Für Gourmets: 5 Sterne

Der alte Traum vom unbeschwerten Leben
“Geld, Gott und Dreck, der Dreiklang des zwanzigsten Jahrhunderts, das gerade begonnen hatte” – dem will August Engelhardt entkommen. Zuhause in Deutschland als Nacktgeher und Fruchtesser verunglimpft und verurteilt, macht er sich auf die Suche nach einem Ort, an dem er nach seinen Vorstellungen leben kann, reist nach Indien, verweilt in der Kommune des Malers Diefenbach und gelangt schließlich auf die Südseeinsel Kabakon. Hier will er sich nur von Kokosnüssen, Sonnenlicht und der Weisheit seiner vielen Bücher ernähren. Den deutschen Kolonialherren und Missionaren der Nachbarinseln ist der nackte Verrückte, den die Eingeborenen überraschenderweise nicht töten, ein Dorn im Auge. Doch August ist ebenso harmlos wie glücklich. Dann aber tauchen seine Freunde Walter und Wilhelm auf, im Schlepptau eine Horde deutscher Sonnenanbeter, die August als eine Art Guru betrachten, und Anna, Augusts heimliche Liebe.

Marc Buhl hat einen fiktiven Roman über eine reale Person geschrieben: den Frühhippie August Engelhardt, Vegetarier und überzeugter Nudist, der sich im Jahr 1903 auf einen Strand unter Palmen setzte und anfing, sein Leben zu genießen. Er war ein Aussteiger, ein Glückssucher, der sich mit dem begnügte, was die Natur ihm bot, ohne ein Tier zu töten. Dem kalten Deutschland mit seinen Zwängen und Verboten, mit dem aufkeimenden Antisemitismus entflohen, ist er für die Einheimischen Kabakons eine Kuriosität: Er ist weiß, aber er hält sich nicht für etwas Besseres. Es findet eine zurückhaltende Annäherung statt zwischen August und Häuptling Kabua, auch mit Pater Joseph freundet sich August an. Der Pater hat seine missionarischen Illusionen längst verloren: “(…) aber was heißt schon Zivilisation: ein Postamt, eine Krankenstation, Beamte im Fieber, Pflanzer, im Herzen Geld und Zwiebeln im Atem, ein paar Kirchenleute wie er, die mehr dem Gekreuzigten ähnelten als dem Auferstandenen.” Und so könnte das Leben ruhig und erfüllt bleiben für August auf seiner Insel – doch seinem ersten Besucher, dem Musiker Max Lützow, folgen bald weitere. Sie machen August zum Gründer des Sonnenordens und sie bringen Missgunst, Rassendenken und den Tod mit sich.

Das Paradies des August Engelhardt ist ein ungemein unterhaltsames, lebenskluges und dazu noch herrlich gut geschriebenes Buch. Marc Buhl versteht es ausgezeichnet, die Eckdaten eines echten Lebens mit Fantasie, großem Einfühlungsvermögen und schriftstellerischem Talent zu einem glaubhaften Roman zu kombinieren. Gut recherchierte Details lassen die Südseeinsel, das Leben der Missionare, die Sprache der Einheimischen, das Rauschen der Wellen und den Geschmack von Kokoswasser lebendig werden. So sehr, dass man das Gefühl hat, ganz nah dran zu sein am sympathischen, friedfertigen August Engelhardt und der Palme, auf der er sitzt. Dieser Autor überzeugt mich mit Lebensweisheit, Ironie und ausbalancierten Formulierungen: “Die Nuss hatte dem Freund den Schädel zerschlagen, den zarten Knochen, eine brüchige Schale, viel Kraft hatte das nicht gekostet, im Gegenteil, viel zu schnell brachen die Schädel der Menschen, ganz anders als die der Haie, bei denen brauchte es Wut und Angst, bei den Menschen genügte auch eine kleine Enttäuschung.” Die Ankunft der anderen Aussteiger bereitet dem Inselglück von August ein jähes Ende: Er sieht sich konfrontiert mit all der menschlichen Niedertracht, die er zurückgelassen hat, und mit seinen Gefühlen für Anna, die Geliebte seines Freundes Walter. Wie die Dinge ihren logischen und gefährlichen Lauf nehmen, schildert Marc Buhl eindringlich und absolut lesenswert: Dies ist ein Roman über den ewigen Fluch der Menschen, nie und nirgends miteinander in Frieden leben zu können. Begeistert bin ich vom fulminanten, tragischen, stimmigen Ende – und von diesem ganzen wunderbaren Buch (sowie von der schönen Prägung, die sich unter dem Schutzumschlag versteckt)!

Lieblingszitat: “(…) aber Lesen ist vielmehr ein Hören, ein verinnerlichtes Hören eben, eine Rezitation der Stimme des Autors, der man lauscht. Über Welten und Zeiten hinweg konserviert sich die Stimme auf dem Papier, mal ein Flüstern, mal ein Stöhnen, eine Klage, Dozieren, Geschrei, aber immer Klang, immer ist da einer, der spricht, und einer, der lauscht, verbunden in einer seltsamen Intimität, und wie alle Ohrenkunst braucht es Zeit.”

Das Paradies des August Engelhardt ist erschienen im Eichborn Verlag (ISBN 978-3821861487, 18,95 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

“Wer mit einem Fuß in der Vergangenheit und dem anderen in der Zukunft steht, der scheißt auf die Gegenwart”
“Was für ein Leben erwartet einen, der seine Mutter getötet hat?” Das fragt sich der 28-jährige James, der darüber nachdenkt, seine demenzkranke Mutter von ihrem Leid zu erlösen. Der Standpunkt der Krankenschwester war stets klar: Sie wollte lieber sterben als vor sich hin zu vegetieren. Jetzt ist sie 56, lebt im Heim und hat vergessen, wie das geht: sprechen, eine Toilette benutzen, leben. Und James fühlt sich schuldig, weil er sie vom Gedanken, Selbstmord zu begehen, abgebracht hat. Kann er, muss er seine Mutter nun töten? Er fliegt von New York, wo er als Grußkartentexter arbeitet, in seine Heimatstadt Buffalo und versucht einen klaren Entschluss zu fassen in Bezug auf Euthanasie. Aber: “Meine Angst davor, einen Rückzieher zu machen, ist nicht so groß wie die Angst, keinen zu machen.” Er besucht seine Mutter, die ihn nicht erkennt, hofft auf ein Zeichen: “Hat meine Anwesenheit irgendeine spürbare Wirkung auf sie? Unmöglich zu sagen. Trotzdem sitze ich neben ihr und tue so, als wäre ich erwachsen.” Während er alte Freunde aus seinen rauschhaften Zeiten wiedertrifft und verrückte Nächte mit der Malerin Corinne verbringt, versucht James eine Entscheidung zu fällen, die unmöglich zu treffen ist.

Mit Der bisher beste Tag meines Lebens hat Greg Ames einen lebensklugen, witzigen und überzeugenden Roman geschrieben, der geprägt ist vom Gefühl des Verlusts. Protagonist James hat es seiner Mutter nicht leicht gemacht, hat getrunken und rebelliert, ihren Rat ignoriert. Jetzt, wo er sich seiner Liebe für sie erinnert, ist es zu spät – sie weiß nicht mehr, wer er ist. Und James steht vor der Frage, ob ein Mord aus Liebe dennoch ein Mord ist. In starken und einprägsamen Bildern beschreibt Greg Ames das Leben eines Demenzkranken, macht es durch Worte erlebbar: “Ohne Gedächtnis hätte ich nichts. Ich wüsste nicht, wie ich von diesem Stuhl aufstehen sollte. Ich könnte keine Zusammenhänge erkennen. Wie bin ich hierher gekommen? Warum bin ich hier? Wie funktionieren meine Hände und mein Mund?” Es ist faszinierend, wie der Autor, der selbst aus Buffalo stammt, sich hineinfühlt in einen Menschen, der Alzheimer hat, dem alles auseinanderfällt, der sich sprachlich und motorisch nur noch gebärden kann wie ein Kind. Gleichzeitig geht er auf die Trauer und die Angst der Angehörigen ein – Ehemann, Sohn und Tochter. Man kann sich als Leser gut vorstellen, wie schwierig die Situation für alle Beteiligten ist. Und dann fragt Greg Ames ganz offen und unsentimental: Ist aktive Sterbehilfe die Lösung?

Der bisher beste Tag meines Lebens hat mich sehr berührt. Der junge James, der viel falsch gemacht und Probleme mit Nähe hat, ist ein sympathischer und glaubwürdiger Held. Durch eine “Oral History”, in der verschiedene Persönlichkeiten Buffalos zu Wort kommen, zeigt Greg Ames seine Stadt in all ihren Facetten und lässt sie auf originelle Weise lebendig werden. Dies ist ein Roman über Würde, Menschlichkeit und Loslassen, über Erinnerungen und den quälenden Schmerz derer, die diese Erinnerungen bewahren. Trotz dieser schwergewichtigen Themen drückt das Buch nicht auf die Tränendrüse, im Gegenteil, es punktet mit einer trotzigen Heiterkeit und perfekt formulierten Passagen: “Lavendelsäckchen der Schlaflosigkeit unterstrichen ihre Augen”, “Unsere alte Freundschaft ist verwischt wie von einer Mauer geschrubbte Graffiti” oder “Die Gespräche summen um mich herum wie eine Wolke leuchtend grüner Fliegen. Ab und zu landet eine auf meiner Nase.” Begeistert bin ich auch vom meisterhaft gelösten und unerwarteten Ende. Ich freue mich außerdem, den Steidl-Verlag entdeckt zu haben, der noch die eine oder andere literarische Perle im Programm glitzern hat. Der bisher beste Tag meines Lebens ist ein wunderbares, respektvolles und gefühlvolles Buch, rumdum gelungen.

Der bisher beste Tag meines Lebens ist erschienen im Steidl Verlag (ISBN 978-3-86930-178-5, 18 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Vom Davonlaufen und Ankommen
“Die Taschen packen. In die Dschungelschuhe schlüpfen, in den Zug steigen oder ins Flugzeug. Sitzen und die Augen geschlossen halten. Es ist die einzige Macht, die ich kenne: zu verschwinden.” Seit 10 Jahren ist Anna unterwegs in der Welt, hält sich nie lange auf an einem Ort und lässt nicht zu, dass ein Mensch ihr ans Herz wächst. Doch als sie in Kairo den Zeichner Paul trifft, kann sie nicht verhindern, dass er ihr näher kommt als alle anderen. Mit ihm gemeinsam versucht sie das Geheimnis ihrer Familie zu ergründen: Warum und wohin ist ihr großer Bruder Franjo vor 15 Jahren verschwunden? Als Anna die quirlige Marjana kennenlernt, ist Paul längst fort. Und ihr wird klar, dass sie ihn nicht hätte gehen lassen dürfen …

Kopf aus den Wolken ist das Porträt einer Getriebenen, die sich der Flucht verschrieben hat und nicht mehr anhalten kann, 10 Jahre lang. Der lieblose Vater ist es, vor dem Anna flieht, die stumme Mutter, das Rätsel um den über alles geliebten, verschollenen Bruder. Die Liebe zu Paul spült alle verdrängten Gefühle in Anna frei, mit seinem Zeichenstift hält er auf Papier fest, was sie nicht sagen kann. Erst als sie Paul verloren hat, erkennt Anna, dass sie zurückgehen muss, um voranzukommen, und sie folgt seiner Spur nach New York, Hamburg, Berlin, um schließlich dort anzukommen, wo alles begonnen hat: zuhause in Wien. Und es gelint Ruth Cerha tatsächlich, mich zu überraschen, als das Geheimnis von Annas Familie letztlich gelüftet wird – ich bin begeistert und fasziniert.

Ich mag das Ruppige an Ruth Cerhas Schreibstil, das Kantige, Unliebsame und vor allem die ausgezeichneten Formulierungen: “Seine lange, schmale Gestalt entfernte sich so schnell, dass ich es kaum begriff, aber der Anblick seiner nackten Füße und der baumelnden Schuhe brannte mir in jede einzelne meiner Zellen ein winzig kleines Loch.” Es ist, als hätte Ruth Cerha ihre Sätze wie eine Bildhauerin aus einem Stein gebrochen und dabei ein raues, aber wunderschönes Gebilde geschaffen. Kopf aus den Wolken ist herausragend gut geschrieben, ein trauriges und doch lebensbejahendes Buch, ein Buch wie ein Traum, gleichzeitig leichtfüßig und tiefgründig.

Für Gourmets: 5 Sterne

Ein stimmungsvolles Buch über eine raue Gegend
Der Krieg hat Jannis als Waisen zurückgelassen, und Paul hat ihn zu seiner Familie nach Vidtoft direkt an der Grenze zu Dänemark geschickt, wo Jannis bei Pauls Frau Kirsten und Sohn Nils bleiben darf. Er hilft bei der Arbeit im Gasthaus Grenzkrug und wartet wie die anderen auf Pauls Rückkehr. Der wird eines Tages ausgespuckt vom Krieg, halbwegs unversehrt, und zwischen ihm und Jannis entsteht eine besondere, enge Beziehung, die sich vor allem durch die gemeinsame Leidenschaft für das Watt und seine versunkenen Geheimnisse auszeichnet: Schon lange träumt Paul davon, im Schlamm nach den Resten der mystischen Stadt Rungholdt zu suchen, und gemeinsam versuchen Jannis und Paul, dem Meer in den wenigen Stunden, in denen es bei Ebbe möglich ist, Fundstücke aus einer längst vergangenen Zeit abzuringen. Wenig begeistert davon ist Kirsten, die sich mit dem Gasthaus im Stich gelassen fühlt. Und als Jahrzehnte später Schnee von nie gekanntem Ausmaß über Vidtoft niederfällt, kommt zwischen allen Beteiligten endlich zur Sprache, was immer ungesagt blieb.

Schneetage ist ein unglaublich atmosphärisches Buch. Jan Christophersen porträtiert eine Landschaft, die mir fremd ist, er zeichnet das Leben am Rande des Festlandes ab, dort, wo das Meer sich unerbittlich und mit der Ruhe derer, die ewig Zeit haben, Stück für Stück ausdehnt und dem Menschen wieder abnimmt, was er sich aufgebaut hat. Das Watt ist faszinierend, nicht zuletzt aufgrund der Suche von Paul und Jannis nach Überbleibseln aus der Vergangenheit, die beweisen, dass hier einmal Leben war, das inzwischen weggespült wurde und unwiderbringlich verloren ist. Paul steigert sich in diese Suche hinein und verliert sich darin, der elternlose Jannis folgt ihm und bewundert ihn, erkennt aber durchaus auch die Gefahr für die ganze Familie. Im Buch wechselt die Gegenwart, die Schneekatastrophe in den 1970er-Jahren, mit der Vergangenheit, der Zeit gleich nach dem Krieg, als Jannis noch ein Kind war. Misstrauen herrschte damals an dieser gottverlassenen Grenze zwischen Deutschland und Dänemark, die Wunden waren noch frisch, von Verrat und Opportunismus war die Rede, die Nachbarn trauten einander nicht mehr. Und in dieser Zeit bemühten sich Kirsten und Paul, wieder Schwung in die Geschäfte im Gasthaus zu bringen, neu zu beginnen.

Es mag sein, dass Schneetage auf manche Leser langweilig wirkt, denn man muss sich einfinden in diese ganz eigene Stimmung, die stark geprägt ist von der unwirtlichen Umgebung und von den Naturgewalten. Dies ist ein Roman über alles, was verloren geht, und die fast schon panische Suche nach etwas, das bleibt. Um Zusammenhalt geht es, um Familie, um das Vatersein, aber auch um die Bedeutungslosigkeit des Menschen im Angesicht der Zeit. Ich bin begeistert von diesem vielschichtigen Buch, das mit einem würdevollen Schluss aufwartet, vermisse es, als ich es ausgelesen habe, und merke, dass es noch lange nachwirkt: Das ist das größte Kompliment überhaupt.

Für Gourmets: 5 Sterne

Ein Buch wie eine Laterne, ein Streicheln, eine Axt
“Most days I wish I was a British pound coin instead of an African girl.” So beginnt Little Bees Erzählung und für ihren Wunsch hat sie allen Grund: Im Gegensatz zu einem Pfund will niemand ein illegales afrikanisches Mädchen im Inselkönigreich. Und genau das ist die 16-jährige Little Bee nach ihrer Freilassung aus dem “detention center”, in dem sie seit nach ihrer Flucht aus Nigerien und ihrer Ankunft in England zwei Jahre verbracht hat. Sie ist Spezialistin geworden im Aufspüren von Möglichkeiten, sich umzubringen, jederzeit und an jedem Ort, sollte es plötzlich nötig sein. Es gibt nur zwei Menschen, die sie in Großbritannien kennt: Sarah und Andrew. Sie trafen sich einst an einem Strand in Nigerien, und das Schicksal hat sie untrennbar miteinander verbunden. Als Little Bee bei Sarah auftaucht, wird diese von den damaligen Ereignissen eingeholt. Und Andrew ist plötzlich tot.

Es ist ein vielzitierter Satz von Kafka, den ich hier bemühen will: Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Ein solches Buch ist Little Bee. Es ist eindrucksvoll, zermürbend, erschütternd und traurig – ein Buch, das man nicht so schnell vergisst, nach Möglichkeit nie. Aus diesem Grund habe ich mich nicht an die Bitte im Klappentext gehalten, nichts über den Inhalt zu verraten: Zwar halte ich das für einen originellen Marketingtrick (der zumindest bei mir funktioniert hat, ich wusste nicht, was mich erwartete), aber dieser Roman ist einfach zu schön und zu wertvoll, um über seine Bedeutung zu schweigen. Im Gegenteil, mögen alle wissen, worum es geht, und sich angezogen fühlen, damit sie Little Bee lesen, darüber sprechen, es weiterempfehlen und verschenken. Dies ist ein Roman über Intoleranz und Grausamkeit, über Fremdenhass und die Heimatlosigkeit von Flüchtlingen, über Schuld und Egoismus. Dies ist ein wichtiger Roman, der herausstechen sollte aus der Masse der Publikationen.

“Everything was happiness and singing when I was a little girl. There was plenty of time for it. We had no hurry. We did not have electricity or fresh water or sadness either, because none of these had been connected to our village yet.” Es ist die Gier, die Little Bees Leben zerstört, die Gier nach Öl – das ihr in der Form von Benzin in England wieder begegnet. Dort ist das Leben trist für einen illegalen Flüchtling wie sie: “I was thinking, if the head of the United Nations telephoned one morning and said, Greetings, Little Bee, to you falls the great honor of designing a national flag for all the world’s refugees, then the flag I would make would be gray.” Diese schmerzhafte Geschichte wird aus der Perspektive von Little Bee und jener von Sarah erzählt, die mit dem Selbstmord ihres Mannes einen Albtraum erlebt: “A week ago I had been a successful working mother. Now I was sitting at my husband’s funeral, flanked by a superhero and a Nigerian refugee.” Ihr vierjähriger Sohn Charlie weigert sich, sein Batman-Kostüm auszuziehen: Nichts hätte er dann der grausamen Welt mehr entgegenzusetzen. Und Sarah beginnt einen aussichtslosen Kampf: Sie will Little Bee helfen.

Was würdest du tun, um das Leben eines Fremden zu retten? Das ist die Frage, die Chris Cleave dem Leser stellt. Wo hört das Wegschauen auf, wo fängt die Verantwortung eines jeden von uns an? Little Bee ist ein Buch über Menschlichkeit, ein leuchtendes Buch, von dem ich wünschte, alle könnten es lesen, besonders die Ausländerbespucker und Flüchtlingshasser, damit sie für einen Moment spürten, wie es sich anfühlen muss, heimatlos zu sein, allein, voller Angst und verloren. Mit dieser aufschreckenden und anrührenden Geschichte sticht der Autor jedem, der ein Herz hat, mitten hinein. Er erzählt auf direkte Weise von Terror und Trauer, findet dabei wunderschöne Worte und legt jenen tragischen Humor über seinen Bericht, der von menschlicher Größe zeugt. Ich bin begeistert, beeindruckt, berührt, ich verneige mich. Mein Buch des Jahres 2010.

Lieblingszitat: If your face is swollen from the severe beatings of life, smile and pretend to be a fat man. (Nigerian proverb)

Für Gourmets: 5 Sterne

Von der Traurigkeit des Schweigens
Sie sind ihm ein Rätsel: die Erwachsenen. Jeder von ihnen hat einen unsichtbaren Zettel auf der Stirn, aber nicht alle sind lesbar. Und so behilft sich der 12-jährige Tommy seines mp3-Players, um den Gesprächen rund um ihn Herr zu werden: Er nimmt auf, was gesagt wird, um es besser deuten zu können. Und als er sich bei einer Hochzeit unter dem Tisch versteckt, hört er etwas, das sein Leben auf den Kopf stellt. “Groß zu werden ist, als stapfe man einen Hügel hoch mit einem riesigen Schild um den Hals, auf dem steht: Vergiss.” Aber Tommy will sich erinnern. Und deshalb muss er 10 Dinge über seine Mutter herausfinden, die gestorben ist. Helfen könnten ihm dabei vielleicht sein Vater, Herzchirurg Juan, und seine Stiefmutter Alma – wären sie nicht selbst mit ihrer wackeligen Ehe beschäftigt und all dem, was unausgesprochen ist …

Drei Menschen kommen in Der Rest ist Schweigen der chilenischen Schriftstellerin Carla Guelfenbein zu Wort: Tommy, Juan und Alma. Während der herzkranke Tommy in kindlich-weisen Aktionen versucht, die Wahrheit über seine Mutter Soledad aus dem Geplapper der Erwachsenen herauszufiltern, entfernen sich Alma und Juan immer weiter voneinander und sind dabei so sehr auf die Distanz zwischen ihnen konzentriert, dass ihnen entgeht, was sich direkt vor ihren Augen abspielt. Trotz des häufigen Wechsels zwischen drei Ich-Erzählern kann man der Geschichte als Leser gut folgen und weiß stets, wer spricht. Und bezüglich Sprache: Sie ist wunderbar geformt in diesem Roman, ohne viele Schnörkel und sehr melancholisch, in berührende Sätze und eindringliche Formulierungen gegossen – ein absoluter Lesegenuss.

Carla Guelfenbein hat mit Der Rest ist Schweigen ein wunderschönes und unsagbar trauriges Buch geschrieben, das – und man verzeihe mir diese Wendung – ins Herz trifft. Sie geht mit ihren drei Protagonisten beinahe zärtlich um, schreckt aber nicht davor zurück, sie ins Unglück zu werfen. Kein Wort ist zu viel in diesem Buch, das dem Schweigen Ausdruck verleiht und ihm so viel Macht gibt, dass nur noch Taten sprechen können. In alle drei Figuren hat sich Carla Guelfenbein hineingefühlt, und sie ermöglicht das auch dem Leser. Wer auf der Suche nach einer eindringlichen, lesenswerten und anrührenden Geschichte ist, wird hier fündig. Ich bin begeistert, chapeau!

Der Rest ist Schweigen ist erschienen im S. Fischer Verlag (ISBN 978-3100278227, 19,95 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Melancholie erster Klasse
Eine Stadt, namenlos, in einem Land, über das sich ein blutiger Bürgerkrieg gewälzt hat: Hier lebt Norma, die seit 10 Jahren – seit der Krieg zu Ende ist – auf ein Lebenszeichen ihres Mannes Rey wartet, der aus dem Dschungel nicht nach Hause gekommen ist. Rey war Ethnobotaniker, und obwohl sein Name auf der Schwarzen Liste steht, glaubt Norma nicht, dass er zu den Untergrundkämpfern der IL gehört hat, die sich gegen die Regierung aufgelehnt haben. Aber was weiß sie wirklich von Rey? Diese quälende Frage muss sich Norma stellen, als der kleine Victor auftaucht: Er kommt aus dem Dschungel und hat eine Liste bei sich mit den Namen jener, die verschwunden sind. Er kommt damit zu Norma, weil sie die Radiosendung Lost City Radio moderiert, weil sie jeden Sonntag nach Vermissten sucht und weil sie “die Mutter eines imaginären Volks verschwundener Menschen” ist. Norma, von der Einsamkeit und der Sehnsucht gezeichnet, nimmt Victor bei sich auf und geht mit ihm auf eine Suche, die ihr endlich Aufschluss geben soll darüber, was geschehen ist. Denn auf Victors Liste steht auch Reys Name.

Lost City Radio ist ein unvergleichlich schönes Buch über Schmerz und Gewalt, über das Sehnen nach einem geliebten Menschen und über die Geheimnisse, die jeder in sich verbirgt. Daniel Alarcón, gerade einmal 33 Jahre alt, verlegt die Geschichte an einen namenlosen Ort und gibt ihr dadurch den Stellenwert einer Parabel, denn was sich in diesem Buch ereignet, kann so oder ähnlich überall geschehen auf dieser Welt, wo Krieg herrscht, Menschen einander belügen und verlieren, wo sie Angst haben vor der Obrigkeit und vor den Nachbarn. “Früher hatte jede Stadt einen Namen gehabt, einen plumpen, tausend Jahre alten Namen, geerbt von Gott weiß welchem ausgestorbenen Volk, Namen mit harten Konsonanten, die klangen, als riebe Stein gegen Stein.” Norma ist eine ganz besondere Hauptfigur: Sie gibt den vermissten Menschen eine Stimme, sie wird vom Volk verehrt – und ist doch selbst ganz verloren in einem Strudel aus Hoffnung und Alleinsein, sie erstickt fast an der Ungewissheit. “Reys Abwesenheit klebte an ihr wie eine ansteckende Krankheit.” Und dann bricht plötzlich alles auf, die Vergangenheit wird sichtbar – und wie schlau Daniel Alarcón diesen Roman konstruiert hat, ist tatsächlich bewundernswert.

Jeweils aus ihrer Sicht erzählen Norma, Victor, Rey und der Lehrer Manau, der in Victors Mutter Adela verliebt war, von unsicheren Zeiten, von Folter, Verrat und Tod, von Liebe und der Macht der Erinnerung. Ihre Perspektiven sind ineinander verwoben und zeitenübergreifend, es gibt Zeitsprünge mitten in den Absätzen, die aber gut zusammengesetzt und daher nicht verwirrend sind, sondern vielmehr wirken wie spannende Filmschnitte. Dies ist ein bewegendes, ein trauriges, ein weises Buch, inhaltlich ebenso ausgezeichnet wie sprachlich. Es kommt selten vor, dass ich mir wünsche, es möge mehr Romane geben wie diesen. Volle Punktezahl, bedingungslose Empfehlung!

Lost City Radio ist erschienen im Verlag Klaus Wagenbach (ISBN 978-3-803132185, 22,90 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Ein spannender Abenteuerroman im Kriegsrussland
Es ist das Jahr 1942, Leningrad wird schon so lange von den Deutschen belagert, dass die Menschen Leim essen. Und ihre Artgenossen. Es gibt nichts mehr in dieser Stadt, sie ist ausgebrannt und ausgehungert. Als der 17-jährige Lew sich nicht an die Ausgangssperre hält, wird er verhaftet. Doch ein Glücksfall rettet ihn vor dem Tod durch Erschießen: Der Geheimdienstchef der Stadt braucht 12 Eier für die Hochzeitstorte seiner Tochter. Lew soll sie innerhalb von sechs Tagen beschaffen. Zur Seite gestellt bekommt er dabei den fröhlichen und attraktiven Lebenskünstler Kolja, der selbst dem Tod noch spottend ins Gesicht zu lachen scheint. Für die beiden beginnt eine gefährliche und eigentlich beinahe unmögliche Suche im eisigen russischen Kriegswinter, in dem sie nie wissen, ob jemand Freund oder Feind ist. Und die Zeit läuft ihnen davon …

“Ein unwiderstehliches Buch von einem außergewöhnlichen Geschichtenerzähler”, soll Khaled Hosseini über Stadt der Diebe gesagt haben. Und ich gebe ihm absolut Recht. Denn als ich anfange zu lesen, geschieht etwas so Seltenes wie Wunderbares: Ich bin absolut gefesselt. Ich will in jeder freien Minute weiterlesen. Und ich lege das Buch auch nicht aus der Hand, als mir um Mitternacht schon fast die Augen zufallen. Es gelingt David Benioff, mich in diese Stadt zu ziehen, die wie ihre Bewohner nur noch ein Skelett ist, aber sich trotzdem nicht bezwingen lässt. Eindrucksvoll beschreibt er den nagenden Hunger und die bodenlose Verzweiflung. Und doch ist dieser Roman amüsant und humorvoll: Die beiden Protagonisten begegnen ihrer Aufgabe mit dem Witz und der Schläue derer, die nichts mehr zu verlieren haben. Der Autor beweist mit diesem stimmigen und spannenden Buch eine herausragende Vorstellungskraft, die mich beeindruckt. Stadt der Diebe zeigt den berühmten Russlandfeldzug aus einer ganz neuen Sicht, und die Ausgangssituation an sich – in einer verhungernden Stadt Zutaten für eine dekadente Feier der Obrigkeit zu finden – ist herrlich bissig und böse. David Benioff schreibt nicht hochliterarisch, aber der Ton des Romans passt optimal zu den abenteuerlichen Ereignissen. Den brillanten fünften Punkt verdient sich der Autor mit dem fantastischen, ironischen Ende, auf das ich tatsächlich nicht gekommen wäre. Ein Abenteuerroman im besten Sinne: mitreißend, originell, unterhaltsam und unvergesslich.

Für Gourmets: 5 Sterne

“Manchmal ist es, als würde alles Vergangene zu Poesie”

So ist es auf jeden Fall mit Das Licht auf den Bergen: Die kleinen, abstrusen Geschichten, die der Isländer Jón Kalman Stefánsson erzählt, sind voller Poesie. Sie sind wild und verrückt, schillern vor Überraschungen, Magie und Wehmut. Schauplatz der Ereignisse ist ein winziger Ort am Rand von Island, völlig abgeschieden, die Bauernhöfe liegen hier weit auseinander, Fremde sieht man nie. Umso merkwürdiger, dass sich einer aus dem Dorf einbildet, bald würden Touristen kommen. Dass den Einheimischen dann fast die Augen aus dem Kopf fallen, als tatsächlich ein Reisebus mit einer deutschen Gruppe auftaucht, ist sehr amüsant geschrieben. Der Ich-Erzähler, zum Zeitpunkt der Erinnerungen, in denen er schwelgt, ein junger Mann, berichtet von den schrägen Gestalten in dieser Gemeinde: von Starkathur, dem Dichter, der so verliebt ist, dass er fast sterben muss an der Liebe, von Hnúkar, der endlich den Fortschritt ins Dorf bringen will, und vom “Apostel”, der eines Tages gefürchteten Besuch bekommt. Das sind nur einige der vielen liebenswerten und schrulligen Figuren, die Stefánsson in einem bunten, faszinierenden Reigen auftreten lässt. Sie saufen viel, die Isländer, sie streiten und sie raufen sich, sie sind raue Genossen und haben einen so weichen Kern, dass Gedichte, magische Geschichten von Elfen und Trollen und das Lächeln einer Frau sie völlig aus dem Konzept bringen.

Das Licht auf den Bergen ist das letzte Buch einer Triologie, aber das erste, das ich gelesen habe. Die Vorgänger verpasst zu haben, macht überhaupt nichts . Ohnehin knüpft Stefánsson in diesem Buch eine skurrile Begebenheit an die andere, streut unvergleichliche Metaphern ein, kümmert sich nicht um die Realität oder wissenschaftlich Beweisbares, im Gegenteil, Geister und Flüche gehören zu diesem Roman wie zu Island selbst. Es ist ein Land, von dem ich wenig weiß, und dessen Bewohner mir unbekannt sind – umso mehr Spaß macht es, sie in ihren besten und schlechtesten Eigenschaften skizziert zu sehen. Stefánsson ist ein Autor, der berühren und zum Schmunzeln bringen kann, der seine Figuren mit einer solchen (Schaden-)Freude aneinandergeraten lässt, dass die Zeilen richtig vor Ironie und Lebenslust zu vibrieren scheinen. “Er springt tatsächlich umher und wartet darauf, dass ihm die Gabe des Fliegens unter den Armen wächst”, heißt es, oder: “Heute Nacht darfst du lügen. Mach es nur gut, und vielleicht kommt der Morgen nie.” Obwohl das Buch teilweise ein wenig wirr ist (und das Cover richtig hässlich) und ich keinen einzigen der zitierten isländischen Dichter und wichtigen Personen kenne, mag ich es – es macht mich einfach fröhlich.

Das Gedicht So ist es von Starkathur:
du, den wir mit tausend namen nennen,
der aber einzig ist;
manchmal wird der unablässige strom der zeit
zu einem traurigen refrain in deinem herzen
und alles übrige wird bedeutungslos
dann wischst du die wolken von der erde und schaust
du siehst länder sich scheiden von meeren
berge von ebenen
siehst schluchten sich öffnen im berghang
und du siehst das menschenmeer zu völkern werden
dann siehst du gut hin, hältst lange ausschau
bis du einen gehen siehst
die brust voller düsterkeit
dann schüttelst du dein himmelhoches haupt, immer gleich erstaunt
murmelst, sieh mal an
so klein
und es kann ihm doch schlecht gehen

Für Gourmets: 5 Sterne

Vom Tod und dem Leben danach
Lenes Freund Tim wird überfahren und getötet. Unter Schock steigt Lene ins Auto, sie will nur noch weg. Ihre beste Freundin Tonia begleitet sie auf diesem Roadtrip quer durchs Land und quer durch die Gefühle. Was bleibt zu tun, wenn das Unaussprechliche geschehen ist? Wie kann man darüber reden, wie kann man Tag für Tag die Augen öffnen und einfach weiterleben? Lene und Tonia stehen vor einer Hürde, die nicht zu überwinden scheint – und sie laufen weg, um erst einmal Luft holen zu können, um nichts Vertrautes sehen zu müssen. Tonia geht in ihrer Freundschaft zu Lene und der Pflicht, ihr beizustehen, an ihre Grenzen. Und am Ende ist die Trauer, der Lene entkommen will, immer noch da.

Elisabeth Rank findet eine Sprache für das, was man nicht sagen kann: wie weh es tut, wenn man jemanden verliert, den man liebt. Zwar bleibt Überflüssiges nicht aus, doch ihr Stil ist feinfühlig, deutet an, gibt der Fantasie einen Pfad vor. Manchmal sagt das Leben: Friss – es kümmert sich nicht, es schüttet das Unglück aus über uns. Das passiert Lene, und ihre Freundin Tonia, die aus der Ich-Perspektive erzählt, wird mitgerissen. Die Geschichte in ihre Hände zu legen, ist ein kluger Schachzug, führt aber auch dazu, dass alle Einblicke in Lenes Gemütszustand nur von außen kommen können. So muss man als Leser viel erspüren, was man nicht direkt erfahren kann. Tonias eigene Beziehung zu Friedrich wird durch die Ereignisse infrage gestellt, auch für sie hat Lenes Leid Konsequenzen. Und im Zweifel für dich selbst ist ein großartiges, ein seltenes Buch. Ich mag das Unaufgeregte, das Lässige, das Junge, was Kritiker dazu bringt, den Roman ein “Generationenporträt” zu nennen. Ein wenig schade ist, dass Elisabeth Rank über ein, zwei Klischees stolpert und Lene und Tonia beispielsweise ans Meer fahren lässt – was nun wirklich bei jedem 08/15-Roadtrip das Ziel ist. Trotz kleiner Schwachpunkte ist dieses Debüt eindrucksvoll, gelungen und ebenso traurig wie wunderschön.