Bücherwurmloch

„Sommerabende versöhnen mich immer mit dem Leben“

„Als gäbe es nicht genügend Arschlöcher auf der Welt, die einen fertigmachen, ohne dass sie einen auch nur anfassen.“

Mit solchen Arschlöchern kennt Eva sich aus, es ist sogar gut möglich, dass sie selber eins ist. Das weiß man anfangs nicht so genau, Tatsache ist aber, dass sie eingeliefert wird in eine Klinik in Wien. Eine ganze Kindergartengruppe will sie erschossen haben, davon ist freilich nichts wahr. Von den anderen Dingen, die Eva dem Therapeuten Korb erzählt, vermutlich genauso wenig. Oder doch? Hat der Vater sie und ihren Bruder Bernhard missbraucht? Kommen die katholisch-scheinheiligen Glaubenssätze von Evas Kärntner Heimat zum Tragen? Oder ist das alles nur ein geschicktes Spiel ihrerseits, weil sie Bernhard – der in derselben Klinik wegen Magersucht behandelt wird – retten will?

„Den ganzen Tag sind sie zu mir gekommen, meine Sorgen, und ich habe sie vor Bernhard versteckt. So ist das eben, wenn man das Alphatier ist. Es kann nicht zwei geben, die sich ängstigen und zweifeln. Da muss der eine das Ruder übernehmen, damit der andere eine Richtung hat, in die er seine Furcht konzentrieren kann.“

Angela Lehner, die übrigens lustige Insta-Storys macht, und wenn ich das sage, ist das nicht abwertend gemeint, spielt mit den Klischees und mit der Erwartungshaltung des Lesers. Der findet ihre Protagonistin Eva mit Sicherheit nervtötend, will ihrem Verhalten aber unbedingt auf den Grund gehen, sie durchschauen. Eine unzuverlässige Ich-Erzählerin ist freilich nichts Neues, in dieser Konstellation – dass sie sich in einer Klinik und in Therapie befindet, dass sie sich nicht verzetteln darf in ihren doppelbödigen Lügen – aber erfrischend originell. Evas Ausdrucksweise ist lakonisch, sie ist sarkastisch, die Liebe zum Bruder ist vielleicht vielmehr ein undefinierbares Pflichtgefühl, ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Großartig finde ich die Dialoge zwischen den beiden und der Mutter, die auch ins Buch reindarf, nein, muss.

Außerdem bin ich bisserl neidisch auf Angela Lehner. Weil ihr Buch so unverschämt österreichisch sein darf. Jetzt hab ich ja einen Verlag, der mir auch viele Austriazismen gestattet, aber was Angela da geschrieben hat, das ist in Sachen Österreichischsein schon nochmal ein anderes Kaliber. Da hör ich das „Seawas“ richtig, da geht mir das Herzerl auf, da fühl ich mich daheim. Wie es dem gemeinen deutschen Leser damit geht, weiß ich nicht, und wurscht ist es mir auch – ich hab das sehr genossen. Überhaupt das ganze Buch, weil es so schön bissig ist und originell und dann aber tragisch und traurig, wie das Leben halt. Das ist Satire, das ist Gefühl, das ist schwarzer Humor – oder anders gesagt: Das ist eben österreichisch. Und manchmal meint dieses Adjektiv ja durchaus was Positives.

Vater Unser von Angela Lehner ist erschienen im Hanser Verlag (ISBN 978-3-446-26259-1, 288 Seiten, 22 Euro).

Bücherwurmloch

„Du wirst leicht wie eine Feder, alles ist rund und weich und schön“

„Aber wenn ihr Gesicht anschwillt, dann weiß ich doch, sie hat genug, sie hat’s verstanden. Nein, mein Alter musste noch mal reinlangen, und noch mal, und noch mal.“

So sind sie, die Typen in Sven Heucherts Geschichten: Zuhauer. Trinker. Gewalttätige, Abgesoffene, Arbeitslose, Einsame. Er schreibt nie über die, die glücklich sind. Oder nein, so ganz stimmt das nicht: Er schreibt über die, die vielleicht mal glücklich waren. Die das Glück sehen und riechen konnten und es jetzt umso mehr vermissen. Und über die, denen das Glück immer nur aus der Ferne zugewunken hat wie so eine hämische Fata Morgana. In Sven Heucherts Sprache, vor allem natürlich in den Dialogen, liegt, was man Lokalkolorit nennt. Er lässt seine Leute reden, wie ihnen das Maul gewachsen ist – und auf ebendieses Maul draufhauen lässt er sie auch.

In seinem großartigen Erzählband Asche hat er das Krasse, das Abgefuckte kultiviert. Sein neues Werk, die Story-Sammlung Könige von Nichts, ist sanfter. Da gibt es überraschend viele weiche Töne, da gibt es Wehmut und Verständnis und die Ahnung, wie schön alles sein könnte, eigentlich. Was es aber nicht gibt, ist Firlefanz. Weil Sven so reduziert und minimalistisch schreibt, wie er nur kann – das ist sein Ziel, das ist sein Ding. Und die Ironie liegt ja darin: Je weniger Worte, desto schwieriger. Blumig und ausschweifend, das kann fast jeder – am Punkt zu sein, gelingt nur wenigen. Ihm gelingt es, keine Frage. In den scharfen Alltagsbeobachtungen, in den kurzen Dialogen, die so voll sind mit Ungesagtem, in den Seufzern, die man seine Protagonisten ausstoßen hört. Sven Heuchert beschreibt nicht und erklärt nicht und rechtfertigt nicht. Er ist wie seine Figuren: Er haut direkt zu.

Und doch, die Wandlung ist da: Der Drive ist anders, der Ton auch. Könige von Nichts hat mehr Zärtlichkeit, mehr traurigen Charme des Scheiterns und – entschuldige, Sven, ich seh dich schon das Gesicht verziehen – es hat Herz. Well done.

„Der Tod kündigt sich nicht an. Ein Kuss, der sich schon lange nicht mehr so anfühlt. Ihre Körper werden unter der Decke wärmer. Füße berühren sich. Ein letzter Herzschlag. Ein letztes Mal atmen. Ein letztes Mal den Atem des anderen spüren. Wie er sanft über die Stirn hinwegstreicht. Es könnte jede Nacht geschehen, jetzt gleich, morgen.“

Könige von Nichts ist erschienen im Bernstein Verlag (ISBN 978-3-945426-39-5, 12,80 Euro).

Bücherwurmloch

„Nishinos Kuss schloss alles ein, was zu unseren vierzehn Jahren gehörte, und schloss zugleich alles aus. Wir küssten uns aus Leibeskräften“

„Warum hast du mit mir geschlafen?“, fragte ich.
„Weil du in mich verliebt bist, Tama“, antwortete er. Seine Stimme klang traurig. Anscheinend war er genauso traurig wie ich.

Das bringt wohl am besten auf den Punkt, wie Nishino ist: Die Frauen verlieben sich in ihn, ohne erkennbaren Grund, er verbringt Zeit mit ihnen, hat Sex mit ihnen, zieht dann weiter. Manche lieben ihn sehr, andere weniger, bei keiner bleibt er. Ein Kerl, den man Casanova nennen könnte, ist er nicht, dazu ist er zu wenig heißblütig, bricht die Herzen mit zu wenig Absicht und Spielerei. In zehn Geschichten beleuchtet die japanische Autorin Hiromi Kawakami, die in ihrer Heimat zu den Literaturstars gehört, eine Männerfigur, die von der Leichtigkeit der Liebe umgeben ist. Doch einer, der immer geliebt wird, aber niemals selbst liebt, kann die Tiefe dieses Gefühls gar nicht nachempfinden.

„Wir waren besorgt. Entrückt. Verzweifelt. Wir waren leicht. Drauf und dran, einander zu lieben. Dennoch verharrten wir an der Schwelle der Liebe, unfähig, sie zu überschreiten.“

Sie schreiben auf eine sehr eigene Art, die japanischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Sie beobachten ihre Figuren auf durchaus zugeneigte, dennoch distanzierte Weise. Eine seltsame Kühle liegt in allen japanischen Büchern, die ich gelesen habe, und es waren einige. Sie erzählen von Einsamkeit und der Unfähigkeit, einem anderen Menschen nahe zu kommen, von Gefühlen, denen zwar nachgespürt wird, die jedoch unergründlich bleiben. Und über allem liegt stets eine Aura von Traurigkeit.

„Nishino zu küssen, war wunderschön. Schöner als alles, was ich bisher gekannt hatte. Und dennoch fühlte es sich einsam an. Es war der einsamste aller Momente von Einsamkeit, die ich je erlebt hatte.“

Man wird nicht schlau aus Nishino und auch nicht aus den zehn Frauen, die ihn in diesem Buch lieben. Das muss man aber auch gar nicht. Dies sind vielmehr kurze Beobachtungen, ein Angebot an Möglichkeiten, das Hiromi Kawakami dem Leser unterbreitet. Über ihr Buch Der Himmel ist weiß, die Erde ist blau habe ich geschrieben: Sie zeigt, dass die Liebe viele Gesichter hat. Auch ganz fremde.
Das macht sie immer noch. Und sie macht es gut.

Die zehn Lieben des Nishino von Hiromi Kawakami ist erschienen bei Hanser (ISBN 978-3-446-26169-3, 192 Seiten, 20 Euro).

 

 

 

Bücherwurmloch

„So ist diese Welt auch. Sie ist nicht nur Krieg und Gier und Ausrottung der Arten. Sie besteht auch aus Ketten von Menschen, die aufeinander aufpassen“

„Wir sahen, dass die Menschen pausenlos träumen. Oder richtiger: In den Menschen träumt es pausenlos. So muss ich es wohl formulieren. Wir sahen, dass die Träume nicht dem einzelnen Träumer gehörten. Sie waren wie eine Masse, ja, eine Masse brodelnden, hektischen, ununterbrochenen Bewusstseins, einer Aktivität, welche die Menschen durchströmt und durch die Menschen ihren Ausdruck findet.“

Es geht um Kinder in diesem Buch, die in Träume gehen können und in Bilder und in die Vergangenheit. Es geht um Erwachsene, die einen Weg gefunden haben, tief im Inneren abgespeicherte Traumata sichtbar zu machen. Um einen Mann, dessen bester Freund sich das Leben nehmen will und der eine Frau wiedertrifft, die er schon als Kind geliebt hat – die sich jedoch nicht an ihn erinnern kann.

„Ich sah etwas in ihrem Blick, das vielleicht Liebe war. Das dauerte eine Sekunde, dann war es weg.“

Ich weiß nicht, was Peter Høeg getan hat. Nichts in diesem Roman ergibt Sinn und doch alles. Hätte ich ihn nur mit dem Verstand gelesen, hätte ich ihn genervt weggelegt. Aber das Buch hat mich in einem Moment erwischt, in dem ich offen war für leise Zwischentöne, in dem ich selbst dazwischen war. Und es hat mich getroffen. Sicher hat Peter Høeg eine Art Heimvorteil bei mir, weil ich als Teenager seinen Plan von der Abschaffung des Dunkels gelesen habe – und wenige Bücher haben mir damals so viel bedeutet. Ich habe Sätze daraus abgeschrieben, die ich heute noch auswendig kann.

Peter Høeg nimmt es mit dem Möglichen nicht so genau. Auch nicht mit dem Technischen, denn was er sich da zusammengesponnen hat über das Sichtbarmachen des Inneren eines Menschen, über Hologramme und das Hineingehen in den Schmerz der anderen, ist absurd. Und trotzdem folgt man ihm überallhin, dorthin, wo es wehtut, in die Erinnerung seines Protagonisten, in die Erinnerung der Probanden, die missbraucht und verletzt worden sind, die sterben wollten oder zusehen mussten, wie andere getötet wurden. In dieser Hinsicht ist Durch deine Augen brutal. „Wir stellen Fragen. Die Menschen müssen selber antworten“, sagt Lisa, die Leiterin dieses geheimnisvollen Instituts. Sie erforscht eine Art kollektives Bewusstsein, das Vermögen, zu heilen, das Wissen, dass alles mit allem zusammenhängt.

„Wir Menschen haben keine Sprache für unser Inneres. Die äußere Welt können wir mit großem Detailreichtum beschreiben. Aber das Innere ist für uns eben unbeschreiblich.“

Was, wenn man es tatsächlich sehen könnte? Was, wenn man seinen Körper vor sich hätte, ein Gebilde aus Verbindungen, mit Zentren für Liebe und Glück, für Trauer und Verlust, was, wenn man sich lösen könnte von diesem Zustand, der einen mit so viel Kummer erfüllt? Protagonist Peter zweifelt nicht. Er nimmt alles an, was er sieht, was er erlebt – und so war er schon als Kind. Als er und Lisa und sein nun so trostlos unglücklicher Freund jeden Tag, während die anderen Mittagsschlaf hielten, Reisen unternahmen, ohne den Kindergarten zu verlassen. Als sie herausfanden, wie sie schlimme Dinge verhindern können – und trotzdem einer von ihnen über eine Grenze ging, die ihn zu weit vom Leben fortgezogen hat.

„Wir glauben nicht, dass Kinder lieben können. Wir glauben, ihre Gefühle seien flirrender, zarter, weniger körperlich verankert. Wir irren. Kinder können mit überwältigender physischer Heftigkeit lieben.“

Das alles klingt verrückt? Ja. Das ist es auch. Und schön und verträumt und originell und einzigartig und intensiv und berührend, hochgradig merkwürdig, sehr emotional, ein Buch über das Träumen, aus dem man aufwacht, ohne so recht zu wissen, was einem geschehen ist. Man hat noch Bilder in sich und Gefühle und die Gewissheit, etwas gesehen zu haben, das man niemandem jemals wird begreiflich machen können. So ist es, Durch deine Augen zu lesen.

„Vielleicht kann ein Mensch so offen sein, dass sich nichts in ihm festbeißen kann, alles geht einfach durch ihn hindurch, sogar die Angst.“

Durch deine Augen von Peter Høeg ist erschienen bei Hanser (ISBN 978-3-446-26168-6, 346 Seiten, 24 Euro).

 

 

 

Bücherwurmloch

„Jemandem wie Ihnen möchte man im Dunkeln nicht begegnen“

„Wenn ich Menschen kennenlernte, hatte ich schon seit Langem die Angewohnheit, erst auf das Gesicht und dann auf die Hände zu sehen. Bei genauer Betrachtung ihrer Bewegungen kann ich etwas davon erspüren, was für ein Mensch sich hinter dem Gesicht verbirgt. Hände sind wie ein zweites Gesicht. Sie bewegen sich, zittern und versprühen Gefühle.“

Vielleicht ist das der Grund, warum der Bildhauer Jang Unhyong so gern Gipsabdrücke von Händen nimmt. Es ist nicht einfach für ihn, Modelle zu finden – er tut es nur bei Frauen –, die das zulassen, weil es freilich sehr intim ist, den eigenen Körper zur Verfügung und zur Schau zu stellen. Als er eine stark übergewichtige Studentin kennenlernt, ist er fasziniert von ihrer Schönheit, und es gelingt ihm, sie dazu zu bringen, sich langsam zu öffnen. Die beiden kommen sich näher, doch es ist nicht unbedingt Liebe, was sie verbindet, es ist etwas anderes. Die Sehnsucht, weniger einsam zu sein, vielleicht, oder die Lust, die im gegenseitigen Quälen steckt. Lange Zeit werden diese Frau und ihre vielfältigen Probleme den Künstler beschäftigen:

„Ich habe dann das Gefühl, dass nicht ich das Essen esse, sondern das Essen mich. Als würde ich einfach hinuntergewürgt oder als ob mir der Kopf abgerissen wird.“

Eingebettet ist diese Geschichte in eine Rahmenhandlung, die ich, offen gesagt, nicht gebraucht hätte – die Schriftstellerin, der Jang Unhyongs Tagebuch zugespielt wird, ist eine unnötige, kurz auftauchende Figur, die weder das Rätsel lösen kann noch sonst eine sinnvolle Funktion hat. Davon abgesehen, ist aber der Kern des Buchs – der Bericht des Schriftstellers – auf großartige Weise seltsam. Besonders lesenswert fand ich den ersten Teil über seine Kindheit, auch wenn sie – in Hinblick auf Masken und den Umgang der Menschen damit – manchmal arg plakativ dargestellt wird. Die Mechanismen liegen offen, da lässt Han Kang keine Zweifel aufkommen, sie ist in dieser Hinsicht nicht sehr subtil. Schön ist aber das Zarte an ihrer Sprache, das Beobachten aus der Distanz, sie ist mit ihren Figuren nicht sehr eng, bleibt eher unbeteiligt. Das gibt mir das Gefühl, dass sie ihre Regungen fast teilnahmslos beobachtet und seziert, eine gewisse Kühle liegt in der Tonalität. Das passt auch insofern, als dass es im Buch um den Versuch geht, sich anderen Menschen zu nähern – auf welche Art auch immer das gelingen kann. Was ist Schönheit? Wie nehmen wir unsere Körper wahr? Was tun wir, um Idealen zu entsprechen, denen wir gar nicht entsprechen können? Und: Ist man einmal in diesen Strudel gefallen, kann man ihm je entkommen? Han Kang erzählt von Magersucht und Einsamkeit und von dem Wunsch, mit Kunst all das auszudrücken, was der Mensch nicht sagen kann.

„Zuneigung hat etwas Einsames. Sie kann für einen Moment sehr heftig sein, ist aber nicht beständig. Man kann nicht auf sie zählen, weil sie sich verändert, verblasst oder für immer verschwindet.“

Deine kalten Hände von Han Kang ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03762-8 , 312 Seiten, 22 Euro).

Bücherwurmloch

Es ist mal wieder Zeit für #5aus300! Ich besitze nur ein Bücherregal. Und behalte ausschließlich Bücher, die so besonders sind, dass ihnen ein Platz in diesem Regal gebührt. Aber welche sind das? Seht selbst.

Der Hase mit den Bernsteinaugen ist eine stille Anklage, eine Hymne an das Leben, das immer, immer weitergeht, und es ist mit Abstand die emotionalste und daher beste Biografie, die ich je gelesen habe. Der renommierte Keramikkünstler und Professor Edmund de Waal erzählt darin wie ein „melancholischer kunsthistorischer Privatdetektiv“ anhand von 264 Netsuke – kleinen geschnitzten japanischen Figuren, mit denen Lackdosen am Kimonogürtel befestigt wurden – die bewegende Geschichte seiner Vorfahren.

„Möglicherweise muss man verletzt werden, ehe man überhaupt etwas begreift“, heißt es in Paperboy, der Geschichte über zwei Journalisten, die im Jahr 1965 eine große Story aufdecken. Pete Dexter war selbst 15 Jahre lang Zeitungsreporter und hat sich an den alten Grundsatz gehalten, über das zu schreiben, was man kennt. Dieses Buch ist ist wild und rau und ungnädig. Sehr geil ist das Ambiente der 60er, es wird geraucht, gesoffen, geflucht, die Arbeit der Journalisten ist seltsam unstrukturiert und frei, sie sonnen sich noch im Glanz ihres Berufsstands, und so mancher, der sich einen Namen gemacht hat, tut einfach, was er will.

Aquarium ist wie alle Bücher von David Vann wie ein Würgegriff: Dieser Autor verschont niemanden, seine Figuren nicht und seine Leser nicht. Wenn er was sagen will, dann haut er mitten in die Fresse, um den heißen Brei redet er nicht herum. Wo andere wegschauen würden, da greift er voll hinein. Mit seiner zwölfjährigen Protagonistin hat er ein Mädchen erdacht, das für sein geringes Alter vieles erdulden und verstehen muss – und dabei doch so gern einfach nur ein behütetes Kind wäre. Diese tiefe Sehnsucht nach einem intakten Zuhause, die in uns allen schlummert, ist der eigentliche Kern des Romans.

Mein Gott, ich liebe Zoli. Dass dies ein trauriges Buch ist, sagt einem sofort der Inhalt: Es geht um die Roma. Man muss schon ein Herz aus Stein haben, um von diesem Roman nicht getroffen zu werden: In einer eindrucksvollen Sprache mit herrlich schönen Metaphern beschreibt Colum McCann, wie das junge Zigeunermädchen Zoli zur Frau und – weil sie versucht, ihrem Volk eine Stimme zu geben – ausgestoßen und verflucht wird.

Es gibt ein altes Roma-Lied, in dem es heißt, dass wir anderen Menschen kleine Teile unseres Herzens geben, und je weiter wir im Leben voranschreiten, desto weniger vom Herzen bleibt für uns selbst, bis schließlich nicht mehr genug da ist. Man nennt es Reise, man nennt es auch Tod, und weil es uns allen so ergeht, gibt es nichts Gewöhnlicheres als das.

The language of flowers, auch auf Deutsch erschienen, ist so viel besser, als Cover und Titel vermuten lassen. Es handelt von der 18-jährigen Victoria. Sie lebt nach einer Kindheit und Jugend, in der sie von einer Pflegefamilie zur nächsten geschubst und schließlich im Heim untergebracht wurde, obdachlos in einem Park. Dort pflanzt sie einen kleinen Garten, denn Blumen sind das Einzige, was sie liebt, Blumen sind ihr Weg, sich auszudrücken. Auf kluge Weise verwebt die Autorin die längst vergessene Sprache der Blumen mit den Geschehnissen in ihrem Buch, und wie sie Victoria die Möglichkeit gibt, durch Blumen zu kommunizieren, weil ein Leben ohne Liebe und Fürsorge sie verstummen hat lassen, ist ergreifend und schön.

Bücherwurmloch

„Ich wollte, du wärst jetzt hier, bei mir, ich möchte mit dir reden, wie man schreibt, ich möchte, dass du mir vergibst, was niemand mir vergeben hat“

„Ich heiße Pauline Dubuisson, und ich habe einen Mann getötet.“ Es war ein spektakulärer Mordfall und ein noch spektakulärer Prozess: Mit 21 Jahren wurde Pauline Dubuisson 1950 für den Mord an ihrem Ex-Verlobten Felix verurteilt. Eigentlich zum Tode, doch nach einer langjährigen Gefängnisstrafe kam sie frei. Ihr Vater, an dem sie sehr hing, beging kurz nach ihrer Festnahme Selbstmord. Nachdem sie den Film gesehen hatte über ihr Leben, den Film mit Brigitte Bardot, floh sie aus dem Land und lebte fortan in Marokko, wo sie sich André nannte und ein neues Glück fand. Zumindest ein kurzes Glück, denn als sie dem Mann, in den sie sich verliebt hatte, erzählte, wer sie war, reagierte er wie alle Männer in ihrem Leben: Er erniedrigte sie, er ließ sie im Stich.

Der französische Autor Jean-Luc Seigle hat sich einer wahren Geschichte angenommen und ein fiktives Buch darüber geschrieben: Er lässt Pauline Dubuisson erzählen. Er lässt sie so zu Wort kommen, wie niemand es in ihrem Leben getan hat. Um ihrer Familie zu helfen, hat sie im Zweiten Weltkrieg im besetzten Frankreich für einen deutschen Arzt gearbeitet und wurde nach Kriegsende von einem wütenden Mob, der ihr nach dem Leben trachtete, geschlagen, geschoren, beinahe getötet. Sie wurde derart brutal mehrfach vergewaltigt, dass das Sterben nicht mehr nur eine Möglichkeit, sondern schon fast eine sichere Tatsache war. Massiv traumatisiert, begann sie ein Medizinstudium – und traf auf Felix. In den sie sich verliebte. Den sie brauchte, um zu heilen. Der sie erneut verletzte, so tief wie alle, tiefer noch vielleicht.

Und dieses Buch ist keine Rechtfertigung, ist kein Reinwaschen von Schuld. Es ist ein Bericht, ein Aufzeigen der Wahrheit, die keinen Platz gefunden hat in dieser Welt – weil diese Welt von Männern dominiert wird. Und weil es die Wahrheit einer Frau war. Was Pauline Dubuisson angetan wurde, ist kaum in Worte zu fassen – Chapeau, dass Jean-Luc Seigle es versucht hat. Dass er sich herangewagt hat an diese Dunkelheit, aus der seine Protagonistin schreibt. An manchen Stellen ist sein so Buch so heftig, so intensiv und schlimm und tragisch, dass ich aufhören musste zu lesen. Ich hatte Brechreiz und Herzrasen und Gänsehaut. Nichts sollte mich noch überraschen an dieser Menschheit, und doch: Manchmal trifft mich das, was sie tut, mitten ins Herz. Wie die Geschichte von Pauline.

„Ich hatte noch nicht verstanden, dass nicht die Liebe oder das Begehren oder die Sexualität eine Frau ausmacht, sondern ihre wunderbare Fähigkeit, dem Leben zu trotzen und es zu verwandeln, wie kein Mann es je könnte.“

Ich schreibe Ihnen im Dunkeln von Jean-Luc Seigle ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-69718-0, 207 Seiten, 19,95 Euro).

Bücherwurmloch

„Bei Leuten, die sich vor einen Zug schmeißen wollten, war Strottenheim eine große Nummer“

„Großmutter Lucia war so fest im Boden verankert, dass sich ihre Füße beim Gehen nur wenige Millimeter von der Erde lösten. Großmutter Lucias Fußabdrücke waren keine Fußabdrücke, sondern Furchen. Die Spuren meiner Mutter waren ganz anders. Wenn sie einen Weg entlanglief, sah man hier und da nur kleine Dreiecke im Schnee.“

Milla Enders lebt mit Mutter, Großmutter und Onkel Juno in einem kleinen Ort, der nur für eines berühmt ist: seine Lage an der Bahnstrecke. Die wird nämlich regelmäßig von Selbstmördern genutzt, die hier ihrem Leben ein Ende setzen. Bevor sie das tun, trinken sie ein letztes Bier und rauchen eine letzte Zigarette – in der Sportkneipe von Millas Oma. Milla und der drei Jahre ältere Juno, mit dem sie Dinge tut, die Nichte und Onkel nicht tun sollten, machen sich manchmal einen Spaß daraus, die Selbstmörder bis zum Bahndamm zu verfolgen. Eines Abends macht Milla das bei Kalle, der dann doch nicht stirbt, sondern wieder auftaucht. Dafür verschwindet Juno spurlos.

Vor knapp einem Jahr habe ich Franziska Wilhelm in Leipzig kennengelernt – sie hat die Lesungen in der Moritzbastei moderiert. Als ich erfahren habe, dass sie einen Roman geschrieben hat, wollte ich ihn unbedingt lesen. Was für ein heiteres, liebevoll gemachtes Buch! Angelegt als klassische Roadtrip-Story, überrascht der Roman mit dem langen Titel mit guten Plottwists und ungewöhnlichen Figuren. Es ist ja immer schön, wenn alle ein wenig schrullig sind. Da gibt es den Paketzusteller Kalle, der alle Pakete einfach selbst behält, den ruhelosen Juno, der plötzlich weg ist, und Protagonistin Milla, die leicht überspannt, innerlich auf der Suche und vor allem recht liebenswert ist.

Dies ist ein wirklich gut lesbares Buch, kauzig und anders und gerade in seiner Andersartigkeit besonders. Wer gern Geschichten liest, die schmunzeln machen, ist hiermit perfekt beraten. Well done, Franziska!

Bücherwurmloch

„Ich freue mich mit der Freundin, sage ich mir, ich freue mich mit der Freundin, und schon hat die Freundin das Kind und ich habe Verständnis“

Sie möchten ein Kind, und es kommt nicht. Sie möchten ein Kind, und sie versuchen, eins zu kriegen, sie ernähren sich gesund, machen Sport, gehen zum Arzt, nehmen Tabletten. Die Beziehung leidet darunter ebenso wie die Freundschaften – denn alle anderen sind fruchtbar. Alle anderen wissen es besser. Man ist falsch, wenn man kein Kind bekommen kann, man hat keine Berechtigung.

„Heimlich sammle ich Fehlgeburten. Ich weiß, dass es grundfalsch ist, sich am Unglück anderer zu weiden. Dass der Biss ins Leere geht. Und dass der Schmerz dadurch nicht kleiner wird, weiß ich auch. Das ist mir wurscht.“

In einem bissigen Ton erzählt Gertraud Klemm im ersten Teil von dem Versuch, schwanger zu werden. Lakonisch und bitter ist dieses Beschreiben des Teufelskreises, in dem man steckt – vor allem natürlich als Frau. Sarkasmus und das Elend der Wahrheit gehen dabei Hand in Hand.

„Ich sehe Kindern zu, wie sie ihre Eltern beim täglichen Einander-Hassen beobachten. Ich sehe Kindern beim Traumatisiert-Werden zu. Das ist alles zulässig, denn diese Leute haben ein Recht darauf, ihre Kinder zu zerstören, weil sie sie geschaffen haben.“

Da die gewünschte Schwangerschaft sich nicht einstellt, beschließt das Ehepaar, ein Kind zu adoptieren. Davon handelt der zweite Teil von Muttergehäuse. Und es hagelt weiterhin in Zynismus verpackte Erkenntnisse über die Art, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen – und wie sie mit anderen Eltern umgehen. Über die Bosheiten, die sie einander sagen – offen und unterschwellig. Über die Urteile, die sie fällen, wenn eine Familie nicht so ist, wie die Norm es vorgibt. Und was ist schon die Norm? Wer hat das Recht, sie festzulegen, wo ihr doch ohnehin niemand entspricht?

„Es ist immer eine bessere, fürsorglichere, aufopferungsbereitere Mutter in Hörweite.“

Was ich schön an diesem Buch finde: Auch als das Kind dann da ist, als es ein Kind gibt im Leben der Frau, die dadurch Mutter wird, ändert sich der Ton nicht. Sie wird nicht weich, sie wird nicht anders. Sie hat nach wie vor ihren scharfen Blick, ihre Bosheit.

„Ich bin jetzt auch so eine Mutter. Diemütter haben zwei Beine, vier Räder und große Taschen. Diemütter haben Brüste dabei, oder geben sonstwie Milch. Diemütter vergleichen die Rückbildung der Mutterorgane, und manches wird nicht wieder gut. Diemütter sein heißt: Tage enden nicht. Diemütter reden immer über dasselbe.“

Muttergehäuse ist ein entlarvendes, fieses Buch, das nicht mit Klischees aufräumt, wie sollte es das, sondern vielmehr all diese Klischees beschreibt, zum Thema macht, untersucht, ausbreitet. Nichts wird dadurch besser, nichts kann sich dadurch ändern. Es ist nicht lustig, das zu lesen, es tut zu weh. Dies ist ein Buch, das man lesen sollte, bevor man Mutter wird, das man aber erst verstehen kann, wenn man Mutter ist.

Muttergehäuse von Gertraud Klemm ist erschienen bei Kremayr & Scheriau (ISBN 978-3-218-01023-8, 160 Seiten, 19,90 Euro).

 

Bücherwurmloch

Was habt ihr im Februar so für Wälzer in den Händen gehabt? Bei mir waren es eher dünnere Bücher und wie immer haben mich, wie könnte es anders sein, nur wenige davon überzeugt. Kurz und knapp hier ein bisschen mehr dazu:

Lesley-Ann Jones: Freddie Mercury
Nachdem ich den Film mit dem mittlerweile oscarprämierten Rami Malek gesehen hatte, wollte ich mehr über Freddie Mercury und Queen wissen. Diese Biografie ist reicht an Informationen und Daten, allerdings ging mir der reichlich parteiische Ton der Autorin zwischenzeitlich arg auf den Wecker.

Han Kang: Deine kalten Hände
Mein erstes Buch der bekannten Autorin, und ich war positiv überrascht. Eine reichlich weirde, verdrehte, aber seltsam interessante Story über einen Bildhauer, der Abdrücke von Händen macht, über Magersucht und Einsamkeit. Darüber werde ich euch noch mehr erzählen.

Hiromi Kawakami: Die zehn Lieben des Nishino
Sie schreiben einfach auf unvergleichliche Art, die Japaner. Zärtlich, dennoch irgendwie distanziert, mit einer großartigen Beobachtungsgabe, dabei aber immer wohlwollend nüchtern. In diesem Buch geht es um einen Mann, den alle Frauen lieben, die Geschichten sind sehr unterschiedlich und allesamt schräg. Davon möchte ich euch auch noch genauer berichten.

Kristen Roupenian: Cat Person
The hype, the hype! Ich mochte an den Storys, dass sie so ungewöhnlich sind. Dass sie Konventionen brechen, manchmal grausig sind, in jedem Fall abstrus, mit wahnwitzigen Einfällen und nie dagewesenen Charakteren. Was ich aber nicht so mochte, war die Sprache, da hätte ich mir mehr Sätze gewünscht, die wirklich Eindruck hinterlassen, die sich einbrennen, bei denen man denkt: Wow. Das hat mir sehr gefehlt.

Ellen Dunne: Schwarze Seele
Nach dem Erstling Harte Landung hat Ellen Dunne die Handlung rund um ihre Ermittlerin Patsy Logan fortgesetzt. Mit reichlich Einblick in deren Seelenleben, was mir sehr gut gefällt. Ich bin keine klassische Krimileserin, die Krimihandlung war für mich daher eher eine Art Bonuszuckerl, solide gemacht.

Peter Hoeg: Durch deine Augen
Eine Geschichte, die sich liest wie ein Traum. In der sich Realität und Fantasie verweben zu etwas, das es so nicht gibt und nicht geben kann. Und die ich gerade deshalb grandios fand. Peter Hoeg hat mich damit in einem Moment erwischt, in dem ich sehr empfänglich war für leise Zwischentöne. Demnächst mehr dazu.

Theresa Prammer: Auf dem Wasser treiben
Ein leichter, seichter Unterhaltungsroman über eine Familie, die seit vielen Jahren den Vater vermisst und in der nur die Mutter dessen Geheimnis kennt. Keine originelle Story, recht flache Figuren, aber gut wegzulesen, wenn man mal etwas zum Entspannen für zwischendurch braucht.

Barbara Zeman: Immerjahn
Das hab ich leider nach knapp 40 Seiten abgebrochen, da konnte ich mit dem Stil wenig anfangen.

Lea Singer: Der Klavierschüler
Ein Roman, der mir viele Aha-Momente beschert hat, bei dem ich aber auch oft zweifelnd und ratlos die Stirn gerunzelt habe. Es geht um den Klaviermeister Horowitz und einen seiner Schüler, der mit ihm eine Beziehung hatte. Davon erzählt er Jahrzehnte später einem Fremden. Ich werde euch auf jeden Fall noch mehr darüber berichten.

Simone Meier: Der Kuss
Das hätte wirklich witziger und prägnanter sein dürfen, das hat mich eher enttäuscht.

Marion Brasch: Lieber woanders
Ein ebenfalls seichtes, nettes Büchlein, das man in ein, zwei Stunden durch hat. Ungefähr so, wie sich eine Fernsehkomödie anzusehen.