Außer Konkurrenz, Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8947„Besonders erregend ist das Küssen in der Schlange der Zahnklinik“
Ich rede oft und viel über Sex. Ich bin absolut schamlos und ziemlich tabubefreit. Man könnte auch sagen, ich sei vulgär. Aber: Ich lese nie über Sex. Keine erotische Literatur – zumindest nicht absichtlich und bewusst, es kann natürlich sein, dass in einem Buch mal gevögelt wird. Dann fand ich allerdings den Titel von Marinotschka, du bist so zärtlich irgendwie cool. Und hab mir gedacht: Warum nicht, probierst du eben mal was Neues aus. Jetzt ist es so, dass ich das Buch gelesen habe. Und ja, es geht um Sex. Es geht sogar ausschließlich um Sex. Bloß gibt es keine zusammenhängende Geschichte – und deshalb fällt’s mir eher schwer, euch Bericht zu erstatten über den Inhalt. Und immer, wenn das der Fall ist, lasse ich das Buch selbst sprechen. Aber eins noch vorweg: Die russische Autorin Marina Lioubaskina schreibt witzig, rührend und einigermaßen tabulos, völlig bunt zusammengewürfelt; sie unterbricht die Erzählfragmente immer und immer wieder, um Lyrische Exkurse – L. E. genannt – einzufügen, und hat stets einen sarkastischen Unterton. Ich hab nicht die geringste Ahnung, was sie mir mit all dem sagen will. Vielleicht einfach nur, dass es Sex gibt auf dieser Welt – und dass der eben manchmal gut und manchmal schlecht ist. Das klingt dann so:

„Er hat mich mit der Peitsche geschlagen, obwohl wir das nicht vereinbart hatten. Ich bin nicht masochistisch veranlagt. Na, vielleicht ein ganz kleines bisschen. Aber das heißt noch lange nicht, dass irgendein Dahergelaufener sich einfach so erlauben kann, mich mit der Peitsche zu bearbeiten. Elender Mistkerl, blödes fettes Schwein!“

„Nastja, du hast recht, wenn man die Härchen um die Brustwarzen herum ausreißt, statt sie abzurasieren, kommen sie nicht so schnell wieder.“

„Paschka vögelte mich immer in fremden Wohnungen, auf fremden Betten, fremden Sofas, Klappsesseln, ausziehbaren Couches, bezogen mit bereits benutzter Bettwäsche, manchmal einfach auf dem Boden, auf einem staubigen, mit Krümeln übersäten Teppich. Im Sozialismus war das so üblich.“

„Drängen und Dringen in mich hinein, sein Finger holt die Feuchtigkeit aus meinem Inneren hervor und tränkt mit dieser Feuchtigkeit den erregten zentralen Punkt meiner weiblichen Existenz, Wogen, Wogen bis zur Erschöpfung, meine Hand weicht zurück und dringt voller Kraft, mit der gesamten Handfläche zur feuchten Quelle vor, gleitet durch die Spalte der nachgebenden Felsen-Beine, mehr! mehr! mehr! MEHR! MEHR! MEHR! MEHR! MEHR!“

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Marinotschka, du bist so zärtlich von Marina Lioubaskina ist erschienen im konkursbuch Verlag (ISBN 978-3-88769-676-4, 256 Seiten, 14,90 Euro).

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Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8946„Wenn wir nicht tanzen, sterben die Menschen trotzdem“
Auf der Suche nach einem Geschenk für seine Freundin Lisa findet der Journalist Elias Ehrenwerth einen alten Koffer aus Leder. Die Initialen L. W. passen erfreulicherweise zu Lisa. Doch als er entdeckt, dass der Koffer einst einem gewissen Leonard Weinheber gehörte, wird Elias neugierig: Wer war das? Ist er noch am Leben? Er liest alte Briefe und ein geheimnisvolles Manuskript. Schnell wird dabei klar, dass Weinheber als Jude 1939 Deutschland Richtung Palästina verließ – nicht freiwillig. Aber kam er dort jemals an? Elias will Antworten – und reist selbst nach Palästina …

Weinhebers Koffer ist ein kleines Buch aus dem kleinen Dörlemann Verlag, einzig die Geschichte ist nicht klein: Sie handelt von einer großen Liebe. Von Verfolgung, Berufsverbot und Gefahr. Von den Problemen in Israel und vom Lauf der Geschichte, die uns alle beiseite wischt und bedeutungslos macht. Der Schweizer Autor Michel Bergmann, selbst 1945 als Kind internierter jüdischer Flüchtlinge geboren, lebt in Berlin und hat von Filmen über Romane bereits viele Werke vorzuweisen. Er erzählt in einem recht schnellen, fast schon atemlosen Tempo von einem Mann auf der Suche nach einem anderen. Protagonist Elias, der Ich-Erzähler, wandelt auf den Spuren von Weinheber, der ein großer Schriftsteller hätte werden können in einer anderen Zeit. Fasziniert von Weinhebers Manuskript und den Briefen seiner Liebsten, taucht Elias ein in die Vergangenheit. Allerdings leider nicht allzu tief, denn auf den gerade mal 140 großzügig gesetzten Seiten entwickelt sich kein Epos, kein vielschichtiger Generationenroman, das Thema wird sehr einfach behandelt, mit klaren Worten und klaren Emotionen. So bleibt Weinhebers Koffer ein kleines Lesevergnügen – aber ein feines.

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Weinhebers Koffer von Michel Bergmann ist erschienen im Dörlemann Verlag (ISBN 9783038200161, 144 Seiten, 17 Euro).

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Noch mehr Futter:
– „Michel Bergmann hat eine besondere Gabe, die sicherlich auch seinem Erfolg als Drehbuchschreiber zuzuordnen ist: er kann in verschiedenen Ebenen, Sprachstilen und äusserst pointierten Dialogen schreiben“, schwärmt der Durchleser.
– „Unvergessen ist das Gefühl, welches ich hatte, als ich das erste Mal diesen schmalen und mit blauem Leinen wunderschön gestalteten Band in der Hand hielt. Etwas unwiderstehlich Geheimnisvolles strahlte von ihm aus“, erzählt Masuko13 auf We read Indie.
– „Dieser kurze, und auf den ersten Blick recht unscheinbare Roman flößt einem beim Lesen soviel Angst und Schrecken ein, dass man im ersten Moment froh ist, damals nicht gelebt zu haben“, heißt es bei Frauhauptsachebunt.

Gut und sättigend: 3 Sterne

FitzgeraldSchnippschnapp, Penis ab
Catriona wollte Joe heiraten, in Italien, wo er lebt. Eine Woche vor der Hochzeit kam sie zurück nach Schottland, um sich von ihrer Familie und ihren Freunden zu verabschieden – auch von ihren Ex-Freunden. Sie hatte ein letztes Mal Sex mit Achmed, Johnny und Rory. Unglücklicherweise wurden all diese Männer danach ihrer Männlichkeit beraubt und ermordet. Jetzt sitzt Catriona im Gefängnis – und versucht krampfhaft, sich zu erinnern. Hat sie wirklich ihren Ex-Lovern die Penisse abgeschnitten und sie umgebracht? Sie schreibt alles, was sie noch weiß, auf und spricht darüber mit der Journalistin Janet, die sie entlasen soll. Dummerweise entsteht daraus aber ein reißerisches Buch, das Catriona erst recht in die Scheiße reitet. Sie ist jedoch immer mehr davon überzeugt, unschuldig zu sein – und bittet ihre Mutter um Hilfe. Doch es scheint Catrionas größtes Problem im Leben zu sein, dass sie stets den falschen Menschen vertraut …

Immer, wenn ich Helen FitzGerald lese, denke ich als Erstes: Sie kann gar nicht schreiben. Ich finde, ihre Sätze kommen verstörend ungelenk daher, wirken oft wie falsch aneinandergereiht, sind kurz und nicht unbedingt gut formuliert. Aber trotzdem faszinieren mich ihre Bücher – wegen der originellen Geschichten. Für Helen FitzGerald werde ich sogar trotz meines Spleens zur Serientäterin. Sie ist eine Meisterin der verrückten Einfälle und der absurden Wendungen. Vor allem stehe ich auf ihre Tabulosigkeit. Da wird gefickt und gemordet, geflucht, gekotzt und gequält. Die erfolgreiche Autorin, die in Australien geboren ist und in Schottland lebt, ist extrem direkt. Sie redet nicht um den heißen Brei herum, sie gatscht mitten hinein und schleudert ihn dem Leser ins Gesicht. Zwischen all meinen tieftraurigen und melancholischen Büchern finde ich was derart Böses und Wahnsinniges sehr erheiternd.

Helen FitzGerald schert sich auch nicht um eine sinnvolle Erzählstruktur mit gleichbleibenden Perspektiven. Deshalb kommen in Ex sowohl Catriona und Janet als auch ihre Mutter, die beste Freundin Anna und Joe vor. Jeder Blickwechsel wirft ein neues Licht auf die Ereignisse – und kaum ist alles ganz anders, ändert es sich schon wieder. Wenn ich ehrlich bin, ist nichts davon glaubwürdig. Aber unterhaltsam. Irre. Sardonisch. Ein Mordsspaß. Die Gartenschere auf dem Cover? Mit der wurden die Schwänze abgeschnitten. Ha! Lest Helen FitzGerald, wenn ihr euch ein bisschen crazy shit reinziehen wollt. Enjoy!

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Ex von Helen FitzGerald ist erschienen bei Galiani Berlin (ISBN 978-3-86971-081-5, 240 Seiten, 14,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8759Die Französische Revolution im Kleinen
Mit seinem Vater hat der junge Baron de l’Aubépine sich nie verstanden, wurde er doch schon als Kind von ihm tyrannisiert. Kaum ist der Alte tot, zieht der neue Herr auf das Gut Les Perrières. Er entlässt die gesamte Gefolgschaft und behält nur den Wildhüter Lambert, dessen schwangere Frau nun auch im Schloss kochen und putzen muss. Lambert, der einzig am Wohlergehen seiner Hunde und seiner Tochter interessiert ist, begegnet dem jungen Baron mit Argwohn: Er hat merkwürdige, revolutionäre Ansichten – und sehr ungewöhnliche sexuelle Vorlieben. Der launische Adelige, der oft monatelang fort ist oder aus unerfindlichen Gründen sein Zimmer nicht verlässt, will seinen eigenen Stand abschaffen und eine neue Weltordnung einführen. Dabei versteift er sich immer mehr auf die Figur Victor Hugos – und als er diesen aus seinem Exil entführen will, greift Lambert mit seiner Familie zu sehr extremen Mitteln, um es zu verhindern …

Monsieur Lambert und die Ordnung der Welt ist der sechste Roman des französischen Schriftstellers Francois Vallejo, der auch als Professor für Altphilologie arbeitet – und sich zudem offenbar mit historischen Ereignissen auskennt. Für dieses Buch hat er die Zeit rund um die Französische Revolution als Rahmenbedingung gewählt und erzählt eine hochgradig merkwürdige Geschichte. Das große Ganze berichtet vom Clash der Meinungen, vom Unverständnis jener, die von der Abschaffung des Adels eigentlich profitieren sollten: Sie wollen nicht, dass das, was immer schon so war, sich plötzlich ändert. Allerdings verstehen sie von dieser Veränderung auch zu wenig, um zu beurteilen zu können, weil sie beschäftigt sind mit Arbeiten, tagein, tagaus, weil ihnen die Bildung fehlt, und so bleiben sie einfach still. Im Kleinen bedeutet das: Wildhüter Lambert, ein bescheidener, folgsamer Mann, findet den aufrührerischen Baron einfach nur verrückt und fühlt sich von ihm und seinen Ansichten in seiner Weltordnung bedroht. Man muss ihm aber auch zugutehalten, dass sein Herr durchaus manisch-depressive Züge aufweist und sich in einen Wahn hineinsteigert.

Da sind die vielen Frauen, die nach einer Nacht das Schloss völlig verstört verlassen, da ist Lamberts hübsche Tochter, an der der Baron viel zu viel Interesse zeigt – welcher Vater wäre da nicht auf der Hut? Und: Kann man sich sicher fühlen, wenn man von abgerichteten Bluthunden beschützt wird, oder findet das Schicksal immer einen Weg, um zuzuschlagen? Monsieur Lambert und die Ordnung der Welt ist ein historischer Roman, der den Wandel der Zeit aufzeigt anhand zweier Männer, die sich in Stand und Ansicht völlig unterscheiden. Dies ist ein brutaler, irgendwie gruseliger Roman, in dem die Gefahr von Anfang an spürbar ist – und schließlich Realität wird. Man weiß einzig nicht, wen sie treffen wird. Ein guter Exkurs in die Geschichte und ins Innere des Menschen.

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Monsieur Lambert und die Ordnung der Welt von Francois Vallejo ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 9783351032319, 253 Seiten, 19,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8761Auf der Flucht vor sich selbst
„Das erste Mal fühlte ich die Angst, als mein Vater Kornkreise in ein Feld trat und meine Mutter mich losschickte, um ihn nach Hause zu holen, bevor die Nachbarn etwas bemerken konnten.“ Und dann beginnt die Angst allmählich sein Leben zu beherrschen, obwohl Georg noch ein Kind ist. Es geht ihm wie dem Vater, dessen Paranoia das Familienleben überschattet und der immer wieder in die Klinik muss. Doch obwohl die Eltern das Problem erkennen müssten, gehen sie alles andere als verständnisvoll und sanft mit ihrem Sohn um, sie beladen ihn mit Schuld und machen ihm ein schlechtes Gewissen, das er nie wieder loswird: Wenn du wirst wie dein Vater, sagt ihm die Mutter, bring ich mich um. Dennoch gelingt es dem erwachsenen Georg, ein halbwegs normales Leben zu führen, er heiratet und hat eine Arbeit. Bis auf dem Naschmarkt vor seinen Augen ein Mädchen von einem Auto angefahren wird und seine Paranoia endgültig durchbricht …

Der österreichische Autor Jürgen Bauer hat mit seinem zweiten Roman Was wir fürchten ein Buch geschrieben, dessen Titel Programm ist: Es geht darin um Angst. Und zwar um eine zwanghafte, unbezwingbare, völlig außer Kontrolle geratene Angst, die wir Paranoia nennen. Den Rahmen der Erzählung bildet ein Gespräch, das Georg mit einem Mann führt, von dem man nicht genau weiß, ob er ein Therapeut ist oder woher sie sich kennen. Klar wird das erst am Ende – in einer sehr genialen Auflösung. Innerhalb dieses Gesprächs kehrt Georg in Rückblicken an bestimmte Zeitpunkten seines Lebens zurück, um sie zu erzählen und die Zusammenhänge zu erklären. So berichtet er von seiner Kindheit, den Schrecken des Ferienlagers, dem Ende seiner Ehe. Und vor allem von der Angst, von den Gedanken in seinem Kopf, von seiner verzerrten Perspektive, von dem Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden, immer, nirgends sicher zu sein, nie.

Geschickt spielt Jürgen Bauer mit dem Vertrauen und der Gutgläubigkeit des Lesers: Welche Wahrnehmung ist die richtige? Ist Georg einfach nur völlig verrückt oder hat er womöglich sogar Recht? Alles ist brüchig, jeder könnte ein Lügner sein. Der Schluss wirft ein völlig neues Licht auf die Ereignisse, was ich ausgezeichnet fand – ich habe das Buch mit einem zufriedenen Lächeln geschlossen. Etwas angestrengt haben mich ehrlich gesagt die vielen Wiederholungen, die der Autor wie Mantras immer und immer wieder einbaut, für meinen Geschmack zu oft. Aber: Das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch, wenn man sich erst einmal dran gewöhnt hat. Ein Vergnügen war es auch, Jürgen Bauer auf der Leipziger Buchmesse persönlich kennenzulernen, als ich sein Treffen mit Gérard Otromba gecrasht und mich ganz frech einfach azugesetzt habe. Zuvor hatte ich bereits seinen Erstling gelesen und dann meinen eigenen Paranoia-Moment gehabt: An dem Tag, an dem später meine Besprechung zu Das Fenster zur Welt online gehen würde, lag morgens das neue Buch im Postkasten. Das ich gar nicht angefordert hatte. Und der Verlag konnte ja noch gar nicht wissen, dass ich Das Fenster zur Welt rezensiert hatte. Dennoch lag ein Brief dabei, in dem mir für mein Interesse gedankt wurde. Ich fühlte mich gestalkt und verfolgt. Und das passt perfekt zu Was wir fürchten

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Was wir fürchten von Jürgen Bauer ist erschienen im Septime Verlag (ISBN 978-3-902711-38-0, 264 Seiten, 21,90 Euro).

Mehr Futter:

– „Jürgen Bauers Roman ist nicht nur ein galantes Verwirrspiel zwischen Wahn und Wirklichkeit, sondern der gelungene Beweis dafür, dass nicht alles im Leben kontrollierbar ist“, schreibt Sophie von Literaturen.
– „Jürgen Bauers Schreibstil ist dabei so fesselnd und einnehmend, dass ich das Buch in nur zwei Tagen regelrecht verschlungen habe und es kaum zur Seite legen konnte“, schwärmt Petzi von dieliebezudenbuechern.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Moore_24723_MR2.indd„Es gibt Fehler, die mitten auf dem freien Feld stehen und um Liebe betteln“
David Slaney ist nach vier Jahren Haft aus dem Gefängnis ausgebrochen und auf der Flucht. Dorthin gelangt war er, weil er mit seinem Freund Hearn zwei Tonnen Marihuana von Kolumbien nach Neufundland schmuggeln wollte. In die Quere kamen ihnen der Nebel und die Fischer, von denen sie verpfiffen wurden. Nun wollen sie im Jahr 1968 einen zweiten Versuch wagen – und ausgerechnet den gleichen Coup noch einmal machen. Dabei könnte Slaney mit Jennifer, der Frau, die er liebt, und ihrer Tochter einfach fliehen und ein neues Leben beginnen. Stattdessen fährt er noch einmal hinaus aufs offene Meer, ins Hurrikangebiet, mit einem Koffer voll Geld, einem alkoholkranken Skipper und dessen Jahrzehnte jüngerer Freundin – und mit der Polizei direkt auf seinen Fersen.

Lisa Moore gehört zu den bekanntesten Autorinnen Kanadas. Für ihren dritten Roman Der leichteste Fehler hat sie sich einen jungen, charismatischen Helden erdacht – gut aussehend und verwegen. Und geldgierig. Und dumm. Von Anfang an liegt der drohende Untergang in der Luft – und es scheint klar zu sein, dass bei der zweiten Drogenschmuggelmission erneut alles schiefgehen wird. Ich möchte hineinspringen in das Buch und mich David Slaney in den Weg stellen, ihn hindern daran, sich selbst das Leben zu zerstören. Nebenfigur Patterson, der Polizist, der auf Slaney angesetzt ist, will ihn unbedingt schnappen, um befördert zu werden – und hat in den 1960er-Jahren nicht annährend die Überwachungsmöglichkeiten zur Verfügung, die es heute gibt. Er nutzt aber einen neuartigen Peilsender, von dem Slaney nichts ahnt. Ihm gegenüber schwanke ich permanent zwischen Mitleid und Selbst-schuld-Unverständnis.

Lisa Moore bedient sich einer überraschend männlichen Sprache, wenn ich ein so unfundiertes Adjektiv verwenden darf. Sie ist barsch, rau, geprägt von Adrenalin, Testosteron und Abenteuerlust. Zwischendrin jedoch schillert sie in den genialsten Farben und zeigt sich ebenso melodisch wie poetisch – besonders auf den ersten Seiten. Mit ihrem erstklassigen Stil hat sie mich gleich gefangen, inhaltlich kommt mir die Story zu langsam in die Gänge – es dauert ewig, bis das Schiff endlich ablegt. Zudem sind die Wendungen doch eher vorhersehbar. Dennoch bietet Der leichteste Fehler feine, niveauvolle und actionreiche Unterhaltung.

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Der leichteste Fehler von Lisa Moore ist erschienen bei Hanser Literaturverlage (ISBN 978-3-446-24723-9, 368 Seiten, 22,60 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8510Ein Buch mit biblischer Wucht
„Es sind doch bloß Geschichten, Jonah. Bloß Geschichten, die wir uns aus dem zusammenreimen, was uns zugestoßen ist. Wir dichten den Ereignissen Sinn oder Moral an, beschließen, dass sie nur so passieren können, wie es die Vorsehung will und nicht etwa der Zufall.“ Das sagt Judith zu Jonah, als Jonah Judith endlich findet und ihr alles erzählt. Aber beginnen wir am Anfang. Da hat Jonah, 32 Jahre alt, noch seinen Job als Anwalt in New York, Aussichten auf eine Partnerschaft, den Arsch voll Arbeit, eine Freundin namens Sylvia, die ebenfalls zur Elite der Besserverdiener gehört, und eine Geliebte namens Zoey. Nach einem wirren Gespräch mit einem orthodoxen Juden hat er plötzlich Visionen und sieht beispielsweise alle Menschen nackt. Diese Ausnahmezustände erschüttern ihn bis ins Mark: „Da wusste er, was so schlimm an seinen Visionen war, weshalb sie ihn so erschrecken und quälen konnten und sein Leben mit einem Mal so öde und leer erscheinen ließen: Sie stimmten.“ Zunehmend verliert er seine Ziele aus den Augen, und innerhalb kürzester Zeit bricht das Leben, das er so sorgsam und mit viel Mühe aufgebaut hat, um ihn herum in Stücke: Er verliert seinen Job, seine Wohnung sowie beide Frauen – und fast seinen Verstand. Gescheitert geht er nach Amsterdam, wo er Judith trifft. Sie trägt eine tragische Geschichte mit sich herum, denn ihre Eltern sind bei 9/11 gestorben. Ihre gesamte Kindheit und Jugend lang war sie die Beste in der Schule und an der Uni, doch dann warf sie alles hin und arbeitet mittlerweile für einen korrupten Casinobesitzer in L. A. Dort sucht Jonah nach ihr – und nach der Erlösung.

Das Buch Jonah von Joshua Max Feldman ist ein schwergewichtiges Opus. Im Klappentext heißt es: „Mit leichter Hand versetzt Joshua Feldman die biblische Geschichte von Jonah und dem Wal in unsere moderne Welt.“ Dem „leicht“ möchte ich allerdings entschieden widersprechen, denn leicht ist in diesem Roman gar nichts. Sehr schwergewichtig und pathetisch kommt das Debütwerk von Joshua Max Feldman daher – was wohl Sinn macht, wenn man bedenkt, dass er sich zur Inspiration nichts Geringeres als das Alte Testament ausgesucht hat. Um diesen Roman zu verstehen, muss man nicht unbedingt in Bibelkunde bewandert sein, das Original rund um Jona und den Wal zumindest in den Grundzügen zu kennen, hilft aber durchaus. Wobei ich jedoch gestehen muss, dass ich die Parallelen nicht unmittelbar erkennen kann, denn der „echte“ Jona soll ja in Gottes Auftrag einer Stadt von ihrem Untergang künden, wird von einem Wal verschluckt und wieder ausgespuckt. Davon lässt sich eigentlich nichts auf den modernen Jonah umlegen. Er ist ein Abziehbild von einem amerikanischen Emporkömmling, der in der New Yorker Anwaltsszene Karriere gemacht hat und plötzlich nicht mehr so unbeteiligt ist, wie er es immer war: „Er merkte, dass er eine grundlegende Fähigkeit verlor – dass sie ihm abhandenkam: die Fähigkeit, wegzusehen.“ Das ist die Basis für all die Veränderungen in Jonahs Leben.

Das Buch Jonah hat gute und weniger gute Stellen. Oftmals ist es sehr verwirrend und abgedreht, weil es stilistisch und inhaltlich die Orientierungslosigkeit des Protagonisten spiegelt. Das ist beim Lesen sehr anstrengend und herausfordernd. Dann wieder zeichnet der Autor seinen Helden sehr weich, zeigt ihn verletzlich und verloren. Auch Judith bekommt eine eigene Perspektive, die vielleicht nicht ganz konsequent durchgezogen ist, aber durchaus ihr Gewicht hat. Insgesamt ist dieser Debütroman ein ganz eigenes Kaliber: originell und einzigartig, gehaltvoll und intensiv, abstrus und unerklärlich. Auf jeden Fall ein ganz besonderes Erlebnis.

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Das Buch Jonah von Joshua Max Feldman ist erschienen im C. Bertelsmann Verlag (ISBN 978-3-570-10203-9, 400 Seiten, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8240Das traurigste Buch
Luca ist zehn Jahre alt und kennt seinen Vater nicht. Er lebt in einer Wohnung mit seiner Mutter, die manchmal verliebt ist und manchmal niedergeschlagen, er geht in die Schule und hat einen Freund. Und eines Morgens hat er auf einmal auch ein großes Problem: Seine Mama liegt tot im Bett. Was soll er tun? Wenn er die Polizei ruft, muss er ins Waisenhaus, und da will Luca auf keinen Fall hin. Also lässt er seine Mama vorerst einfach mal, wo sie ist, und versucht, seinen Alltag weiterzuführen. Er wäscht und kämmt sich, geht allein zur Schule und sogar mit Freunden ins Kino, kümmert sich um Kater Blue und bereitet sich einfache Mahlzeiten zu. „Mama sagt, dass dicke Kinder als Erwachsene eine Menge Probleme bekommen, ich bin nicht dick und habe schon jetzt eine Menge Probleme.“ Nachts ist die Angst am schlimmsten, und am Wochenende flippt er fast aus, aber er hält tapfer durch. Allerdings wird sein Problem immer größer statt kleiner: Der Kühlschrank ist bald leer, die sauberen Unterhosen gehen ihm aus, und zu allem Übel fängt die Mama auch noch an zu stinken …

Meine erste Lüge der italienischen Autorin Marina Mander ist ein unfassbar trauriges Buch. Es ist, als hätte die Schriftstellerin die Traurigkeit selbst zwischen Buchdeckel gepresst und in Worte gegossen. Das liegt weniger an ihrem eher gewöhnlichen Stil als vielmehr an der Situation, in die sie ihren zehnjährigen Protagonisten schubst: Nicht nur, dass ihm die Mutter wegstirbt, nein, sie verwest auch noch im Schlafzimmer, während er verzweifelt versucht, so normal weiterzumachen wie möglich. Er kämpft mit schier unmenschlicher Tapferkeit und bleibt dabei seltsam stoisch und cool: „Man kann keine Hausaufgaben machen, wenn einem die Mama gestorben ist.“ Ich gehe fast ein vor Mitleid. In dieser Hinsicht ist Meine erste Lüge sehr emotional und aufwühlend. Recht viel mehr hat der Roman jedoch nicht zu bieten, denn das Beschriebene ist ganz einfach alles, was geschieht. Ich habe das ganze Buch über auf eine Lösung des Problems gewartet und war am Ende recht enttäuscht. Was will Marina Mander uns wohl sagen? Dass das Leben ein Kübel Scheiße ist, der manchmal über einem Zehnjährigen ausgeschüttet wird.

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Meine erste Lüge von Marina Mander ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05543-7, 192 Seiten, 16,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Steinfest„Selbst die eingebildeten Dinge müssen gelebt werden“
Es ist exakt 23.02 Uhr, als vor Theos Fenster plötzlich ein grünes Rollo runterrattert. Ein Rollo, das der Zehnjährige noch nie gesehen hat und das seines Wissens niemand an seinem Fenster befestigt hat, weil seine Eltern etwas dagegen haben, die Zimmer abzudunkeln. Er hat Angst, ist aber auch fasziniert – besonders, als er entdeckt, dass er durch das Rollo eine fremde Welt namens Nidastat betreten kann. Dort trifft er auf Anna, die in einer lebensbedrohlichen Lage steckt und seine Hilfe braucht, um den Männern mit den Feldstechern zu entkommen. Jahrzehnte später ist Theo längst ein erfolgreicher Astronaut und hält die Episode mit dem Rollo für eine fantasievolle Phase aus seiner Kindheit. Doch dann verschwindet Anna erneut …

Heinrich Steinfest ist offenbar ein bisschen verrückt. Zumindest schreibt er Bücher, die es sind. Das war mir gar nicht so bewusst. Ich habe vor Jahren sein Buch Nervöse Fische gelesen, das ich als sehr gut in Erinnerung behalten habe und das auch schon recht durchgeknallt war, schwamm doch da einer im Pool, den ein Hai totgebissen hatte. Da um Steinfests letzte Romane ein recht großer Hype entstanden ist und er 2014 mit Der Allesforscher auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, bin ich neugierig geworden auf sein aktuelles Buch. Der österreichische Autor erzählt darin die Geschichte eines Jungen, der etwas ganz Unglaubliches erlebt: Er steigt in ein grünes Rollo, das jede Nacht um 23.02 Uhr vor seinem Fenster auftaucht, und erlebt Abenteuer in einer völlig anderen Welt. Diese Teile sind im Buch in grüner Schrift gehalten. Theos Ausflüge erinnern freilich ein wenig an Phantásien und die unendliche Geschichte – ein Vergleich, der naheliegt, dem Das grüne Rollo aber nicht standhalten kann. Das ist bei Michael Ende allerdings wohl ohnehin unmöglich. Trotzdem aber beeindruckt Heinricht Steinfest mit der Macht seiner Fantasie und seinen obskuren Einfällen: ein Messer namens Lucien, eine Weltraumkatze, eine Schwester, die es vorher gar nicht gab.

Das Beste an diesem Buch ist das Ende – weil Heinrich Steinfest hier mit einer großen Überraschung aufwartet. Plötzlich fügt sich alles zusammen, plötzlich ergibt alles Sinn – und mit diesem sehr schönen Aha-Moment schließt sich der Kreis. Das fand ich ausgesprochen gut. Davor hat mich die Lektüre aber ehrlich gesagt oft ein wenig ratlos gemacht und verstört, ich bin wohl nicht so der Typ fürs Absurde. Das grüne Rollo ist gut zu lesen, flüssig geschrieben, in einem ganz eigenen Duktus: Wer dieses Buch aufschlägt, lässt die altbekannten Regeln hinter sich und erlebt etwas Neues, Fantastisches, Bizarres. Darauf muss man sich einlassen, ohne es zu hinterfragen. Dann lässt sich mit dem grünen Rollo ganz ausgezeichnet Spaß haben.

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Das grüne Rollo von Heinrich Steinfest ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05661-8, 288 Seiten, 19,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Die neurologische Entzifferung zum Schluss holt die Geschichte zurück auf den Erdboden der Aufklärungsgesellschaft, dem man sich gerade so wohlig enthoben fühlte“, befindet buecherrezension.com.
– Ein witziges kurzes Interview mit dem Autor findet ihr hier.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Goshen„Wenn du der Einzige bist, der etwas weiß, dann ist dieses Etwas weniger real“
Stell dir vor, du bist Neurochirurg und fährst nach einer langen Schicht übermüdet mit deinem Jeep in die Wüste, um dich noch ein wenig auszutoben. Stell dir vor, du steigst aufs Gas und überfährst plötzlich einen Menschen. Du siehst sofort, dass du ihn nicht retten kannst. Du lässt ihn liegen. Du lässt ihn sterben. Dabei hältst du dich für einen guten Menschen, und deine Frau, die Kriminalbeamtin ist, bewundert dich für deine Moral. Du erzählst ihr nichts, du willst alles vergessen. Stell dir vor, die Witwe des Toten steht am nächsten Tag vor deinem Haus, und sie könnte dir alles nehmen, was du hast – deine Frau, deine Kinder, deinen Job –, indem sie dich verrät. Du bietest ihr Geld, aber das will sie nicht. Sie zwingt dich zu etwas ganz anderem. Und weil du etwas so Furchtbares getan hast, bist du ihr ausgeliefert …

Die israelische Autorin und Psychologin Ayelet Gundar-Goshen wurde 2013 mit ihrem ersten Roman Eine Nacht, Markowitz bekannt. Ich habe ihn nicht gelesen, aber er hat mich neugierig gemacht – auf diese junge Schriftstellerin, der so viel Talent und Fingerspitzengefühl zugeschrieben wird. Beides besitzt sie auch, wie sie mir mit Löwen wecken gezeigt hat. Das Besondere an diesem Buch ist das Setting, die Ausgangssituation, die sich hervorragend eignet, um moralische Fragen aufzuwerfen und mit ihnen zu jonglieren: Einer, der besser gestellt ist und weiß, überfährt einen, der ungewollt ist und schwarz – einen afrikanischen Flüchtling. Ist dieser Mensch weniger wert? Ist es gerechtfertigt, dass der Arzt nicht seinetwegen alles aufs Spiel setzen will? Ist es gerechtfertigt, dass man Boote mit seinesgleichen sinken lässt? Feinsinnig und mit viel Intelligenz ergründet Ayelet Gundar-Goshen eine Existenz, die auf einmal auf der Kippe steht, einen Mann, der sich für unfehlbar gehalten hat, und eine Ehe, die von dem plötzlichen Schweigen beinahe erdrückt wird.

Löwen wecken ist ein sehr gutes Buch, das noch um einiges intensiver wäre, wenn es zwischendrin nicht so lange Durststrecken hätte. Während die handlungs- und temporeichen Stellen sehr spannend und gelungen sind, verliert sich die Autorin dann wieder so sehr in uninteressanten Details, dass ich ihr gar nicht mehr folgen mag. Das nimmt mir persönlich sehr viel von meinem Lesevergnügen. Mit dem Ende hat Ayelet Gundar-Goshen mich durchaus überrascht, aber, ich gestehe es, nicht unbedingt begeistert. Was bleibt also zu sagen über dieses Buch, das mich so in einen Wigelwagel gestürzt hat? Dass die Frage, ob es uneingeschränkt zu empfehlen ist, genauso schwer zu beantworten ist wie die ethischen Fragen, die es stellt: Ja und Nein. Ihr solltet es aber dennoch lesen, weil es ein Stück Menschsein zu Papier bringt und erlebbar macht.

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Löwen wecken von Ayelet Gundar-Goshen ist erschienen im Kein & Aber Verlag (ISBN 978-3-0369-5714-2, 432 Seiten, 23,50 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Ayelet Gundar-Goshen schreibt über das individuelle Schicksal eines Mannes, der in sich ein Raubtier entdecken muss, das er dort nicht vermutet hätte“, schreibt Sophie von Literaturen.
– „Der Psychologin Ayelet Gundar-Goshen ist ein dichtes, ungemein berührendes Werk über das Aufeinanderprallen der ersten und dritten Welt gelungen. Machtmissbrauch und Schuld sind auf beiden Seiten mannigfach vorhanden“, heißt es bei Ruth Justen.
– „Die Autorin balanciert gekonnt zwischen den beiden Welten. Weisheit, Gefühl und jede Menge Schmerz bestimmen diesen  Roman zwischen harmonischem Familienglück und tragischer Realität in der Wüste Sinai“, schwärmt Jacqueline Masuck auf We read Indie.