„Zuerst kommt man nicht darauf zu fliehen, weil man gar nicht weiß, dass es ein Anderswo gibt“
Eddy wächst mit seinen Eltern und Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen in einem Dorf in Nordfrankreich auf. Die Familie aus der Unterschicht kommt einigermaßen über die Runden, aber trotzdem hat Eddy es schwer. Weil er anders ist. Weil er beim Reden gestikuliert, eine höhere Stimme hat, fein ist, schwach, mädchenhaft. Sie nennen ihn eine Schwuchtel, eine Tussi, von frühester Kindheit an – auch die eigenen Eltern, die an seiner fehlenden Rohheit verzweifeln. Sie können ihn nicht verstehen, können seine Andersartigkeit nicht akzeptieren und nicht lieben. Die Mischung aus fehlender Bildung, Klischees, Langeweile und reinem Hass ist explosiv für Eddy und er leidet unendlich an der Ausgrenzung – seine ganze Kindheit hindurch. Er wird in der Schule gedemütigt und verprügelt, obwohl er stets versucht, so zu sein wie alle. Aber es gelingt ihm nicht, er fühlt sich hingezogen zum eigenen Geschlecht, und auch wenn er es nie zugibt, spüren es alle. Eddy bleibt letztlich nur eins, um sich zu retten: die Flucht.
Édouard Louis, 22 Jahre alt und mittlerweile Student in Paris, erzählt in Das Ende von Eddy unter einem Pseudonym seine eigene Geschichte und hat damit in Frankreich eine große Debatte ausgelöst. Dieses mutige und aufrüttelnde Buch, das in 18 Sprachen erscheint und mit einem Preis für Engagement gegen Homophobie ausgezeichnet wurde, ist ein Plädoyer für Toleranz und Andersartigkeit, ein Statement gegen Schwulenhass und Unterdrückung. In einer sehr klaren, völlig schnörkellosen Sprache berichtet Édouard Louis von all den Peinigern, die ihm seine Kindheit zur Hölle gemacht haben, die ihn bespuckt, getreten und verhöhnt haben, weil er abweicht von der Norm. Er ist ein sensibler, kluger Junge, der verzweifelt alles dafür tut, seine innersten Neigungen zu verstecken, es aber nie schafft. Sein Buch ist keine flammende Hetzrede, kein wütender Racheakt. Es ist eine stumme Anklage, ein Fingerzeig, ein Rütteln an Vorurteilen und Gehässigkeiten.
In der Großstadt ist Édouard Louis kein Einzelgänger, hier gibt es viele wie ihn, doch auf dem Land hatte er als kleiner, schwuler Junge keine Chance. Hier herrschen Fußball, Alkohol und Gewalt. Ich habe mich schon oft gefragt, wie es sich anfühlen muss, wenn man als Teenager bemerkt, dass man homosexuell ist – mit welchen Gefühlen und Ängsten man zu kämpfen hat. Das Ende von Eddy, das für den Autor hoffentlich eine befreiende und vielleicht auch heilende Wirkung hatte, zeigt dies auf sehr eindrucksvolle, schockierende und aufwühlende Weise. Es ist ein ehrliches, kraftvolles Buch, dessen Geltung hoffentlich darin liegen wird, mehr Verständnis für homosexuelle Menschen zu generieren. Sie anzunehmen, wie sie sind – schon als Kinder. Deshalb sollte es gelesen und in die Welt getragen werden – so oft und so weit wie möglich!
Das Ende von Eddy von Édouard Louis ist erschienen bei den S. Fischer Verlagen (ISBN 978-3-10-002277-6, 208 Seiten, 18,99 Euro).
Noch mehr Futter:
– „Das Buch schockiert, weil hier jemand völlig unverblümt und mit sprachlicher Wucht von einer Kindheit erzählt, die scheinbar ausweglos ist. In der es unmöglich ist, anders zu sein als die anderen, und die Entdeckung der eigenen Homosexualität einer Katastrophe gleich kommt. Besser krank sein als schwul, besser Alkoholiker, Arbeitsloser oder was auch immer“, heißt es auf spiegel.de.
– „Konsequent macht Louis den Bruch deutlich, der sich durch sein Leben und die Gesellschaft zieht. Hier die Sprache der Dorfbewohner, im Buch stets kursiv gedruckt, durchzogen von Abwertung und Hass, die der Erzähler so präzise wiedergibt, als handele es sich um Gesprächsprotokolle einer empirischen Studie. Dort die elaborierte Sprache des Erzählers, die auf Reflexionsvermögen und Differenziertheit fußt. So entsteht eine beeindruckende Montage zweier Welten, die ein analytisches Sittenporträt der französischen Unterschicht zeichnet“, erklärt fr-online.de.
– Hier könnt ihr ein Interview mit dem Autor lesen.
Das ging mir auch so: dass das Buch mich ausgiebig beschäftigt hat und ich es unbedingt weiterempfehle! Viele Grüße!
Das ist ein Buch, das bestimmt niemanden kalt lässt…!
Ich habe das Buch im Regal stehen und freue mich nach deiner Begeisterung nun noch mehr auf die Lektüre! 🙂
Ich bin schon sehr gespannt auf deine Leseeindrücke!
Oh danke, Sie erinnern mich da an etwas was ich lesen will… Da noch den NZZ-Artikel dazu und ein schönes Foto dieses “Jünglings”. Ob der “Werther” so ausgesehen hat?
http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/abrechnung-und-aufbegehren-1.18513197
Könnte sein 😉
Und nun hab ichs auch gelesen und es hat mich enorm beschäftigt. Manchmal hatte ich beim lesen das Gefühl, alles sein ca 50 Jahre her, dann hat mich die Sprache aber wieder ins “Jetzt” geholt – ausserdem auch gut geschrieben, ich hoffe auf ein nächstes!
In meiner Buchhandlung sprechen wir immer wieder über das Buch. Wirklich beeindruckend. Ob er wohl nochmal etwas veröffentlichen wird?
Das ist eine gute Frage, da bin ich auch gespannt!