Für Gourmets: 5 Sterne

“Draußen ist mehr Platz zwischen den Menschen”
Zwei Jahre lang hat der 18-jährige Taguchi sein Zimmer im Haus seiner Eltern kaum verlassen, hat sich der Welt komplett entzogen: “Mein Dasein bestand darin, dass ich fehlte. Ich war das Sitzkissen, auf dem keiner saß, der Platz am Tisch, der leer blieb, die angebissene Pflaume auf dem Teller, den ich zurück vor die Tür gestellt hatte. Indem ich fehlte, hatte ich gegen das Gesetz verstoßen, das besagt, dass man da sein und wenn man da ist, dass man etwas tun, etwas erreichen muss.” Zwei Jahre lang hat Taguchi sich totgestellt, und als er nach dieser Zeitspanne merkt, dass er immer noch lebt, geht er nach draußen. Er wagt sich in den Park, setzt sich auf eine Bank und kehrt von nun an jeden Tag zu ihr zurück. Er hat Angst vor den Menschen, denn: “Jemandem zu begegnen bedeutet, sich zu verwickeln.” Genau das passiert ihm, als er im Park den über 50-jährigen Salaryman Teshi kennenlernt, er verwickelt sich in dessen Geschichte und entwirrt seine eigene. Teshi sitzt wie Taguchi von morgens bis abends im Park, beide sind sie aus dem Alltagstrott gefallen, der die Menschen schraubzwingenartig festhält, wurden hinausgeworfen oder haben sich ihm verweigert. Und kaum haben die beiden Einsamen sich als Gleichgesinnte gefunden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als einander das Herz auszuschütten – sie haben sonst niemanden. Teshi wurde entlassen und schafft es nicht, seiner Frau davon zu erzählen, hält die Routinelüge des täglichen morgendlichen Abschieds aufrecht, obwohl er glaubt, dass sie es längst weiß. Aber es gibt noch mehr, das er ihr nicht sagen kann, vor allem in Bezug auf den tragischen Verlust, den die beiden einst erlitten haben. Was es bedeutet, jemanden zu verlieren, weiß auch Taguchi trotz seines jungen Alters bereits, und an manchem Verlust war er nicht ganz unschuldig. Er hat viel zu bereuen und trägt schwer an der Schuld von einem, der immer nur wegschaut, der so viel wegschaut, dass er plötzlich das Haus nicht mehr verlassen kann, weil er dann etwas sehen würde. Sie sind zwei Fremde, die auf einer Parkbank sitzen, und sie könnten einander näher nicht sein. Zwei traurige Gestalten, allein inmitten von Millionen Menschen, auf sich geworfen in dem Moment, in dem sie sich eingestanden: Ich kann nicht mehr.

Milena Michiko Flašar, österreichische Schriftstellerin mit japanischen Wurzeln, hat ein Buch geschrieben, das so zärtlich ist wie ein liebevoll-flüchtiger Kuss auf die Stirn, so klug wie der Blick eines Großvaters, der wissend lächelt und großzügig schweigt. Zwei Menschen treffen aufeinander in einem Park, wie es viele gibt, zwei Menschen, die umgeben sind von je einer Blase, um alle anderen abzuhalten, um sich vor der Welt zu schützen. Sie setzen sich nebeneinander, und aus den zwei Blasen wird eine einzige, in der sie sich zu zweit verstecken. Für 139 Seiten darf ich neben ihnen sitzen und den vielen Stimmen lauschen, die um sie herumschwirren: der Stimme eines Mädchens, das aus dem Fenster springt, der Stimme eines jugendlichen Dichters, der vor ein Auto läuft, der allerleisesten Stimme eines Babys, das nie geweint hat. Ich sitze neben den beiden Verlorenen und sehe zu, wie die Geschichten aus ihnen hinausfließen, und hätte ich länger zusehen können, wären sie vielleicht eines Tages leer gewesen wie Gefäße, in denen Platz ist für Buntes und Neues. In einer sehr melodischen, durchdringend klaren, spartanisch schlichten Sprache zeichnet Milena Michiko Flašar ein Bild der heutigen japanischen Gesellschaft, in der Angestellte sich sprichwörtlich zu Tode schuften und beim ersten Fehler vor dem Nichts stehen, im Alter abgeschoben werden und alles, absolut alles tun, um das Gesicht zu wahren. Die Jungen dagegen zwingt die Angst vor dem Leben in die Knie, sie halten dem Druck nicht stand und schließen sich selbst weg, Hikikomori werden sie genannt, und wie viele es von ihnen gibt, weiß man nicht, weil sie als Familienschande gelten. Die Worte, mit denen die Autorin das Leben dieser zwei Menschen zeichnet, die so unterschiedlich sind und einander in ihrer Verzweiflung doch gleichen, sind pure Poesie, so einfach wie schön. Sie verliert sich nicht in aufgeregten Spielereien, sinnlosen Verschnörkelungen und wirbelartigen, endlosen Satzkonstruktionen. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihre Sprache nicht kraftvoll wäre, im Gegenteil, leise ist sie, ein Wispern manchmal nur, und doch schmerzhaft wie ein Faustschlag. Milena Michiko Flašar schreibt über das zwischenmenschliche Beziehungsgeflecht, dem niemand sich entziehen kann, über das Schweigen, das die Stimmen nur umso lauter macht, über das Sich-die-Ohren-Zuhalten, wenn die Hilfeschreie anderer zu durchdringend sind, über Schuld, Lügen und Sich-vor-der-Welt-Verstecken – große Themen, an denen man scheitern könnte, die sie aber so elegant meistert wie eine alte französische Revuetänzerin den Can-Can. Ich nannte ihn Krawatte ist ein Buch, über das ich ganz rigoros sagen kann: Wen es nicht berührt, der hat kein Herz.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
wundervolle Farbkomposition, sehr edel, die Koi sind zutiefst japanisch.
… fürs Hirn: die Schuld der Mitläufer, wie groß ist sie? Der Druck der Gesellschaft auf den Einzelnen, wie groß ist er? Die Pflicht der Eltern, ihr Kind zu lieben, wie groß ist sie?
… fürs Herz: das Ende. Der Anfang. Und alles dazwischen.
… fürs Gedächtnis: meine liebste Szene, in der der Klavierlehrer über das Lachen spricht, über das Lachen für seine sterbende Frau, so ergreifend geschrieben, so wahr und klug, dass ich ihr mit Tränen Respekt zollen musste: “Wer in einem Lachen nichts anderes als ein Lachen hört, der ist taub.”

Ich nannte ihn Krawatte von Milena Michiko Flašar ist erschienen im Verlag Klaus Wagenbach (ISBN 978-3-8031-3241-3, 144 Seiten, 16,90 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

“Er wollte alles, was man nur haben konnte, und noch viel mehr”
Die junge Hadley führt ein zurückgezogenes Leben als lediges spätes Mädchen im Haus der verheirateten Schwester, und es reißt sie aus ihrer Lethargie, als sie bei einem Besuch in Chicago Ernest trifft. Er ist jünger als Hadley und träumt davon, ein großer Schriftsteller zu werden; wie ein Wirbelwind fegt er durch Hadleys gesamte Existenz. Sie schreiben einander gewitzte, hoffnungsvolle Briefe und gehen das Wagnis der Ehe ein – praktisch ohne sich zu kennen. “Wie unglaublich naiv wir beide in dieser Nacht waren. Wir hielten uns aneinander fest und gaben uns Versprechen, die wir nicht halten konnten und die wir nie hätten aussprechen sollen. Aber so ist die Liebe manchmal.” Und so wird Hadley Ernest Hemingways erste Frau, sie zieht mit ihm nach Paris, sie ist ihm eine Stütze und erdet ihn, der zu einem Höhenflug ansetzt, sie ist “gut und stark und echt”. Im wilden Paris der 1920er-Jahre, einer Zeit, in der in den Elitekreisen kaum jemand an die Ehe glaubte, versuchen Hadley und Ernest, den zügellosen Liebes- und Dreiecksgeschichten ihrer Freunde – darunter F. Scott Fitzgerald und Zelda, Ezra Pound, Gertrude Stein – zum Trotz, an ihrer Zweisamkeit festzuhalten. Wie eine Löwin kämpft die biedere, freundliche, herrlich normale Hadley um ihren Mann, in der fiebrigen Atmosphäre einer Stadt, die sich gebärdet wie eine verlogene Hure, und sie bleibt auch dann noch aufrecht stehen, als sie alles, alles verliert.

Ernest Hemingways Name und Werk ist jedem, der sich einer halbwegs anständigen Allgemeinbildung rühmen darf, ein Begriff. Er gilt als einer der Vorreiter eines klaren, schnörkellosen Schreibstils; er soll ein Macho gewesen sein, ein Lebemann. Paula McLain porträtiert auf eine unfassbar authentische Weise einen jungen, unsicheren Ernest, der genau weiß, was er will, der treu sein möchte und ehrlich – und am Ende doch den Verlockungen der Pariser Sirenen erliegt. Getragen wird dieser Roman, der sich auf der New York Times-Bestsellerliste platzierte, von Hadleys Stimme, die Paula McLain so meisterhaft eingefangen hat, dass ich ihr jedes Wort glaube, das wahre wie das erfundene. Woher kann sie all dies wissen, frage ich mich während der Lektüre, was ist Realität, was Fiktion? Antworten finde ich – ausnahmsweise einmal hocherfreut über Zusatzmaterial – im Anhang in einem Interview, in dem die Autorin erklärt, dass es viele Biografien über ihre Hauptfiguren gibt und ihr Hemingways Buch über die Pariser Zeit Paris – Ein Fest fürs Leben wichtige Informationen geliefert hat, und in dem sie sagt: “Ich habe alles erfunden, worüber ich nichts Sicheres wissen konnte, etwa die gesamten Dialoge im Roman. Auf einer tieferen Ebene, auf der einem keine Biografie der Welt weiterhelfen kann, wusste ich allerdings bereits, was im Herzen der Geschichte lag.” Sie zeigt Hadley als intelligente, einfache, humorvolle Frau, eine treue Seele, von einer ganz anderen Anmut als die glitzernden Schönheiten der 20er-Jahre, und sie offenbart, welch wichtigen Einfluss Hadley auf Ernest und seine Karriere hatte: Es steht eben doch eine erfolgreiche Frau hinter jedem erfolgreichen Mann.

Dieses Buch entfaltet einen wunderbaren Sog, in den ich mich fallen lasse, der mich auf Wortwellen durch ein schillerndes Paris treibt, immer ganz nah an diesem besonderen Paar, seinen Kämpfen, seiner Liebe, seinem Scheitern. Respektvoll ziehe ich meinen Lesehut vor Paula McLain, die so behutsam, schlau und mit dem richtigen Gespür für Tempo und Detailreichtum Wahrheit und Fiktion verknüpft hat zu einem engmaschigen, weichen Netz, das den Leser einfängt und vor Vergnügen zappeln lässt. In ihrer ausbalancierten, stimmungsvollen Sprache bade ich voll Wonne, mit ihrer mutigen, liebenden Protagonistin leide ich mit. Dieser Roman weckt eine Bandbreite an Gefühlen im Leser, Wut und Mitgefühl, Neid und Verständnis. Funkelnd leuchtet die Kulisse von Paris, oder um die Worte der Autorin auszuleihen: “Die zwanziger Jahre in Paris waren eine einmalige Zeit, und das Leben der Hemingways dort war voller unglaublicher Abenteuer und unwiderbringlicher Begegnungen, so dass ich unendlich dankbar bin, diese Jahre noch einmal mit ihnen durchlebt haben zu dürfen.” Ich auch!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein elegantes Cover, das die Rahmenbedingungen des Buchs gut spiegelt.
… fürs Hirn: die grandiose, aufgeregte Nichts-zu-verlieren-Atmosphäre nach dem Ersten Weltkrieg im goldenen Paris.
… fürs Herz: der Schmerz, der bittere, eklige Schmerz einer betrogenen Frau.
… fürs Gedächtnis: zum Glück werde ich mich noch lange an diesen wunderbaren, lesenswerten Roman erinnern. Er ist einer, der bleibt.

Dieser Roman ist nominiert für den “M Pionier”-Buchpreis der Mayerschen Buchhandlung!

Für Gourmets: 5 Sterne

Das innere Erbe der Generationen
Nadja liebt ihr Leben in Russland, sie steht auf einer Revuebühne, spielt Klavier und singt – das erfüllt sie und bietet einen Ausgleich zum Alltag mit Ehemann Anton und den Kindern Peter und Senta. Doch als Hitlers Macht größer wird, wollen die Russen alle Deutschen aus dem Land verschwinden sehen, und so wird Nadja – die sich als Russin fühlt, aber deutsche Vorfahren hat – mit ihrer Familie vertrieben. Sie stranden in Berlin, wo Anton wie eine geschmeidige Katze auf die Füße fällt, während Nadja ganz bewusst in Melancholie versinkt und nie wieder daraus auftaucht. Diese Teilnahmslosigkeit dem eigenen Schicksal gegenüber vererbt sie Senta: “Senta erbte demnach weniger Teller oder Tassen. Sie erbte eher größere Bestände an ungelebtem Leben. (…) Aber vor allem schaffte sie es, und das war ihre Kunst, aus dem Mangel eine Fülle zu generieren, einfach weil sie fünf Kinder gebar und somit dem umfassenden Gefühl, einsam zu sein, eine Quirlhorde Lebendigkeit entgegensetzte.” Die Liebe allerdings, die hat Senta gehen lassen – zusammen mit dem jungen Gregor, der aus Überzeugung in die DDR übersiedelte, um Berufsrevolutionär zu werden. Finanziell geht es Senta gut mit ihrem Mann, dem Anwalt, emotional verkümmert sie. Ihre Tochter Katarina sieht sich – genau wie Senta einst – einer abweisend-leblosen Mutter gegenüber. Und doch scheint es, als könne mit ihr in der dritten Generation endlich ein Heilungsprozess beginnen …

Das Glück der Zikaden ist ein Roman über drei Frauen und den Aufruhr in Deutschland zwischen Zweitem Weltkrieg und Mauerfall. Larissa Boehning, die bereits für ihren Debütroman Lichte Stoffe mit Preisen bedacht wurde, ist eine kluge, behutsame Erzählerin, die stets den Überblick behält und sich trotz der ausufernden, elegisch schönen Sprache nicht in den Wortgebirgen verliert. Sie richtet den Fokus auf drei Frauen, die einander furchtbar ähnlich sind, die voneinander gelernt und Verhaltensweisen übernommen haben und sich gerade deshalb eine von der anderen abgestoßen fühlen. Sie stellt diese drei Frauen auf eine Bühne, deren Kulisse wildes Zeitgeschehen ist: die Vertreibung der Deutschen aus Russland, Bombenregen über Berlin, der Bau der Mauer. Nadja fühlt sich entwurzelt, sie igelt sich ein und verweigert sich, sie gibt die innere Distanz zum Leben weiter an Senta, die sich in ihrer eigenen Tochter wiederum gespiegelt sieht: “Aber in der nächsten Sekunde stieß das Nebulöse, das von Katarina ausging, sie ab. Es ähnelte ihrer eigenen Weltabgewandtheit zu sehr.” Auch Katarina trägt schwer an diesem Familienerbe: “Nie fiel Katarina deutlicher auf, wie sehr sie die Tochter ihrer Mutter war. Genau wie Senta wußte sie nichts zu sagen, fühlte sich eingeengt durch ihre Ernsthaftigkeit, ständig beschäftigt mit dem Versuch, das Leben zu begreifen, während sie mit großem Abstand davorstand und meinte, es nur ausgiebig betrachten zu müssen.”

Und so ist Das Glück der Zikaden eine intelligente, detailreiche Auseinandersetzung mit Heimatlosigkeit und Distanz, mit Unnahbarkeit und den Wunden, die sie in allen Kindern schlägt. Handlung gibt es ausreichend in diesem Buch, und doch liegt die Gewichtung auf dem Fühlen, auf dem Innerlichen, auf der Wechselbeziehung zwischen Empfinden und Erleben – mitten in einer gefährlichen, sterbenselenden Zeit. Dies ist ein Roman über Frauen, die Männer sind auf den ersten Blick nur Begleitpersonen. Es stellt sich jedoch heraus, dass alle drei Frauen völlig fremdbestimmt sind, ihr Leben aus der Hand geben und dann erstaunt und unglücklich zusehen, was mit ihnen geschieht. Bewusst ist ihnen dies durchaus, wie Senta es ausdrückt: “Hier würde sie bleiben und den Schlaf ihres Mannes bewachen, dafür sorgen, dass alles so blieb, wie es war. Auch, wenn es bedeutete, sich wie die Schafe abzustumpfen, gefühllos zu werden, die Reste Schmerz zu verbannen, die ab und zu ihr Herz aufzurühren imstande waren.” Sie lösen sich fast auf, diese Frauen, treiben ankerlos durch die Tage, haben kaum Berührungspunkte mit der Realität. Stilistisch erinnert Larissa Boehning an die Größe von Julia Franck (auch inhaltlich an den grandiosen Roman Die Mittagsfrau) und Zsuzsa Bánk. Das Glück der Zikaden ist herausragend gut geschrieben, es verlangt Aufmerksamkeit, es leuchtet.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Collage finde ich schön, das Gesicht mit dem schief aufgemalten Lippenstift erscheint mir allerdings unpassend, keine der drei Frauen stelle ich mir so vor.
… fürs Hirn: die Charakterstudie der Figuren: voller Optimismus dem Leben gegenüber versus zu willenlos, um nicht an seinen Klippen zu zerschellen.
… fürs Herz: der Schmerz, der mit all der Einsamkeit und der vererbten Unnahbarkeit einhergeht.
… fürs Gedächtnis: die Szene, in der Nadja vor den russischen Soldaten um ihr Leben singt.

Das Glück der Zikaden ist erschienen bei Galiani Berlin (ISBN 978-3-86971-039-6, 19,99 Euro, 320 Seiten).

Für Gourmets: 5 Sterne

Die Liebe, die Liebe, die Liebe
Wo die Liebe hinfällt, dort will sie wachsen, doch als Ada Bo trifft, ist gleich klar, dass die Liebe in diesem Fall auf schwierigem Boden gesät hat. Mit Böden kennt Bo sich aus, er ist Bauer, Ada dagegen lebt in der Stadt und studiert Literaturwissenschaften. Ada hat Bücher, Bo hat Schweine. Und trotzdem zieht es die beiden zueinander hin, seit sie sich auf Tante Rosis Beerdigung gesehen haben, als Nebenberufssargträger Bo das Gebetbuch ins Grab gefallen ist. Ada verbringt immer mehr Zeit auf Bos Hof, mit seinen Kühen und seiner Leitsau Sigfried, ihr gefällt dieser starke Mann, der so anders ist und anders riecht als sie: “Er trug Gummistiefel und grüne Kordhosen und ein schmutziges Flanellhemd. Seine blonden Locken rollten sich widerspenstig über den Kragen. Seine Hände waren rau und schwarz und in Bos Küche roch es nach Schwein und Kaffee.” Ada beobachtet Bo gern – und das ist ein Problem, das Ada schon seit ihrer Kindheit von ihrer Mutter und bald auch von Bo den Vorwurf einbringt: “Du siehst dem Leben nur zu.” Seltsam passiv ist Ada, ohne Willen oder Wunsch, antriebslos, verloren. Freunde hatte sie nie – außer vielleicht die ebenso stumme Elisabet, der sie später beisteht -, weil sie nicht weiß, wie das geht, mit der Welt in Kontakt treten, einen Gesprächsfluss erzeugen, sich beteiligen. Auch Bo will Beteiligung von Ada, er will sie, diese ganze sture, schweigsame, schüchterne Frau, die nicht kochen und nicht melken kann und die er trotzdem liebt. Aber was will Ada? “Insgeheim wussten wir, dass ich nie eine Bäuerin und Bo nie kein Bauer sein würde, aber wir fühlten einander und machten ansonsten die Augen zu.” Und so beginnt ein stiller Kampf, weil die Liebe wachsen will, größer und stärker werden, und weil sie es nicht kann in diesem unwirtlichen Klima zwischen Lebensangst, Schweinemist und unüberbrückbaren Differenzen: “In diesem Augenblick wurde mir klar, wie klug Bo war, und dass seine Klugheit eine andere war als meine. Bo hatte sein Wissen aus dem Leben und irgendwie auch aus dem Herzen. Ich hatte meines aus Büchern und es konnte doch nicht gut gehen mit uns, und während mir sein Geruch in die Nase stieg, flüsterte ich Bo ins Ohr, du bist so dumm, Bo, und er lachte und flüsterte zurück, und du erst, Ada.”

Obwohl sie nichts anderes tut als lesen und studieren, sind die Worte nicht Adas Freunde, sie findet nie welche, geschweige denn die richtigen. Sie ist neurotisch, abwesend und still, sie lebt hinter einer Glaswand, bis die Bo trifft. Doch wenn einem die Worte fehlen, um ein so großes Gefühl zu kommunizieren, wird dieses Gefühl schwer und erdrückend. Unendlich einfühlsam erzählt Nicole Balschun in Ada liebt von einer Liebe, die so gern sein möchte und nicht kann. Sie tut dies in einer klaren, einfachen, formvollendeten Sprache, perfekt bis zum letzten Buchstaben, elegant, fließend, schön. Dies ist ein Roman, der dem Leser – und es gibt keinen anderen Ausdruck als diesen verkitschten – das Herz bricht, ihn wünschen lässt, er könnte gute Fee spielen, hineingreifen in die Handlung und sie beeinflussen, Ada und Bo an den Schultern packen, ihnen die Zweifel aus dem Kopf schütteln, ihnen den Mut ins Herz zaubern. Dies ist ein Buch, das sich nicht weglegen lässt, das in einem Rutsch gelesen werden will, atemlos, voller Hoffnung, voll heimlicher Wut auf die beiden Protagonisten, die sich doch – bitte! – endlich zusammentun mögen, und zugleich voll Sympathie und Verständnis für sie.

Herrlich gelungen ist die Charakterisierung von Ada und Bo, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Bo hat Kraft, er ist schmutzig, direkt, schlau, und Ada ist derart verzärtelt und krankhaft abweisend, dass sie gar nichts kann, nicht kochen, nicht helfen, nicht reden – man fragt sich, wie sie überhaupt leben kann. Auf einen Schlag stehen die beiden einander gegenüber, und was dann passiert, ist so lustig wie traurig. Schlagfertige Dialoge, ein unfassbar guter Schreibstil, Witz, Weisheit und Realitätssinn machen Ada liebt zu einem Juwel, einem literarischen Schatz, einem besonderen Leseerlebnis – und zu meinem Buch des Monats. Kaufen, lesen, verlieben, seufzen, genießen!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein unaufgeregtes, passendes, stilvolles, ironisches Cover.
… fürs Hirn: die Frage: Was würde ich tun mit der Liebe zu einem, der Schweine und Kühe hat, Gummistiefel und ein völlig anderes Leben?
… fürs Herz: alles, alles, dies ist ein Buch fürs Herz, ein Herzensbuch, mit jeder Zeile, jedem Satz!
… fürs Gedächtnis: die wunderbar unkitschige Romantik, die zwischen Friedhof, Kuhstall und Oper entsteht – weil dies die Orte sind, an denen gelebt wird, keine künstlichen Werbekulissen, keine Scheinheiligkeit.

Ada liebt ist erschienen bei Dumont (ISBN 978-3-8321-8552-7, 13,99 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Das dicke Mädchen mit dem himmelblauen Koffer
Dass man es nicht verhindern kann, jemanden zu lieben, begreift Finn in jenem Sommer, den er mit Linda verbringt auf einer Insel in einem Zelt, in jenem Sommer, in dem er Boris trifft, einen Freund für tägliche Abenteuer, jenem Sommer, in dem Linda schwimmen lernt. Zuvor war Finn allein mit seiner Mutter, sein Vater – ein Kranführer – ist gestorben, aber da waren die Eltern schon geschieden, und die Witwenrente bekommt Vaters zweite Frau. Die Mutter arbeitet in einem Schuhladen, doch weil das Geld nicht reicht, müssen sie einen Untermieter aufnehmen und der rätselhafte Kristian zieht ein. Er ist rüpelhaft und charmant zugleich, was die Mutter ein wenig aus der Bahn wirft: “Es war wohl die Mischung, die sie umwarf, dass ein und derselbe Mensch Wörter wie Arschloch und sporadisch enthielt, als sei der Bursche eine Promenadenmischung, ein Mann ohne Heimat, und das ist, wie jeder weiß, ein Zigeuner, was wiederum falsch und unzuverlässig bedeutet, hatten wir uns also hier in unserer Idylle ein trojanisches Pferd aufstellen lassen?” So richtig aus der Bahn wirft die Mutter – und Finn – dann aber die Ankunft von Linda, Finns Halbschwester: “Dann kam Linda. Sie kam mit dem Bus. Allein.” Linda ist dick und schweigsam, hat struppiges Haar und einen kleinen himmelblauen Koffer. Von nun an ist Finn gefangen zwischen widersprüchlichen Gefühlen, zwischen der Eifersucht auf die Zuneigung, die die Mutter bald für Linda empfindet, und der Verantwortung, allzu plötzlich ein großer Bruder zu sein. Da die Mutter weiterhin arbeiten muss, passt Marlene auf die Kinder auf: “Marlene war wie geschaffen dazu, alles Schiefe und Seltsame hier auf der Welt in Ordnung zu bringen, mit ihren Worten, ihrer Schönheit und mit ihrem roten Lächeln.” Und als aufkommt, dass hinter Lindas Schwerfälligkeit etwas ganz anderes steckt als geistige Entwicklungsverzögerung, vertieft sich die Geschwisterbeziehung von Finn und Linda. Die beiden erleben einen Sommer, wie er unbeschwerter nicht sein könnte. Doch dann ist der Sommer vorbei, und Finn bekommt vom Leben die Lektion erteilt, dass nicht alles so sein kann, wie man es sich wünscht. Dass es wehtun würde, dieses Leben mit Linda, das hat er schon zu Beginn geahnt, als Linda zum ersten Mal nach Mutters Hand griff: “Und das konnte ich nicht länger mit ansehen, diesen Griff, von dem ich instinktiv begriff, dass es ein Griff fürs Leben war, der fast alles verändern würde, nicht nur in Lindas Dasein, sondern auch in Mutters und meinem, es war so ein Griff, der sich um dein Herz schließt und es wie in einem Schraubstock festhält, bis du krepierst, und der auch noch da ist, wenn du im Grab liegst und verfaulst.”

Es sind die großen Themen, die der norwegische Schriftsteller Roy Jacobsen aufgreift in diesem Roman, Drogensucht, Kindesmissbrauch, Geschwisterliebe, finanzielle Not und das Talent der Kinder, immer auf den Füßen zu landen. Er tut dies so feinfühlig, intelligent und elegant, dass sein Stil mir ein zufriedenes Aufseufzen entlockt. Ich fühle mich wohl in dieser Sprache wie in einem Daunenbett, das sich mir perfekt anpasst, wie in einem Whirlpool mit genau der richtigen Temperatur. Mit beachtlichem Talent hat Roy Jacobsen die Stimmungen eingefangen und zu Papier gebracht, die dieses Buch dominieren und zu etwas Besonderem machen: Fremdheit und Pflichtgefühl, Überforderung und langsames Zusammenwachsen – allen Widrigkeiten zum Trotz. Ganz ohne Kritik kommt Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte nicht davon, mir bleibt Kristians Figur letztlich zu schleierhaft, und die Distanz zwischen Linda und Finn ist mir teilweise etwas zu groß – wobei das aber vermutlich Geschwisterliebe ausmacht, dass man jemanden beschützt und zugleich ganz schrecklich von ihm genervt ist. Die Ereignisse zum Ende hin haben mich kurz entsetzt aufheulen lassen, der Schluss ist dann aber versöhnlich genug. Obwohl dieses Buch einen verträumten, freundlich-naiven Eindruck macht, gibt es in Wahrheit Einblick in eine eiserne, tausendfach auf diese Art erlebte Realität. Der kleine mutige Finn wächst mir ans Herz, ebenso wie die ganze zusammengewürfelte Familie in der winzigen Genossenschaftswohnung im norwegischen Nirgendwo. Roy Jacobsens Stil erinnert mich an jenen von Per Petterson, den ich sehr mag, dieses Nordische, Ruppige, Raue hat seinen ganz eigenen Zauber. Dieser Roman ist wie ein Sommer voll lauer Nächte und Geheimnisse, wie ein guter Freund, an den man gerne denkt. Meisterhaft!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ja! Das ist Sommer, so sähe er aus, gäbe es ihn in Bildform. Sehr schön, sehr passend.
… fürs Hirn: die unglaubliche Leichtigkeit, mit der sich Roy Jacobsen schwerer Themen annimmt, und wie er daraus ein zartes Sommerkleid häkelt, das überraschend gut wärmt.
… fürs Herz: dass Finn ganz tapfer, aber auch sehr eigensinnig versucht, mit allem allein fertig zu werden – wie ein typischer unkommunikativer Mann im Miniaturformat.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: “Linda fand das witzig, sie lachte sogar, mit einem Lachen, das klang wie ein erfüllter Wunsch, ich weiß nicht, ob es ihrer war oder meiner.”

Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte ist erschienen im Osburg Verlag (ISBN 978-3-940731-58-6, 19,95 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

“Das Alleinsein ist eine steile Rutsche, auf der man sich mühsam im Gleichgewicht hält”
Am wichtigsten war Marianne immer die Ordnung. Geputzt hat sie fleißig in dem Haus, das Hermann ihr gebaut hat, seine Kleider geflickt, hinter ihm hergeräumt, den Boden gewienert, die Fenster poliert. Sorgsam war Marianne schon immer, hat Socken und Pullover gestrickt zum Verkaufen, damals, daheim in Südtirol, während die Italiener die Dörfer besetzten und ihnen neue Namen erfanden. Dass das halbe Leben Ordnung sei, hat sie später auch der Kleinen eingebläut, Friederike, die Mariannes geschickte Hände hat und Hermanns anklagenden Blick. Fast dreißig war Marianne schon, als Hermann kam, um sie zu heiraten, und was hätte sie da anderes tun können als mitgehen mit ihm ins Salzburger Land. “Hermanns Kleider hat sie wunderbar in Ordnung gehalten. Mit ihm ist es ihr nicht gelungen.” Denn Hermanns Jähzorn und seine Wutausbrüche waren unberechenbar. Jahrzehntelang hat Marianne gelitten, gegangen ist sie nicht. Doch dann befreit ein Unfall Marianne von ihrem Mann, dem Haustyrann: Er stürzt die Treppe hinunter und stirbt. Endlich ist Marianne allein, aber Erleichterung verspürt sie nicht, entgleitet ihr doch langsam, aber sicher all die Ordnung, auf der ihr Leben fußt. Sie verwechselt die Wochentage, die Zeit treibt Spielchen mit ihr, sie geht ohne Hut zum Einkaufen, schmiert Marmelade auf die Treppe und versucht, mit Zettelchen in sauberer Schrift gegen die Ohnmacht, gegen die bedrohlichen Löcher in ihrem Kopf anzukämpfen. Und ihre Kleine, inzwischen Mitte dreißig, muss sich der Beziehung zur fordernden und zugleich unfähigen Mutter stellen, gequält von der Frage: Ist ihr Vater gefallen oder hat Marianne ihn gestoßen?

“Das Kind, das ich gewesen war, war im Betrachten der Eltern gänzlich aufgesogen und aufgelöst. Ich hatte sie auswendig gelernt, sie und ihn, wie zwei Geschichten, die von einer unheimlichen und bösen Macht zu einer zusammengezwungen worden waren. Lange war ich den Verdacht nicht losgeworden, dass ich diese Macht war.” Ich-Erzählerin Friederike setzt sich auseinander mit ihrer Kindheit, mit dem penetranten Ordnungsfimmel der Mutter und den gebrüllten Attacken des Vaters. Ihr gegenüber stellt die österreichische Autorin Gudrun Seidenauer die demenzkranke Marianne, die sich in den Anforderungen des Alltags verliert, die alles nur noch durch einen Nebel wahrnimmt und sich so wahnsinnig anstrengen muss, damit niemand etwas merkt. Geblieben ist ihr einzig die Erinnerung, hinschauen kann sie nur “dorthin, wo die Zeit klar bleibt und das, was geschehen ist, unverwischbar, wie in Bernstein”. Friederike ist geflohen aus ihrem Elternhaus, in dem es nur oberflächlich sauber war, hat Jakob geheiratet – ein Ruhepol von einem Mann – und sich abgenabelt. Doch Hermanns Tod wirbelt die Gefühle auf wie ein Sturm den Sand im Meer. Gudrun Seidenauer setzt einen dichten Deckel auf die Emotionen, die seit Jahren in Marianne und Friederike gären, lässt sie hochkochen und fängt gekonnt die funkelnden Scherben ein, als im entscheidenden Moment die erwartete Explosion erfolgt. Mit großem Einfühlungsvermögen und trittsicherem Sprachtalent widmet sie sich den Themen Demenz und Mutterliebe, dem Freiheitsdrang gegängelter Kinder und der vielleicht übertriebenen Macht, die wir unseren Erinnerungen zuschreiben. Aufgetrennte Tage ist ein klangvoller, zartsinniger, innerlicher Roman, voll Ehrlichkeit, Klarheit und geglückter Formulierungen. Dies ist ein Buch, in dem es keine falschen Töne gibt, stimmig reihen sich die Sätze aneinander wie Muscheln an einer Kette. Die Schriftstellerin, die in meiner Nähe im selben Dorf wie meine Mutter wohnt, findet mit Leichtigkeit hinein in ihre zwei unterschiedlichen Frauenfiguren, schafft herrliche Sprachbilder und erzählt eine lesenswerte, lebendige, gut konstruierte Geschichte, die an unser Inneres, an unser Menschsein rührt. Chapeau!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
für mich das bisher schönste Cover meiner 2011 gelesenen Bücher. Ein Bild, das Kraft und Gefühl ausstrahlt.
… fürs Hirn: die authentische Darstellung von Demenz; die scharfe Ironie, mit der einer so über die Maßen ordentlichen Frau das geregelte System zusammenbricht.
… fürs Herz: die tapfere Verzweiflung, mit der die beiden Frauen in diesem Buch sich an ihre jeweilige Ordnung klammern, die ihnen das Leben erträglich machen soll.
… fürs Gedächtnis: neben meiner allgemeinen Begeisterung für dieses Buch ist mir der spannende und originelle Einfall, dass Friederike eine Geliebte hat, am meisten im Gedächtnis haften geblieben.

Aufgetrennte Tage ist erschienen im Residenz Verlag (ISBN 9783701715145, 21,90 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

“… dass manchmal die Worte eines anderen genügen, damit man etwas ins Herz schließt”
Großvater Leonardo ist für Nicola ein Held, ein Krieger, ein Großer. Bei ihm und der Großmutter hat er viel Zeit verbracht, und jetzt, da er erwachsen ist und studiert, schmerzt es ihn, das Alter und das Asthma am Großvater nagen zu sehen. Leonardo stammt aus Barletta in Apulien, er ging zum Arbeiten mit seiner Familie nach Mailand – und kehrte nie zurück. Bewahrt hat er seine Heimat im Herzen, stets blieb seine Sprache der Dialekt, denn “Italienisch war für ihn eine Sprache, die morgens zusammen mit den Enkeln ins Haus kam und es abends mit ihnen verließ”. Nun ist nur noch ein letztes Bindeglied mit der Vergangenheit übrig: eine Wohnung am Meer, alt, verlassen, renovierungsbedürftig. Seit Jahrzehnten wird in der Familie Russo über diese Wohnung gestritten: “Es waren nicht die Gleichgültigkeit, die Nachlässigkeit, die harte Schale des Egoismus der Einzelnen, die eine gute Lösung verzögert hatten. Alle vier Geschwister dachten, das Wort des anderen sei Lüge, Opportunismus. Das hatte Spuren hinterlassen, hatte gegärt und schließlich zu Verbitterung geführt.” Und so spricht der Großvater endlich ein Machtwort: Die Wohnung wird verkauft. Drei Männer – Leonardo, sein Sohn Riccardo und dessen Sohn Nicola – brechen auf, um diese Mission zu erfüllen, um jeder für sich ein Kapitel ihres Lebens abzuschließen, und um sich unbeabsichtigt dabei ganz neu zu begegnen.

Dem italienischen Autor Marco Balzano, geboren in Mailand, ist mit Damals, am Meer, ein gefühlvolles, ausdrucksstarkes Stück Literatur gelungen, frei von Pathos und doch unter die Haut gehend. Er schreibt über das Gefühl der Heimatlosigkeit, das Verlorensein im eigenen Leben und in der eigenen Familie. Ich-Erzähler Nicola hat keinen Halt, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs als Lehrer durch und wird dafür von seinem Vater verachtet, keiner sieht ihn als wahren Mann und doch ist er schon müde wie einer. Als er erfährt, dass Vater und Großvater ans Meer aufbrechen, drängt er sich gegen den Willen Riccardos auf: “Ich entschied mich für die Reise, um ihn zu ärgern.” Doch er rechnet nicht damit, dass das gemeinsame Abschiednehmen ihn dem abweisenden Vater näher bringen wird. Am schlimmsten sind der desolate Zustand der Wohnung und ihr Verkauf für Leonardo, der sich mit dem Fortgang der Zeit und ihren Veränderungen abfinden muss. Barletta war seine natürliche Umgebung, in der er sich bewegte wie ein Fisch im Wasser, doch in seiner Abwesenheit hat das Dorf weitergemacht, sich gewandelt, hat ihn vergessen. Der Verfall der Wohnung am Meer ist ein Symbol für den Verfall der Familie – jener der Russos im Speziellen sowie der italienischen Familie im Allgemeinen. Die Kinder können wegen der schlechten Arbeitsbedingungen nicht aus dem Haus, die Eltern schuften und häufen dabei nur Frust an, die Großeltern verstehen den Wandel der Zeit nicht und bleiben auf der Strecke.

Es ist herrlich, wie pointiert und klug Marco Balzano drei Generationen anhand dreier Männer porträtiert. Sie dürfen wunderbar italienisch sein, sie schreien sich an, sie streiten – auch in der Öffentlichkeit – und fluchen, sie sind temperamentvoll und hitzig, aber gleichzeitig zurückhaltend, wenn es darum geht, Gefühle zu zeigen. Da werden dann Schultern geklopft und es wird ratlos geschwiegen. Das ist scharfsinnig, authentisch und sehr unterhaltsam. Ich fühle mich aufgehoben in diesen Schilderungen, ich sehe Großvater, Vater und Sohn vor mir wie in einem dieser klassischen italienischen Filme, die geprägt sind von unendlicher Melancholie und klangvollen Flüchen, die die Madonna inkludieren. Unten am Meer sind die Männer einigermaßen hilflos, und “dass keine Frau dabei war, die uns half, ruhig zu bleiben und nicht alles zu verpfuschen, empfanden wir bestimmt alle drei als Mangel”. Damals, am Meer ist eine intelligente, eindrucksvolle Erzählung über Verlust und die monotone Gleichgültigkeit, die der Alltag erzwingt, über Erinnerungen und ihren fraglichen Wahrheitsgehalt. Es ist ein Buch über das nostalgische Festhalten an der Kindheit, ein Buch über das Meer – grandios, mit Bedacht und Talent geschrieben. Bei Marco Balzano haben die Worte eines anderen genügt, damit ich Damals, am Meer ins Herz geschlossen habe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt…
… fürs Auge: ja! So, wie dieses Cover aussieht, ist dieses Buch: originell, ein wenig anders, voller Resignation und Hoffnung zugleich.
… fürs Hirn: das Bewusstsein, wie Entwurzelung sich über Generationen vererbt und wie Dialekt, Konventionen und Erinnerungen für immer verschwinden.
… fürs Herz: die Liebe, die diese drei Männer so offensichtlich füreinander empfinden und stets hinter Verächtlichkeit verstecken.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat zur Szene, in der Nicola alte Bocciakugeln findet, mit denen er früher am Meer gespielt hat: “Es handelte sich um Sand von vor zwanzig Jahren, er war noch nicht zerfallen und verschwunden. Das wären die richtigen Körnchen gewesen, die Atome, damit hätte ich die Sanduhr meiner Zeit füllen können. Mit der festgebackenen Erde meiner Kindheit.”

Damals, am Meer ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN 978-3888977268, 17,90 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Ein rasanter Ritt, der den Staub auf den Erinnerungen aufwirbelt
“Da war ich also. Angekommen. Ha, angekommen! Ich war in diese Stadt zurückgekehrt, die eine riesige Rumpelkammer ist, Matsch und Oliven, Staubschönheit, Abende auf der verlassenen Terrasse des Hotels Ilirija, Schwermetalle in der Luft, Kot und Kiefernholz, Katzen und glitschige Fischschuppen auf der öligen Helling und das Meer glatt gezogen bis Dezember, wenn die Südwestwinde wehen.” Es ist die dalmatinische Stadt Dubrovnik, die Dada mit diesen Worten so plastisch beschreibt, die sie schmecken und riechen lässt, ihre kroatische Heimat, gezeichnet vom Krieg und der Erholungsgier der Touristen. Die junge Frau – die im Alten Ort Rusty genannt wird wegen der roten Haare – hat ihr Studium in Zagreb abgebrochen und einen Mann ohne ein Wort verlassen, hat sich in den Zug gesetzt nach Hause. Hier lebt die Schwester und gibt Acht auf die Mutter, damit diese nicht zerfällt in ihrer Trauer um den Vater und den Bruder. Der Vater starb an den Folgen seiner Arbeit in der Zementfabrik, Dada denkt gern an ihn und seine wilde Leidenschaft für Cowboys: “Der Papagei imitierte das Pfeifen, mit dem uns Vater immer rief, und jagte uns damit Angst ein, denn Vater war streng. Erst später wurde er weicher, erinnere ich mich, als hätte er gewusst, dass zu nichts mehr Zeit bleibt außer zum Spielen.” Daniel dagegen – und das ist die Tragödie, die die zersplitterte Familie in ihren Fängen hält – hat sich mit 18 Jahren vor den Intercity Osijek-Zagreb-Split geworfen. Dada hat ihn geliebt, als Kind war sie mit ihm enger verbunden als mit der großen gehässigen Schwester. Sie waren die Cowboys, die gegen die Indianer – die Irokesen-Brüder vom Schienenclan – kämpften. Seit Jahren fragt sich Dada, was geschehen ist. Und will endlich eine Antwort.

Lebt wohl, Cowboys ist ein sprachmächtiger, gewaltiger, unendlich melancholischer Roman, manchmal so erfüllt von grandiosen Satzperlen, klingenden Metaphern, verblüffenden Formulierungen, dass es dem Leser nur so in den Ohren braust, manchmal so still und eindrucksvoll, wie es nur das Meer sein kann an einem bewegungslosen Tag. Olja Savičević ist eine Meisterin der Erzählkunst, eine Talentierte, eine Zauberin der Buchstaben. Sie beschwört den kleinen Ort Dubrovnik herauf in all seinen staubigen Farben, an dem es heiß ist und trotz der vielen Touristen gespenstisch menschenleer, an dem es dunkel ist wegen der verdrängten Geschichte und außerdem langweilig, erschreckend langweilig. Hier ist die eigenwillige Dada aufgewachsen, die xenophobische Züge zeigt, die sich nicht niederlassen kann und so viel Sehnsucht in sich trägt. Ein bisschen Zufriedenheit und Ruhe zu finden, wird ihr erschwert durch die Lücken, die das Schicksal in ihre Familie gerissen hat. Der Schwester mit der scharfen Zunge ist ihr beißender Sarkasmus ein Halt, der Mutter sind nur die Telenovelas und die Grabpflege geblieben. Dada hat sich entzogen, entfernt: “Ich habe sie jahrelang nicht berührt, dachte ich, und drückte ihr einen Kuss auf die kalte trockene Wange. Sie roch noch immer nach Talg. Es war merkwürdig, Ma zu berühren, dachte ich. Es war, als berührten sich zwei ohne Haut.” In diesen Tagen zu Hause denkt Dada nach über ihren Bruder, über sein Wesen, seinen Tod: “Er besaß diese Weichheit und Intensität eines ernsthaften Jungen. Aber eben, Zartheit ist auf unterschiedliche Arten anziehend, sie zieht auch die an, die sie zerstören wollen, manche Leute nervt sie einfach, ich weiß das, es gab viele, die ihn schlagen wollten. Anders zu sein, war schon immer ein ausgezeichneter Grund, um geschlagen zu werden.” Warum Daniel sich das Leben genommen hat, wissen die drei Frauen nicht – aber vom Herrn Professor könnte Dada es erfahren, von dem Mann, mit dem Daniel befreundet war, der im Ort als Pädophiler beschimpft und zusammengeschlagen wurde, der lange verschwunden war und jetzt – wie Rusty – wieder da ist.

Es gibt sie, jene Bücher, die lebendig sind, deren Düfte und Stimmungen, deren Figuren und Landschaften man wahrnehmen, angreifen, spüren kann, so eindringlich sind sie. Lebt wohl, Cowboys von Olja Savičević ist ein solches Buch. In einer wunderbar direkten, herrlich vulgären, rastlosen Sprache erzählt die junge kroatische Autorin von einer intensiv erlebten Kindheit und ihren Helden, vom Tod und den Schmerzen, die er auslöst, von Hitze, Krieg und dem Wilden Westen, der eigentlich überall sein kann. Das Mosaik aus Erinnerungen, Gegenwart, Notizen und Briefen ergibt ein faszinierendes Leseerlebnis voll bildhafter Eindrücke, sentimentaler Wahrheiten und augenzwinkernder Erkenntnisse über das Leben in all seiner Schmutzigkeit. Ich bin ganz verliebt in diesen tabulosen, mit Emotionen aufgeladenen Stil und empfinde manche Absätze als derart gut geschrieben, dass ich sie mehr als einmal lesen muss – und das als jemand, der schon von Berufswegen her eher dem Überfliegen zugeneigt ist. Nein, hier gibt es nichts zu überfliegen, im Gegenteil, aufsaugen muss man dieses Buch in all seinen Einzelheiten, in all seiner Traurigkeit und Klugheit. Dies ist ein klebriger, bitterer, starker Roman, gewichtig, poetisch und wunderschön. Sind andere Bücher Brot, dann ist Lebt wohl, Cowboys eine Torte. Mit Schokoladenglasur.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein eher unauffälliges, aber grafisch tolles Cover, mit einer schönen Schrift, die aussieht wie gewebt.
… fürs Hirn: die intelligenten Seitenhiebe auf die Gesellschaft, die angesichts von persönlichen Katastrophen in Häme verstummt.
… fürs Herz: alles. Die Erinnerungen an die Kindheit, an die Wildheit, die Trauer, der Tod, die Cowboys, das Gefühl, am Leben zu sein, während die anderen gestorben sind.
… fürs Gedächtnis: die originellen Beschreibungen. Ein Beispiel: “Marijana hat einen langen Kopf, auf Pferdeart schön, man kann ja nicht sagen, dass Pferde nicht schön sind, doch ihr Körper ist riesig, er quillt über, wenn er stillsteht, er verursacht Ebbe und Flut, wenn er sich bewegt.”

Lebt wohl, Cowboys ist erschienen bei Voland & Quist (ISBN 978-3-938424-81-0, 19,90 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

“Jack is five. He lives in a single, locked room with his Ma”
Die Welt von Jack misst 11 mal 11 Fuß und seine Freunde sind Tisch, Teppich, die Eierschalenschlange und Dora aus dem Fernsehen. Seine Tage sind klar strukturiert, zum Frühstück gibt es abgezählte Cornflakes, einmal in der Woche wird gebadet, einmal geputzt. Mit seiner Ma denkt er sich Reime, Spiele und Lieder aus zum Zeitvertreib. Davon brauchen sie sehr viel in room: Jack ist zusammen mit seiner Ma hier eingesperrt. Eine Tür mit unenträselbarem Code, unzerstörbare Wände und ein kleines Deckenlicht: Es ist das perfekte Gefängnis. Was sich außerhalb von room befindet, weiß Jack nicht – bis seine Ma dem neugierigen Fünfjährigen plötzlich verwirrende Geschichten erzählt, die von einer Großmutter, von Vogelgezwitscher und Sternen handeln und die ihn völlig verstören: “My head’s going to burst from all the new things I have to believe.” Jacks Ma schmiedet einen Plan, um ihrem Peiniger, der sie entführt hat, endlich zu entkommen. Doch während sie sich seit sieben Jahren nach einem freien Leben, nach Sonne, frischer Luft und ihrer Familie sehnt, ist room für Jack alles, was er kennt, er ist hier glücklich …

Emma Donoghues außerordentlich spannender Roman Room stand 2008 auf der Shortlist für den Man Booker Prize – und hätte diesen Preis auf jeden Fall verdient. Denn dieses Buch ist nicht nur fesselnd, emotional und originell, sondern auch herausragend erdacht und mit viel Liebe zum Detail ausgearbeitet. Der kleine Jack ist kreativ, lustig und höflich – und lebt in einer Extremsituation, wie man sie sich grausamer kaum vorstellen mag. Der Gedanke, dass er und seine Mutter gefangen sind in einer Art Gartencontainer, umgeben von nichtsahnenden Nachbarn und dem normalen Leben, an dem sie nicht teilhaben können, lässt einen beim Lesen manchmal nach Luft ringen. Sie sind der Willkür von “Old Nick” ausgeliefert, der fast jede Nacht kommt und von dem sie in Sachen Nahrung, Strom und Wasser abhängig sind. Jacks Mutter gibt sich alle Mühe, Jack die Tücken der Sprache zu erklären, viel Abwechslung in seinen beengten Alltag zu bringen und seine Fragen zu beantworten – doch ihre Mittel dafür sind arg begrenzt. Was geschieht mit einem solchen Kind, wenn es zum ersten Mal die Weite des Himmels, andere Menschen, einen Hund, ein Einkaufszentrum sieht? Was passiert, wenn es den Paparazzi vor die Linse kommt, wenn es Bakterien ausgesetzt wird, der Sonne, Sarkasmus? Ich möchte nicht spoilern und nicht zu viel vom Inhalt verraten, nur so viel sei gesagt: Ich ziehe den Hut vor Emma Donoghues Einfallsreichtum und Einfühlungsvermögen. Room ist ein absoluter Pageturner, spannend und mitreißend von der ersten bis zur letzten Seite.

Die Parallelen zu den Fällen von Natascha Kampusch und der Tochter von Fritz P., hierzulande in den Medien dominant, sind natürlich offensichtlich. In der Tat hat sich Emma Donoghue von Felix Fritzl, der in Gefangenschaft geboren wurde und mit fünf Jahren die Außenwelt betrat, inspirieren lassen. Das Entsetzen über ein derart eingeschränktes Leben, wie es Jack und seine Mutter führen, der Medienrummel, die Auswirkungen einer solchen Gefangenschaft – all das hat Emma Donoghue auf kluge, lesenswerte und berührende Weise verarbeitet. Jack und seine Ma haben eine überaus enge Bindung, in room können sie ohneinander nicht existieren: “It’s weird to have something that’s mine-not-Ma’s. Everything else is both of ours. Also when I tell her what I’m thinking and she tells me what she’s thinking, our each ideas jump into our other’s head, like coloring blue crayon on top of yellow that makes green.” Seit Langem – genauer gesagt seit Little Bee im November 2010 – hat mich kein Buch so bewegt und beschäftigt wie Room. Ich kann nicht aufhören zu lesen, und wenn ich es doch tun muss, denke ich dennoch ständig an Jack und seine Geschichte. Ich fühle mit, ich fiebere mit, ich entwickle eine tiefe Sympathie für den tapferen Fünfjährigen, ich kämpfe mit meiner Angst vor einer solchen schrecklichen Gefangenschaft, ich schmunzle über Jacks schlaue Beobachtungen der ihm fremden Welt und bin am Ende von Room ganz erfüllt von diesem wunderbaren Leseerlebnis. Für mich das bisher beste Buch des Jahres. “This book will break your heart”, schrieb die Irish Times – und hat recht damit.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein passendes, etwas effektheischendes Cover, tolles Türkis.
… fürs Hirn: die Auseinandersetzung mit der eigenen Angst, so leben zu müssen, und die mahnende Erinnerung an die Hyänenhaftigkeit der Presse.
… fürs Herz: beinahe jedes Detail über Jacks Leben ist herzzerreißend.
… fürs Gedächtnis: dieses ganze faszinierende und empfehlenswerte Buch. LESEN!

9

Für Gourmets: 5 Sterne

Der Traum vom Verschwinden und die Realität
“Der tote Bahndamm war das Beste, was es in Villeblevin gab. Während der Sommerferien glich ihm der ganze Ort. Alles war ausgestorben, öde und leer. Beamte und Bauern waren dageblieben, alle anderen aber verreist ans Meer. Es schien nur zwei Kinder in Villeblevin zu geben, Maurice und mich.” Kein Wunder, dass die beiden Jungen an der “Maschine des großen Verschwindens” bauen. Doch an dem Tag im Jahr 1960, an dem sie zum Einsatz kommt, geschieht ein schwerer Autounfall, bei dem der Literat und Nobelpreisträger Albert Camus ums Leben kommt. Nichts ist nach diesem Tag so wie zuvor – und jahrzehntelang haben die Schulfreunde keinen Kontakt. Nun ist Raymond alt und versucht gerade, sich von einer Herzerkrankung und dem Tod seiner geliebten Frau Veronique zu erholen, als ihm ein Brief von Maurice ins Haus flattert. Maurice, der “Junge, der mit Kopf und Kragen in Wunderdingen steckte und so stolz auf seine hellblauen Schuhe war”, Maurice, der Raymond verraten hat. In seinen Briefen, von denen weitere folgen, rekonstruiert er die Ereignisse des Unfalltages – und fordert Raymond heraus, sich endlich der Vergangenheit zu stellen.

Im Zusammenhang mit allem Französischem wird gern von Leichtigkeit und Esprit gesprochen – Mirko Bonnés Roman Wie wir verschwinden besitzt davon allerhand. Der preisgekrönte deutsche Autor schreibt in einem angenehmen, intelligenten Plauderton, er kreiert einen schrullig-freundlichen Protagonisten und führt geschickt die verschiedenen Handlungsstränge zusammen. In diesem Buch ist demnach alles ganz einfach so, wie es sein soll. Es geht darin um die Erinnerungen an eine Kinderfreundschaft, um Wehmut, Eifersucht und die Frage, ob man die Menschen in seinem Leben tatsächlich so gut kennen kann, wie man glaubt. Zudem verbindet Mirko Bonné die Ereignisse rund um Raymond und Maurice mit dem Unfalltod von Albert Camus, den er kapitelweise ganz nah, glaubhaft und detailreich, aber dennoch fiktiv nacherzählt.

38 Jahre nach dem Unglück liegt Maurice im Sterben – und auch wenn Raymond nichts mit ihm zu tun haben will, wühlt ihn die unerwartete Kontaktaufnahme sehr auf. Überhaupt macht es ihm das Schicksal im Alter nicht leicht: Veronique fehlt ihm, seine erwachsenen Töchter Penelope und Jeanne kämpfen mit der Suche nach dem Glück und Ehekrisen, seine Nachbarin geht ihm auf die Nerven. Aber Mirko Bonné hat bei allen Herausforderungen auch positive Überraschungen für seinen Helden parat und führt ihn einem versöhnlichen Ende entgegen. Sprachlich brilliert er mit einem ruhigen, steten Erzählfluss, inhaltlich mit Lebensklugheit und Witz. Wie wir verschwinden weckt die Sehnsucht nach der eigenen Kindheit und ihren Abenteuern und zeigt, dass einem gerade die zerbrochenen Freundschaften oft am längsten im Gedächtnis bleiben. Trotz Sentimentalität und der Thematisierung des Todes ist dieses Buch lebensfroh, weise, aber nicht angeberisch. Ein Highlight!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ein Cover, das das Verschwinden ganz bildlich umsetzt mit einem unendlich weiten Horizont.
… fürs Hirn: das fiktive Erleben von Albert Camus’ letzten Minuten.
… fürs Herz: die Trauer Raymonds um seine Frau, der er sein ganzes Leben lang treu war.
… fürs Gedächtnis: das Gefühl, wie es war, ein Kind zu sein und große Träume zu haben.