3-940432-88-9, 22,90 Euro).

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Kein gutes Buch
“Was mir fehlte, war eine Aussicht, die Überzeugung, dass ich für etwas gebraucht wurde, das Gefühl, dass noch etwas für mich vorgesehen war, dass es ein Leben gab, in das ich gehörte.” Der Deutsche Tom lebt in Philadelphia. Seine Mutter ist Amerikanerin, die auf einer Europareise in Deutschland hängen blieb – und dann sehnsüchtig den Tod der Schwiegermutter erwartete, um in die USA zurückzukehren. Tom arbeitet sporadisch für eine Zeitung, gerade beschäftigt er sich mit den Selbstmorden junger Frauen. Maria, eine Freundin aus Kindertagen, in die Tom einst verliebt war, kommt ihn besuchen, kehrt aber nach einiger Zeit zu ihrem Freund, dem brutalen Schnitzer, zurück. Tom zieht daraufhin unvermittelt mit seiner Nachbarin Terry in einen Vorort. Terry ist Lehrerin und wurde von einem Schüler attackiert; das Haus im Vorort hat sie von ihrer Mutter geerbt. Dort sitzt Tom nun ohne Auto fest und die Perspektiven für seine Zukunft schwinden. Unglücklich ist auch die Deutsche Christiane, die in ihrer neuen Schule wie eine Gefangene gehalten wird und eigentlich nur nach hause will.

Kein fremdes Land ergibt – auf den Punkt gebracht – keinen Sinn. Die Handlungsweise der Figuren ist nicht nachzuvollziehen, die Ereignisse hängen kaum zusammen, ich kenne mich, ich muss es gestehen, teilweise überhaupt nicht aus. Was will Maria von Tom, warum kommt sie nach Philadelphia, warum verschwindet sie wieder? Keine Ahnung. Wie gehören Tom und Terry (ein Schelm, wer jetzt an eine Zeichentrickserie denkt) zusammen? Man weiß es nicht: “Seid ihr ein schönes Paar, Terry und du? Ich zuckte mit den Schultern. Paar ist vielleicht übertrieben.” Die beiden kennen sich eigentlich gar nicht – es ist nicht einmal klar, ob sie sich überhaupt mögen. Was hat es mit den Selbstmorden auf sich? Tom treibt sich in den Häusern herum, von denen jemand gesprungen ist, findet aber nie etwas heraus, forscht im Prinzip auch gar nicht richtig nach. Was soll das, wieso gibt es in diesem Punkt keine Auflösung? Und wie passt die junge Christiane in dieses Buch, deren Alltag wie ein Leben im Gefängnis geschildert wird, obwohl sie jeden Tag mittags nach hause gehen kann? Fragen über Fragen – und keine Antworten. Alles in diesem Roman wirkt überzogen dramatisch – obwohl im Grunde gar nichts geschieht. Ich kann mit Kein fremdes Land nichts anfangen und wundere mich, dass Ricarda Junge eine hochgelobte Nachwuchsschriftstellerin ist, denn auch stilistisch ist dieses Buch in meinen Augen nicht überragend. Zu vernachlässigen!

Netter Versuch: 2 Sterne

Es war einmal …
… ein kleines Büchlein voller höchst ungewöhnlicher Geschichten, in denen Armut und Hunger, Mord und Seuchen vorherrschen. Der Untertitel verrät, dass die Autorin, eine der populärsten Figuren des russischen Untergrunds, in dieser Sammlung allerhand Schauerliches verarbeitet hat. Man stirbt sehr schnell bei Ljudmila Petruschewskaja, doch die Toten können sich je nach Wunsch noch einmal bei den Lebenden melden – Irreales ist hier nämlich ganz normal: “Plötzlich entdeckte er am Hals ein winziges Loch, aus dem Tränen flossen, als sei es noch ein zusätzliches Auge” heißt es etwa, oder: “Es war einmal ein Mädchen, das starb und zurück ins Leben fand.” Ein Zauberer macht aus zwei dünnen Mädchen ein einziges dickes, ein Kind lebt in einem Kohlkopf, und eine Frau bildet sich einen Poltergeist ein. Das ist kurios, wundersam und amüsant.

Ich habe Es war einmal eine Frau, die ihren Mann nicht sonderlich liebte einzig wegen des genialen Titels gekauft. Ljudmila Petruschewskaja wartet mit sehr unkonventionellen Ideen auf und präsentiert einen Reigen an absurden Einfällen. Manche ihrer Geschichten sind tatsächlich ordentlich schaurig, andere lösen bei mir reines Unverständnis aus. Womöglich ist mir der russische Schmäh ein Rätsel, zumindest lassen mich einzelne Kapitel in absoluter Ratlosigkeit zurück. Ich habe stellenweise auch das Gefühl, als verberge sich subtile Gesellschaftskritik zwischen den Zeilen, die ich aber nicht ganz entschlüsseln kann. Andere Geschichten dagegen sind unterhaltsam und schön originell. Am besten sind in der Tat stets die ersten Sätze: “Es war einmal ein Vater, der seine Kinder nicht finden konnte” oder “Es war einmal ein sehr dickes Mädchen, das nicht ins Taxi passte.” Ein Buch wie dieses habe ich definitiv noch nie gelesen, es garantiert angenehmen Grusel, aber auch viel Verwirrung.

Lieblingszitat: “Der Mensch fürchtet die Anwesenheit unbekannter Wesen, er fürchtet Insekten, winzige Ameisen im Bad, er fürchtet sogar eine einzelne betrunkene Schabe, die im narkotisierten Zustand vor der Ausrottungsschlacht der Nachbarn geflohen ist.”