Für Gourmets: 5 Sterne

GiordanoÜber die Einsamkeit von Menschen, die einander nie berühren können
Die Italiener sind bekannt dafür, sehr melancholische, fast schon depressiv machende Bücher zu schreiben und zu lesen. Das trifft nicht immer meinen Geschmack. In diesem Fall aber passt es sehr genau – denn Paolo Giordano, jüngster Preisträger des renommierten Premio Strega ever, würzt die Realität in seinem Buch Die Einsamkeit der Primzahlen mit einer erträglichen und schmackhaften Prise Melancholie. Der Ton seines Romans ist ebenso traurig wie der seiner Schriftstellerkollegen – aber er schreibt dabei so anschaulich und glaubhaft, dass man Zugang findet zu seinen Protagonisten und mit ihnen mitleidet.

Alice und Mattia haben beide in jungem Alter etwas erlebt, das sie aus der Bahn des normalen Erwachsenwerdens geworfen hat, das sie abgeschnitten hat von sich selbst und das ihnen das Zusammensein mit anderen erschwert. Bei Alice war es ein Skiunfall, Mattia dagegen ist für das Verschwinden seiner Zwillingsschwester verantwortlich. Mit großen Zeitsprüngen zwischen den einzelnen Kapiteln erzählt Giordano davon, wie Alice und Mattia einander umkreisen, einander Halt geben und einander brauchen – ohne den Moment zu finden, in dem sie die unsichtbare Mauer zwischen ihnen überwinden könnten. Es ist ein schönes Bild, das Giordano zeichnet, jenes der Primzahlzwillinge, die sich immer nahe sind, einander aber nie berühren können.

Unverkrampft und ohne die jungen Autoren oft eigene Coolness erzählt Giordano von zwei zerstörten Individuen und gibt seinem Roman ein Ende, das wohl unausweichlich ist, das ich mir aber dennoch anders gewünscht hätte. Er findet wundervolle, unbeugsame Metaphern und passt sich sprachlich an die traurigen Ereignisse an. Das ist Melancholie in ihrer schönsten Form. Fünf Punkte.

Für Gourmets: 5 Sterne

AppelfeldEin nachdenkliches, kluges Buch über das Schicksal der Juden
Ich hab lang überlegt, ob ich mir Elternland zu Gemüte führen soll – denn, ich gebe es zu, der Gedanke “schon wieder ein Buch über das Schicksal der Juden” zu lesen, hat mich abgeschreckt. Nun aber bin ich froh, dass ich es doch gewagt habe. Denn auch wenn Elternland “schon wieder ein Buch über das Schicksal der Juden” ist, so beleuchtet es das Leid der Juden im Zweiten Weltkrieg doch von einer mir bisher verborgenen und daher recht interessanten Seite: in einem winzigen Dorf am Ende der Welt von Polen. Hier leben einfache Bauern, die sich früher das Dorf mit vielen Juden geteilt haben. Davon ist kein einziger mehr übrig.

Jakob ist in Tel Aviv aufgewachsen und hat nie Zugang zu seinen Eltern gefunden – als sie gestorben sind, hat er all ihre Besitztümer verschenkt und ihren Stoffladen in ein modernes Bekleidungsgeschäft umgewandelt. Er ist unglücklich verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Der Wunsch, das Heimatdorf seiner Eltern kennenzulernen, in dem sie nur knapp überlebt haben, überfällt ihn eines Tages mit einer solchen Macht, dass er losfährt: nach Schidowze im Nirgendwo von Polen. Dort findet Jakob viel über seine Eltern, über sich selbst, über das Schicksal der Juden, die ermordet wurden, und den Hass unter Menschen heraus. Seine Weggefährtin ist dabei die aufrichtige, vom Leben gezeichnete, liebevolle Magda, bei der er unterkommt und die seine Familie als Kind kannte.

Wie Jakob durch Schidowze und damit nicht nur durch eine grausame Vergangenheit, sondern auch eine nach wie vor antisemitische Gegenwart wandert, das ist berührend, es macht nachdenklich und traurig, gleichzeitig aber ist allen Sätzen eine gewisse Lebensfreude anzumerken. Aharon Appelfeld ist es geradezu meisterhaft gelungen, sich in seinen Protagonisten einzufühlen, in den Juden, der so wenig weiß von seinen Vorfahren, der nicht religiös ist und doch den typischen Vorurteilen gegenübersteht – auch nach so vielen Jahren. Ich bewundere es, dass er dabei nie offen anklagt, sondern lächelnd den Kopf schüttelt über die Dummheit der Menschen. Appelfelds Sprache ist schräg, er benutzt merkwürdige Metaphern und lässt seine Figuren kurze, lebensschlaue Sätze sagen, die für sich genommen in einem Lexikon stehen könnten, so klug sind sie. Natürlich redet niemand so, und ich bin hier für gewöhnlich sehr kritisch. Ich mag es auch nicht, wenn Menschen in Büchern ständig wirre Träume haben. Und doch – Elternland hat mich sehr fasziniert, interessiert, begeistert und gefesselt. Unbedingt empfehlenswert!

Lieblingszitat: Ein Ort zeigt einem Menschen nichts als das, was er dahin mitbringt.

Für Gourmets: 5 Sterne

PettersonEin Mann, der am Leben scheitert
Per Pettersons Buch Pferde stehlen war eins der besten, die ich im letzten Jahr gelesen habe. Es geht darin um die Beziehung zwischen Vater und Sohn – und dies scheint das zentrale Thema von Petterson zu sein, denn auch Im Kielwasser handelt davon. Arvid, 43 Jahre alt und mehr oder weniger erfolgreich als Schriftsteller, setzt sich 6 Jahre nach dem Unfalltod seines Vaters (und seiner Mutter sowie seiner zwei jüngeren Brüder) mit den Erinnerungen an ihn auseinander. Es geht ihm nicht gut, er ist müde, verwirrt, er ist, wie er selbst sagt, fort von der Welt. Da gibt es vieles, das ihm zu schaffen macht, seine Kindheit, seine Scheidung, sein älterer Bruder, der (unfreiwillig) noch am Leben, dem er aber nicht genug ist.

Im Kielwasser ist ein sehr melancholisches Buch über einen dominanten Vater und einen am Leben scheiternden Sohn. Wie bei Pferde stehlen (das mir noch ein bisschen besser gefallen hat) fasziniert mich weniger die spärliche Handlung als mehr Pettersons eindringliche Sprache, die Arvids Gefühle derart präzise auf den Punkt bringt. In Pettersons Büchern ist kein Wort zu viel – aber auch keines zu wenig. Wie Arvid gegen die Erinnerungen und die Einsamkeit kämpft, beschreibt Petterson lebensklug, mit einem traurigen Lächeln in den Mundwinkeln. Im Kielwasser wirkt auf mich mehr wie eine Erzählung, ein Fragment aus dem Leben von Arvid – das ist etwas, was ich für gewöhnlich nicht leiden kann. Ich will in einem Roman eine ausgefeilte Erzählstruktur und eine gut überlegte Handlung haben. Doch hier, ich kann nicht anders, gefällt es mir, das Herausgerissene, das Offenbleibende. Fünf Punkte daher für diese beeindruckende Sogwirkung von Pettersons Sprache. Sehr lesenswert.

Lieblingszitat: Noch war keiner geschieden, keiner war tot, wir fuhren mit der Fähre, wie wir es immer getan hatten, und schliefen in einer Nacht, die wir kannten.

Für Gourmets: 5 Sterne

FranckWie kann eine Frau ihr Kind einfach verlassen?
Auszeichnungen wie der Deutsche Buchpreis sind für mich nicht in erster Linie ein Kaufen-Kriterium. Wenn mir ein solchermaßen ausgezeichnetes Buch in die Finger kommt (oder es, wie in diesem Fall, auf meinem Geburtstagsgabentisch liegt), lese ich es noch kritischer, mit der Frage im Hinterkopf: Hat es den Preis verdient? Für Julia Franck lautet die Antwort: JA. Eindeutig sogar.

Die Sprache besticht mich und zieht mich – ein Wunder! – in ihren Bann: Ich genieße die originellen Metaphern, endlich kann ich mich ausruhen in diesem Stück Literatur und muss mich nicht, wie sonst so oft, an den vielen ausgelutschten Sprachbildern stoßen – im Gegenteil, Julia Franck bietet mir einen Erzählstil, wie ich ihn mag: klar, ein bisschen verschroben, leise schillernd. Ich fühle mich wie ein Goldgräber, der sich durch unendlich viel Matsch gewühlt – und endlich ein kleines Nugget gefunden hat. Das erste Kapitel ist ein gut gemachter Teaser: Eine junge Frau setzt ihren 8-jährigen Sohn Peter auf einem Bahnhof aus, der Krieg ist gerade vorbei, er bleibt allein zurück. Ich folge der Autorin nun auf dem Lebensweg dieser Frau, die so verstörend introvertiert ist, die nicht aufbegehrt und dabei paradoxerweise stark wirkt. Sie wächst mit einer abwesend-verrückten Mutter und einer lesbischen Schwester auf, sie findet die Liebe und erleidet Verlust. Kein großer deutscher Roman ohne den Nationalsozialismus, natürlich, aber Julia Franck bleibt so sehr bei ihrer Protagonistin Helene, dass ich den Krieg als notwendige Rahmenhandlung akzeptieren kann.

Dass die Mittagsfrau einer slawischen Legende entstammt, dass sie den Menschen den Verstand raubt oder sie in den Tod treibt, erfahre ich aus einer Rezension bei Amazon – im Buch ist mir das nicht klar geworden, was ich ihm ein wenig übel nehme. Aber: Wieder was gelernt. Die Frage des Buchs ist also: Kann man nachvollziehend erklären, warum eine Mutter ihr Kind aussetzt? Mir bleibt ein letzter Rest von anerzogenem Widerstand, die Protagonistin zu verstehen, aber das Buch lässt mich dennoch zufrieden zurück. Ein schwieriger, ein einzigartiger Roman – und definitiv lesenswert. Volle Punktezahl!

Für Gourmets: 5 Sterne

Petterson PferdeUnglaublich, aber wahr: Ganze sieben Titel haben es 2008 in die Liste der Best of geschafft:

1. Khaled Hosseini: The kite runner (Ich gebe es zu, ich hab auf der letzten Seite geheult.)
2. Per Petterson: Pferde stehlen (sehr, sehr gut, unbedingt lesen!)
3. Sasa Stanisic: Wie der Soldat das Grammofon repariert (wunderschön, ergreifend)
4. Khaled Hosseini: A thousand splendid suns (Er hat mich erwischt!)
5. Dara Horn: Die kommende Welt (wirklich gut, jüdisch, originell)
6. Pierre Péju: Die kleine Kartäuserin (zart und zerbrechlich, melancholisch)
7. Gabriel García Márquez: Die Liebe in den Zeiten der Cholera (zu Recht ein Klassiker)

Für Gourmets: 5 Sterne

GavaldaNur ein einziges Buch hat es 2007 geschafft, mich von vorn bis hinten zu überzeugen. Dabei ist es wirklich ein Überraschungssieger, bei dem ich niemals damit gerechnet hätte:

Anna Gavalda: Zusammen ist man weniger allein

Das ist vielleicht nicht gerade rühmlich, weil ich schon weiß, dass viele Anna Gavalda nicht ausstehen können, aber ich fand die Geschichte sehr sympathisch, sehr rund, sehr unterhaltsam. Und habe ausnahmsweise nichts auszusetzen.

Für Gourmets: 5 Sterne

KraussZur Crème de la crème erhoben wurden 2006:

1. Heinrich Steinfest: Nervöse Fische (Ein Mann wird in einem Swimmingpool gefunden – von einem Hai getötet … schön grotesk!)
2. Jonathan Safran Foer: Extremely loud and incredibly close (Ich geb’s zu, ich hab am Ende geheult. Besser als der Erstling!)
3. Nicole Krauss: The history of love (kindlich-naiv, detailverliebt, sehr poetisch)

Das war vom Lesefeste das Beste.

Für Gourmets: 5 Sterne

GroesemerDas sind die Lese-Gustostückerl von 2005:

1. Eliot Pattison: Beautiful Ghosts (Pattisons Bücher sind fantastische Tibet-Krimis mit sehr traurigem Background)
2. Adam Thirlwell: Strategie (vielgelobt – verdienterweise)
3. John Griesemer: Rausch (abschweifend, ausufernd, abenteuerlich, gut recherchiert, wunderbar!!!)
4. Majgull Axelsson: Augustas Haus (eine gut geschriebene Familienstory)

Für Gourmets: 5 Sterne

EugenidesFangen wir mit dem Besten an, was 2004 zu bieten hatte:

1. Eliot Pattison: Bone Mountain (Pattisons Bücher spielen in Tibet und sind richtig großartig)
2. Carlos Ruiz Zafón: Der Schatten des Windes (beeindruckend fantasievoll)
3. Banana Yoshimoto: Dornröschenschlaf (eigenwilliger Stil, sehr lesenswert)
4. Jeffrey Eugenides: Middlesex (wunderbar schräg, wunderbar originell)
5. Elizabeth George: A place of hiding (Ich war lange ein sehr großer Fan ihrer Krimis. Dieser gehört mit zu den besten.)
6. David Guterson: Snow falling on cedars (traurig, berührend, elegisch)
7. Philip Roth: Der menschliche Makel (Klassiker!)
8. Alessandro Baricco: Seta/Seide (die italienische Sprache in ihrer Vollendung)
9. Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (eine Verneigung vor so viel Sprachkunst!)
10. Susanna Tamaro: Va dove ti porta il cuore/Geh, wohin dein Herz dich trägt (Jaaa, der italienische Schnulzenklassiker, aber mir hat er gefallen.)
11. Anita Shreve: Olympia (eine sehr träge, sich einprägende Geschichte)
12. Alice Hoffman: The probable future (ein bisschen esoterisch angehaucht, aber sehr empfehlenswert)
13. Andrea Camilleri: Die Rache des schönen Geschlechts (Camilleri at his best, ich steh auf seinen bissigen Humor.)

Man sieht, dass ich vor 4 Jahren noch nicht einmal annähernd so kritisch war wie jetzt. So viele Highlights gab es später nie wieder! Diese hier kann ich aber alle zum Genuss empfehlen.