Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8240Das traurigste Buch
Luca ist zehn Jahre alt und kennt seinen Vater nicht. Er lebt in einer Wohnung mit seiner Mutter, die manchmal verliebt ist und manchmal niedergeschlagen, er geht in die Schule und hat einen Freund. Und eines Morgens hat er auf einmal auch ein großes Problem: Seine Mama liegt tot im Bett. Was soll er tun? Wenn er die Polizei ruft, muss er ins Waisenhaus, und da will Luca auf keinen Fall hin. Also lässt er seine Mama vorerst einfach mal, wo sie ist, und versucht, seinen Alltag weiterzuführen. Er wäscht und kämmt sich, geht allein zur Schule und sogar mit Freunden ins Kino, kümmert sich um Kater Blue und bereitet sich einfache Mahlzeiten zu. „Mama sagt, dass dicke Kinder als Erwachsene eine Menge Probleme bekommen, ich bin nicht dick und habe schon jetzt eine Menge Probleme.“ Nachts ist die Angst am schlimmsten, und am Wochenende flippt er fast aus, aber er hält tapfer durch. Allerdings wird sein Problem immer größer statt kleiner: Der Kühlschrank ist bald leer, die sauberen Unterhosen gehen ihm aus, und zu allem Übel fängt die Mama auch noch an zu stinken …

Meine erste Lüge der italienischen Autorin Marina Mander ist ein unfassbar trauriges Buch. Es ist, als hätte die Schriftstellerin die Traurigkeit selbst zwischen Buchdeckel gepresst und in Worte gegossen. Das liegt weniger an ihrem eher gewöhnlichen Stil als vielmehr an der Situation, in die sie ihren zehnjährigen Protagonisten schubst: Nicht nur, dass ihm die Mutter wegstirbt, nein, sie verwest auch noch im Schlafzimmer, während er verzweifelt versucht, so normal weiterzumachen wie möglich. Er kämpft mit schier unmenschlicher Tapferkeit und bleibt dabei seltsam stoisch und cool: „Man kann keine Hausaufgaben machen, wenn einem die Mama gestorben ist.“ Ich gehe fast ein vor Mitleid. In dieser Hinsicht ist Meine erste Lüge sehr emotional und aufwühlend. Recht viel mehr hat der Roman jedoch nicht zu bieten, denn das Beschriebene ist ganz einfach alles, was geschieht. Ich habe das ganze Buch über auf eine Lösung des Problems gewartet und war am Ende recht enttäuscht. Was will Marina Mander uns wohl sagen? Dass das Leben ein Kübel Scheiße ist, der manchmal über einem Zehnjährigen ausgeschüttet wird.

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Meine erste Lüge von Marina Mander ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05543-7, 192 Seiten, 16,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Steinfest„Selbst die eingebildeten Dinge müssen gelebt werden“
Es ist exakt 23.02 Uhr, als vor Theos Fenster plötzlich ein grünes Rollo runterrattert. Ein Rollo, das der Zehnjährige noch nie gesehen hat und das seines Wissens niemand an seinem Fenster befestigt hat, weil seine Eltern etwas dagegen haben, die Zimmer abzudunkeln. Er hat Angst, ist aber auch fasziniert – besonders, als er entdeckt, dass er durch das Rollo eine fremde Welt namens Nidastat betreten kann. Dort trifft er auf Anna, die in einer lebensbedrohlichen Lage steckt und seine Hilfe braucht, um den Männern mit den Feldstechern zu entkommen. Jahrzehnte später ist Theo längst ein erfolgreicher Astronaut und hält die Episode mit dem Rollo für eine fantasievolle Phase aus seiner Kindheit. Doch dann verschwindet Anna erneut …

Heinrich Steinfest ist offenbar ein bisschen verrückt. Zumindest schreibt er Bücher, die es sind. Das war mir gar nicht so bewusst. Ich habe vor Jahren sein Buch Nervöse Fische gelesen, das ich als sehr gut in Erinnerung behalten habe und das auch schon recht durchgeknallt war, schwamm doch da einer im Pool, den ein Hai totgebissen hatte. Da um Steinfests letzte Romane ein recht großer Hype entstanden ist und er 2014 mit Der Allesforscher auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, bin ich neugierig geworden auf sein aktuelles Buch. Der österreichische Autor erzählt darin die Geschichte eines Jungen, der etwas ganz Unglaubliches erlebt: Er steigt in ein grünes Rollo, das jede Nacht um 23.02 Uhr vor seinem Fenster auftaucht, und erlebt Abenteuer in einer völlig anderen Welt. Diese Teile sind im Buch in grüner Schrift gehalten. Theos Ausflüge erinnern freilich ein wenig an Phantásien und die unendliche Geschichte – ein Vergleich, der naheliegt, dem Das grüne Rollo aber nicht standhalten kann. Das ist bei Michael Ende allerdings wohl ohnehin unmöglich. Trotzdem aber beeindruckt Heinricht Steinfest mit der Macht seiner Fantasie und seinen obskuren Einfällen: ein Messer namens Lucien, eine Weltraumkatze, eine Schwester, die es vorher gar nicht gab.

Das Beste an diesem Buch ist das Ende – weil Heinrich Steinfest hier mit einer großen Überraschung aufwartet. Plötzlich fügt sich alles zusammen, plötzlich ergibt alles Sinn – und mit diesem sehr schönen Aha-Moment schließt sich der Kreis. Das fand ich ausgesprochen gut. Davor hat mich die Lektüre aber ehrlich gesagt oft ein wenig ratlos gemacht und verstört, ich bin wohl nicht so der Typ fürs Absurde. Das grüne Rollo ist gut zu lesen, flüssig geschrieben, in einem ganz eigenen Duktus: Wer dieses Buch aufschlägt, lässt die altbekannten Regeln hinter sich und erlebt etwas Neues, Fantastisches, Bizarres. Darauf muss man sich einlassen, ohne es zu hinterfragen. Dann lässt sich mit dem grünen Rollo ganz ausgezeichnet Spaß haben.

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Das grüne Rollo von Heinrich Steinfest ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05661-8, 288 Seiten, 19,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Die neurologische Entzifferung zum Schluss holt die Geschichte zurück auf den Erdboden der Aufklärungsgesellschaft, dem man sich gerade so wohlig enthoben fühlte“, befindet buecherrezension.com.
– Ein witziges kurzes Interview mit dem Autor findet ihr hier.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Parrett„Das Meer ist lebendig, es kennt keinen Anfang und kein Ende“
Die Mutter von Isla und ihrem kleinen Bruder zieht mit den Kindern nach Hobart auf Tasmanien, an einen Ort am Ende der Welt, umgeben vom Meer und von Einsamkeit. Die Nella Dan, ein beeindruckend großer, rot-weißer Frachter, bringt Abwechslung und den Duft der weiten Welt in Islas Leben – und sie bringt Bo, den Seemann. Bo ist Däne, er ist ruhig, groß, bedächtig, und er gefällt Islas Mutter. Zwischen ihm und dem Mädchen entsteht eine ungewöhnliche, aber innige Freundschaft in den kurzen Landaufenthalten, die Bo in Hobart verbringt. Sein Leben ist hart, er ist zusammen mit dem Schiff und dem Rest der Mannschaft der Willkür der See ausgeliefert – sie bringt herrliche Tage voll Leichtigkeit, aber sie bringt auch den Tod. „Das Meer ist lebendig, es kennt keinen Anfang und kein Ende. Es bewegt sich mit dem Mond und mit der Erddrehung, und es ruft uns, wenn es will, dass wir kommen. In jener Nacht lag ich im Bett, zog die Decke fest um mich, und in der Dunkelheit wiederholte ich im Kopf immer wieder: Ruf mich nicht. Ruf mich nicht, denn ich will nicht gehen.“

Der Himmel über uns ist Melancholie zwischen zwei Buchdeckeln. Es ist Poesie, es ist Licht und Wasser und Gefühl. In einer sehr melodischen, lyrischen Sprache erzählt die tasmanische Autorin Favel Parrett in ihrem zweiten Roman eine Geschichte vom Meer, von Freundschaft und Verlust, vom Alleinsein und von der Macht der Natur. Sie tut dies auf beeindruckend schlichte, aber sehr sprachgewaltige Weise. Die Prosa ist durchsetzt von Gedichtstücken, Momentaufnahmen, Gedanken, bei denen man nicht weiß, wem sie gehören: Vögel rufen den Morgen herbei / Ich spüre, wie es sich von mir hebt, das Gewicht der Dunkelheit / Es ist ein neuer Tag.“

Wenn in einer Geschichte ein kleines Mädchen vorkommt und ein Seemann, der Bo heißt, dann weiß man gleich, dass das eine gute Geschichte sein muss. Der Himmel über uns ist schwermütig, traurig, intensiv. Isla und Bo berichten abwechselnd auf Land und auf hoher See, langsam setzt sich aus ihren einzelnen Bildern ein Gesamteindruck zusammen, der aber auch am Ende noch verschwommene Stellen aufweist. Ganz aufgeschlüsselt werden die Geschehnisse nicht, weil dies ein Roman ist, der von Stimmungen und Empfindungen lebt und quasi ausschließlich aus solchen zusammengesetzt ist. Ein ganz besonderes Buch, das ebenso zart wie kraftvoll ist, einfach, aber raffiniert, liebevoll erzählt und unvergesslich.

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Der Himmel über uns von Favel Parrett ist erschienen bei Hoffmann und Campe (ISBN
978-3-455-40518-7, 272 Seiten, 20 Euro).

Bücherwurmloch

mfg 239152Zuckergoscherl statt Buchreihen Letztens saß ich abends vor dem Laptop, um zu bloggen, und da hab ich spontan beschlossen, dass das Bücherwurmloch nach über sechs Jahren endlich mal eine neue Frisur braucht. Und Maniküre. Und Make-up. Ich habe also aus einem Impuls heraus auf irgendein Theme geklickt – bunte Wirbelchen adé. Der neue Auftritt bestand ausschließlich aus Fotos und sah ziemlich wild und cool aus, und weil ich keinen Bock hatte, lang rumzusuchen, wollte ich das einfach gleich lassen. Bloß gab es kein Menü und man konnte weder die Seiten noch das Impressum noch die Blogroll noch sonstwas finden. Grummel. Also weitergeklickt – und dann kam mir dieses Theme unter, das doch recht klassisch blogartig ist, aber immerhin ein bisschen moderner und frischer als vorher. Bei einem Buchblog gehören ja eigentlich schöne Buchreihen in den Header, aber da ich keinen Bock hatte, lang rumzufotografieren, hab ich einfach ein Bild von meinem Mäulchen genommen. Dann denken die Besucher bestimmt, sie sind auf einem coolen, fashigen Mode- und Lifestyleblog gelandet und merken dann: Oooch, nur Bücher. Haha! Ich hab das neue Outfit meinem Mann gezeigt, der trocken meinte: „Da bist ja schon wieder du drauf.“ Charmant! Es ist ja auch mein Blog. Und ich bin halt eine alte Egosau. Die ganzen Widgets musste ich extra wieder aktivieren, das war  noch ein ganz schönes Stück Arbeit. Grummel. Und: Wehe, ihr findet das jetzt nicht gut! Weil ich hab echt keinen Bock, da nochmal … naja, ihr wisst schon. Es grinst und grüßt Mariki

Gut und sättigend: 3 Sterne

Goshen„Wenn du der Einzige bist, der etwas weiß, dann ist dieses Etwas weniger real“
Stell dir vor, du bist Neurochirurg und fährst nach einer langen Schicht übermüdet mit deinem Jeep in die Wüste, um dich noch ein wenig auszutoben. Stell dir vor, du steigst aufs Gas und überfährst plötzlich einen Menschen. Du siehst sofort, dass du ihn nicht retten kannst. Du lässt ihn liegen. Du lässt ihn sterben. Dabei hältst du dich für einen guten Menschen, und deine Frau, die Kriminalbeamtin ist, bewundert dich für deine Moral. Du erzählst ihr nichts, du willst alles vergessen. Stell dir vor, die Witwe des Toten steht am nächsten Tag vor deinem Haus, und sie könnte dir alles nehmen, was du hast – deine Frau, deine Kinder, deinen Job –, indem sie dich verrät. Du bietest ihr Geld, aber das will sie nicht. Sie zwingt dich zu etwas ganz anderem. Und weil du etwas so Furchtbares getan hast, bist du ihr ausgeliefert …

Die israelische Autorin und Psychologin Ayelet Gundar-Goshen wurde 2013 mit ihrem ersten Roman Eine Nacht, Markowitz bekannt. Ich habe ihn nicht gelesen, aber er hat mich neugierig gemacht – auf diese junge Schriftstellerin, der so viel Talent und Fingerspitzengefühl zugeschrieben wird. Beides besitzt sie auch, wie sie mir mit Löwen wecken gezeigt hat. Das Besondere an diesem Buch ist das Setting, die Ausgangssituation, die sich hervorragend eignet, um moralische Fragen aufzuwerfen und mit ihnen zu jonglieren: Einer, der besser gestellt ist und weiß, überfährt einen, der ungewollt ist und schwarz – einen afrikanischen Flüchtling. Ist dieser Mensch weniger wert? Ist es gerechtfertigt, dass der Arzt nicht seinetwegen alles aufs Spiel setzen will? Ist es gerechtfertigt, dass man Boote mit seinesgleichen sinken lässt? Feinsinnig und mit viel Intelligenz ergründet Ayelet Gundar-Goshen eine Existenz, die auf einmal auf der Kippe steht, einen Mann, der sich für unfehlbar gehalten hat, und eine Ehe, die von dem plötzlichen Schweigen beinahe erdrückt wird.

Löwen wecken ist ein sehr gutes Buch, das noch um einiges intensiver wäre, wenn es zwischendrin nicht so lange Durststrecken hätte. Während die handlungs- und temporeichen Stellen sehr spannend und gelungen sind, verliert sich die Autorin dann wieder so sehr in uninteressanten Details, dass ich ihr gar nicht mehr folgen mag. Das nimmt mir persönlich sehr viel von meinem Lesevergnügen. Mit dem Ende hat Ayelet Gundar-Goshen mich durchaus überrascht, aber, ich gestehe es, nicht unbedingt begeistert. Was bleibt also zu sagen über dieses Buch, das mich so in einen Wigelwagel gestürzt hat? Dass die Frage, ob es uneingeschränkt zu empfehlen ist, genauso schwer zu beantworten ist wie die ethischen Fragen, die es stellt: Ja und Nein. Ihr solltet es aber dennoch lesen, weil es ein Stück Menschsein zu Papier bringt und erlebbar macht.

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Löwen wecken von Ayelet Gundar-Goshen ist erschienen im Kein & Aber Verlag (ISBN 978-3-0369-5714-2, 432 Seiten, 23,50 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Ayelet Gundar-Goshen schreibt über das individuelle Schicksal eines Mannes, der in sich ein Raubtier entdecken muss, das er dort nicht vermutet hätte“, schreibt Sophie von Literaturen.
– „Der Psychologin Ayelet Gundar-Goshen ist ein dichtes, ungemein berührendes Werk über das Aufeinanderprallen der ersten und dritten Welt gelungen. Machtmissbrauch und Schuld sind auf beiden Seiten mannigfach vorhanden“, heißt es bei Ruth Justen.
– „Die Autorin balanciert gekonnt zwischen den beiden Welten. Weisheit, Gefühl und jede Menge Schmerz bestimmen diesen  Roman zwischen harmonischem Familienglück und tragischer Realität in der Wüste Sinai“, schwärmt Jacqueline Masuck auf We read Indie.

Für Gourmets: 5 Sterne

KnechtDie hohe Kunst des Scheiterns
„Man ist am Land anders befreundet als in der Stadt. Vor allem aber ist man anders verfeindet, konkreter, ernsthafter, konsequenter, körperlicher.“ Das bekommt Marian am eigenen Leib zu spüren, als sie in der kleine Häuschen am Waldrand zieht, das einst ihrer Tante gehörte. Marian, die eigentlich Marianne heißt, tut dies nicht aus nostalgischen Gründen, sie will nicht auf dem Land leben und kann es auch nicht, im ersten Winter geht sie fast ein, weil sie kein Essen und kein Holz hat, nur Schnaps. Sie muss aber, weil ihr nichts geblieben ist vom Luxusleben in Wien: Marian war Modedesignerin, erfolgreich, wohlhabend, mit einem Architektenfreund, einer Designerwohnung, unfassbar teuren Schuhen, tonnenweise Anti-Falten-Cremes und einer trendigen Laktoseintoleranz. Dann kamen falsche Anlagestrategien, falsche Investitionen und ein falscher Mann, Marian ist aus dem Federbett auf den nackten Asphalt gefallen, und deshalb bedeutet es ihr jetzt Luxus, dass sie gelernt hat, Brot zu backen. Und dass Großgrundbesitzer Franz ihr regelmäßig Mehl, Shampoo und Holz bringt. Das tut er freilich nicht umsonst, denn seit er Marian beim Wildern erwischt hat, bedient er sich an ihrem Körper. Daher auch die Feindschaft zu den Nachbarn und das „Hur“ auf Marians Tür. Aber die Frau, die früher in Seide schlief, hat einen eisernen Überlebenswillen bewiesen – und hat nicht vor, aufzugeben.

Die österreichische Autorin Doris Knecht hat mich mit ihrem bösen Roman Besser über die Maßen begeistert – so sehr, dass ich meine Nur-ein-Buch-pro-Autor-Regel gebrochen und ihr neuestes Werk gelesen habe. Zum Glück! Denn sie beweist auch darin eine messerscharfe Beobachtungsgabe und das Talent, menschliche Abgründe offenzulegen – mit einem herrlich ironischen Unterton. Ihre Protagonistin Marian ist sozusagen beim Leben selbst in Ungnade gefallen, sie hat zu hoch gepokert, war zu blind und zu leichtgläubig, hat jeglichen materiellen Besitz verloren. Doris Knecht hat dieser Frau alles genommen, hat ihr den Satin ausgezogen, die Manolos auch, hat ihr das Sushi vom Tisch gefegt und ihre Putzfrau entlassen, ihr Atelier zugesperrt und die Konten geleert, hat ihre Freundschaften enden lassen und ihr die Liebe genommen. Da ist nur noch dieses Haus irgendwo am Land, da sind die alten Strickjacken der Tante, ein paar Gartenbücher, ein Ofen, viel frische Luft. Kein Internet, keine Bars, keine Prominenten, kein Sojalatte. Wenn man so eine Prinzessin-auf-der-Erbse-Story liest, kann man schon ein bisschen schadenfroh sein. Marians eigene Schilderungen lassen das auch zu, weil sie auf sehr sarkastische Weise im Selbstmitleid badet, sich erinnert, alles bis ins kleinste Detail zerlegt, immer und immer wieder, um jenen Moment auszumachen, in dem ihr Schicksal zwischen Unkraut und Wollsocken besiegelt war.

Ich hätte gern, dass Doris Knecht im echten Leben meine Freundin wäre. Weil ich mir vorstelle, dass ich mit ihr so herrlich gemeine Lästergespräche führen könnte, nach denen wir uns den Mund mit Seife auswaschen müssten. Da Doris Knecht bestimmt schon genug Freundinnen hat – und ich zum Glück ja auch –, lese ich einfach ihre Bücher. Die erfreuen nämlich auch diesen kleinen Fiesling, der in mir wohnt. Denn Sarkasmus kann nur dann zünden, wenn er klug ist – genau wie in Wald. Doris Knecht ist so nah dran an der Wahrheit, dass sogar ich – die nicht das feine Leben einer Designerin führt – mich bei manchen Gedankengängen erkannt und ertappt fühle. Da darf jeder sich in der gescheiterten Anfangsvierzigerin erkennen und sich an die eigene Nase greifen. Außerdem liebe ich es, dass das Buch so österreichisch ist und sein darf, dass die Austriazismen nicht im Lektorat ausradiert wurden. Für mich macht dies den Roman noch authentischer, er trifft meinen Humor, meine Sprachwelt, meine Vorstellung vom puren Lesevergnügen zu 100 Prozent. Deshalb kann ich nur sagen: Schärft euren Intellekt mit Doris Knecht, durchleuchtet mit ihr eine Dorfgemeinschaft, in der jeder nur sich selbst der Nächste ist, überlegt euch, was ihr wirklich zum Leben braucht, und amüsiert euch nebenbei ganz prächtig.

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Wald von Doris Knecht ist erschienen im Rowohlt Verlag (ISBN 978-3-87134-769-6, 272 Seiten, 19,95 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Welchen Einfluss hat der Rückfall in nahezu primitive Lebensumstände auf das soziale Verhalten, auf Wertvorstellungen und Gefühle? Diese Überlegung hat sich Doris Knecht zum Ausgangspunkt ihres neuen Romans gemacht“, erläutert die wienerzeitung.
– „Knecht wiederholt Namen und Schlüsselworte, bis zu zwölf Mal auf einer Seite, so dass ein beschwörender Ton entsteht, ein unheimlicher Sound, der noch verstärkt wird durch die Verwendung herber Austriazismen. Wald liest sich wie eine 270 Seiten lange Gedankenschleife, ganz eigen, ganz eindringlich“, heißt es auf spiegel.de.
– „Da ist nix mit Idyll. Bei Doris Knecht gibt es kein nur gut oder nur schlecht, da haben alle Personen Risse, Unschärfen und Inkonsequenzen“, schreibt Sonja von lustzulesen.de.
– Auf standard.at könnt ihr ein Interview mit der Autorin lesen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

PofallaAuf der Suche nach einem Freund
Der Ich-Erzähler und sein Freund Moritz kennen sich schon lange, und gemeinsam sind sie nach Berlin gezogen, um zu studieren. An der Uni sieht man sie selten, umso öfter dafür in den Clubs und Bars der Stadt. Moritz ist eher ein Eigenbrötler und gilt im Freundeskreis als merkwürdig, der Freund gibt ihm stets Rückendeckung. Sie sind jung, alles liegt vor ihnen – doch dann verschwindet Moritz plötzlich spurlos. Ist ihm etwas passiert? Oder wollte er einfach nur fort, etwas erleben, die Welt sehen? Ratlos und halbherzig sucht der Ich-Erzähler nach ihm, trifft sich mit seiner Ex-Freundin Anna, übertüncht den Schmerz – und weiß nicht so recht, wohin mit sich und seinen Gefühlen.

Der junge deutsche Autor Boris Pofalla hat sich eine Geschichte ausgedacht, deren Anfang und Ende für den Leser nicht sichtbar sind. Als das Buch beginnt, ist Moritz schon fort, er hat eine Lücke hinterlassen, ein schwarzes Loch, in das sozusagen alles hineinfällt, an dessen Rand der namenlose Ich-Erzähler entlangwandert. Die Freundschaft selbst, ihr Entstehen und ihre Besonderheiten, liegen in der Vergangenheit und bleiben im Dunkel, anhand von zwei, drei exemplarischen Fragmenten versucht der Autor, zu zeigen, dass es eine schöne Freundschaft war. Umso rätselhafter, warum Moritz ohne ein Wort gegangen ist. In diesem Dunkel liegt auch das Ende der Story, weil sie nirgends hinführt, weil das Rätsel nicht gelöst wird, nicht einmal ansatzweise. Nun könnte man sagen, dass der Ich-Erzähler, der so jung und unreif und orientierungslos ist, auf der Suche nach seinem Freund sich selbst findet, aber das ist überhaupt nicht der Fall. Da gibt es noch gar nicht viel zu finden, kaum Persönlichkeit, keine Ziele, keine brennende Leidenschaft für nichts. Eine halbgare Liebe zu Anna und die betäubende Wirkung von Drogen beschäftigen ihn eigentlich am meisten, Berlin als trendige Kulisse des Romans strotzt vor Möglichkeiten und vor Hipstern. Boris Pofalla schreibt gut, seine Prosa ist überlegt, elegant, sehnsuchtsvoll. Inhaltlich gibt Low aber viel zu wenig her, wabert ein wenig haltlos dahin, ist so merkwürdig unfertig wie sein Erzähler. Großes Potenzial, aber noch nicht auf den Punkt umgesetzt.

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Low von Boris Pofalla ist erschienen im Metrolit Verlag (ISBN 978-3-8493-0365-5, 222 Seiten, 20 Euro).
Ein paar versammelte Stimmen zu Low findet ihr beim Perlentaucher.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Louis„Zuerst kommt man nicht darauf zu fliehen, weil man gar nicht weiß, dass es ein Anderswo gibt“
Eddy wächst mit seinen Eltern und Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen in einem Dorf in Nordfrankreich auf. Die Familie aus der Unterschicht kommt einigermaßen über die Runden, aber trotzdem hat Eddy es schwer. Weil er anders ist. Weil er beim Reden gestikuliert, eine höhere Stimme hat, fein ist, schwach, mädchenhaft. Sie nennen ihn eine Schwuchtel, eine Tussi, von frühester Kindheit an – auch die eigenen Eltern, die an seiner fehlenden Rohheit verzweifeln. Sie können ihn nicht verstehen, können seine Andersartigkeit nicht akzeptieren und nicht lieben. Die Mischung aus fehlender Bildung, Klischees, Langeweile und reinem Hass ist explosiv für Eddy und er leidet unendlich an der Ausgrenzung – seine ganze Kindheit hindurch. Er wird in der Schule gedemütigt und verprügelt, obwohl er stets versucht, so zu sein wie alle. Aber es gelingt ihm nicht, er fühlt sich hingezogen zum eigenen Geschlecht, und auch wenn er es nie zugibt, spüren es alle. Eddy bleibt letztlich nur eins, um sich zu retten: die Flucht.

Édouard Louis, 22 Jahre alt und mittlerweile Student in Paris, erzählt in Das Ende von Eddy unter einem Pseudonym seine eigene Geschichte und hat damit in Frankreich eine große Debatte ausgelöst. Dieses mutige und aufrüttelnde Buch, das in 18 Sprachen erscheint und mit einem Preis für Engagement gegen Homophobie ausgezeichnet wurde, ist ein Plädoyer für Toleranz und Andersartigkeit, ein Statement gegen Schwulenhass und Unterdrückung. In einer sehr klaren, völlig schnörkellosen Sprache berichtet Édouard Louis von all den Peinigern, die ihm seine Kindheit zur Hölle gemacht haben, die ihn bespuckt, getreten und verhöhnt haben, weil er abweicht von der Norm. Er ist ein sensibler, kluger Junge, der verzweifelt alles dafür tut, seine innersten Neigungen zu verstecken, es aber nie schafft. Sein Buch ist keine flammende Hetzrede, kein wütender Racheakt. Es ist eine stumme Anklage, ein Fingerzeig, ein Rütteln an Vorurteilen und Gehässigkeiten.

In der Großstadt ist Édouard Louis kein Einzelgänger, hier gibt es viele wie ihn, doch auf dem Land hatte er als kleiner, schwuler Junge keine Chance. Hier herrschen Fußball, Alkohol und Gewalt. Ich habe mich schon oft gefragt, wie es sich anfühlen muss, wenn man als Teenager bemerkt, dass man homosexuell ist – mit welchen Gefühlen und Ängsten man zu kämpfen hat. Das Ende von Eddy, das für den Autor hoffentlich eine befreiende und vielleicht auch heilende Wirkung hatte, zeigt dies auf sehr eindrucksvolle, schockierende und aufwühlende Weise. Es ist ein ehrliches, kraftvolles Buch, dessen Geltung hoffentlich darin liegen wird, mehr Verständnis für homosexuelle Menschen zu generieren. Sie anzunehmen, wie sie sind – schon als Kinder. Deshalb sollte es gelesen und in die Welt getragen werden – so oft und so weit wie möglich!

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Das Ende von Eddy von Édouard Louis ist erschienen bei den S. Fischer Verlagen (ISBN 978-3-10-002277-6, 208 Seiten, 18,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Das Buch schockiert, weil hier jemand völlig unverblümt und mit sprachlicher Wucht von einer Kindheit erzählt, die scheinbar ausweglos ist. In der es unmöglich ist, anders zu sein als die anderen, und die Entdeckung der eigenen Homosexualität einer Katastrophe gleich kommt. Besser krank sein als schwul, besser Alkoholiker, Arbeitsloser oder was auch immer“, heißt es auf spiegel.de.
– „Konsequent macht Louis den Bruch deutlich, der sich durch sein Leben und die Gesellschaft zieht. Hier die Sprache der Dorfbewohner, im Buch stets kursiv gedruckt, durchzogen von Abwertung und Hass, die der Erzähler so präzise wiedergibt, als handele es sich um Gesprächsprotokolle einer empirischen Studie. Dort die elaborierte Sprache des Erzählers, die auf Reflexionsvermögen und Differenziertheit fußt. So entsteht eine beeindruckende Montage zweier Welten, die ein analytisches Sittenporträt der französischen Unterschicht zeichnet“, erklärt fr-online.de.
– Hier könnt ihr ein Interview mit dem Autor lesen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8460„Wenn sich hundert Schriftsteller in einem Raum zu einem Fest versammeln, kann alles Mögliche dabei herauskommen, nur kein Fest“
Ein Roman über eine wahre Geschichte hat ihn einst berühmt gemacht, über einen verschwundenen Lehrer, der eventuell ermordet wurde – von zwei Schülern. Von diesem Ruhm ist nur noch der Abglanz übrig, der Autor ist inzwischen alt, hat eine viel jüngere Frau und eine kleine Tochter – sowie einen Nachbarn, der ihn beobachtet. Er tut das, weil er ihm etwas zu sagen hat, weil er etwas weiß über jenen Lehrer, dessen Leiche nie gefunden wurde, weil er hautnah dabei war, damals. Neid und Missgunst und eine unterschwellig drohende Gefahr schwingen in den Briefen mit, die er dem Autor schreibt, und er schreckt auch nicht davor zurück, in dessen Ferienhaus Frau und Tochter auszuspionieren. Aber was will er? Und was hat der Schriftsteller zu verbergen?

Der Niederländer Herman Koch ist ein begnadeter Schreiberling. Seinetwegen bin ich zum Wiederholungstäter geworden. Wer mich kennt, weiß um meinen Nur-ein-Buch-pro-Autor-Spleen, und bei Herman Koch sind es nun schon drei. Weil er mich mit dem unfassbar fiesen Roman Angerichtet so angefixt hat, weil darauf Sommerhaus mit Swimmingpool folgte, das ebenfalls grandios war. Auf diesem Niveau bewegt sich für mich Sehr geehrter Herr M. nicht. Es ist ein sehr unterhaltsames, glänzend geschriebenes Buch, das in meinen Augen allein bestehen, aber im Vergleich mit seinen Vorgängern nicht ganz standhalten kann. Herman Koch erzählt darin eine durchaus perfide, spannende Geschichte voll von Geheimnissen, unerwiderter Liebe und Verrat. Und eigentlich sind diese müßigen Vergleiche ja der Grund dafür, dass ich nicht mehr als ein Buch vom selben Autor lesen will. Trotzdem komme ich jetzt von diesem Vergleichen nicht los. Das stört mich, weil es Sehr geehrter Herr M. schwächer macht, als es eigentlich ist.

Besonders gelungen sind die Beobachtungen des Nachbars, triefend vor Hohn und vor allem voller subtiler Drohungen. Lange Zeit ist völlig unklar, was der Nachbar bezweckt. Das macht diesen Roman so fesselnd und so gut. Allerdings verzettelt er sich gegen Ende ein wenig in den verschiedenen Perspektiven und verliert dadurch an Kraft, auch weil die Drohungen ins Leere gehen. Der Schlusspunkt ist in Koch’scher Manier gewohnt heftig, moralisch verwerflich und krass. Ein ausgezeichnetes Lies-mich-in-einem-Rutsch-weg-Buch, aber wer noch nie einen Koch gelesen hat, dem würde ich trotzdem erst einmal Angerichtet empfehlen.

Sehr geehrter Herr M. von Herman Koch ist erschienen bei Kiepenheuer und Witsch (ISBN 978-3-462-04738-7, 400 Seiten, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Das-Fest-des-Windrads1„Schöner wär’s, wenn’s schöner wär“
Greta ist Managerin und auf dem Weg nach Mailand, wo sie sich ihre wohlverdiente Beförderung abholen will. Bloß kommt Greta nie im schicken Mailänder Restaurant an, weil ihr Zug liegen bleibt – und zwar ausgerechnet in Oed. Was es dort gibt? Nix. Das ist ja das Problem. Und Taxifahrer Jurek fragt sich, was ihn hier hält im halbfertigen Haus seiner verstorbenen Eltern, ohne seine Ex-Frau und die mittlerweile erwachsene Tochter. Er macht als einziger Oeder Taxler kleine Fahrten und wünscht sich, endlich mal wieder bei einer Frau zum Schuss zu kommen – was ihm Gretas plötzliches Auftauchen vermasselt. Die erleidet erst einmal einen Schock. Und fängt dann an, sich völlig neu zu orientieren. Bis zum Fest des Windrads ist sie ein neuer Mensch.

Für ihren zweiten Roman hat die österreichische Autorin Isabella Straub das Provinznest Oed am Tiefen Graben als Kulisse gewählt. Dort wird Protagonistin Greta ausgebremst – und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Sie ist ein Highspeed-Leben gewohnt und kommt erst einmal nicht mehr vom Fleck. Diese Zwangspause sorgt dafür, dass sie einen neuen Sinn finden muss. Ihr Gegenspieler ist der Taxifahrer Jurek, in dessen Leben die unerwartete Begegnung ebenfalls eine Veränderung auslöst. Nun ist es so, dass der Klappentext bereits sagt, dass Das Fest des Windrads keine Liebesgeschichte ist. Ich hab mir aber ehrlich gesagt trotzdem eine erwartet. Irgendeine! Wenigstens eine kleine! Aber nö. Stattdessen ist dies eine richtig abstruse Story über Burn-out und Wunschvorstellungen, über Enttäuschungen und eine Versicherung vor dem Unglücklichsein. Alle im Roman auftretenden Figuren haben einen Knall. Deshalb ist das Buch eher auf der witzigen Seite unterwegs, schafft aber den Sprung zu fiesem Sarkasmus nicht. Es bleibt in der Mitte zwischen Klamauk und Gesellschaftskritik, bietet angenehme Unterhaltung – aber nicht mehr.

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Das Fest des Windrads von Isabella Straub ist erschienen im Blumenbar Verlag (ISBN 978-3-351-05017-7, 352 Seiten, 19 Euro).