„Eigentlich konnte man sich hier nirgends richtig festhalten“
„So also war es, einander wiederzusehen! Launisch, fragmentarisch wie der Blick in einen zersprungenen Spiegel – mit scharfen Kanten und blinden Flecken.“ Zwanzig Jahre lang haben sich Vincent, Paul, Lotte und Martin nicht gesehen, nun folgen Vincent und Paul der Einladung von Lotte und Martin, die schon lange zusammenleben, und fahren mit dem Zug zu ihnen ans Meer. Sie unterhalten sich über die neueste Zeitungsmeldung – die mögliche Unsterblichkeit des Menschen – und Belanglosigkeiten und berühren nie das Thema, das alle vier einst verbunden hat: das Klettern. Als Studenten waren sie mit Begeisterung in den Bergen unterwegs. Ihren letzten gemeinsamen Kletterurlaub verbrachten sie in den Lofoten nördlich des Polarkreises, und was dort geschah, hat ihre Bande aufgelöst. Nun steht das Wiedersehen unmittelbar bevor – und obwohl in den zwanzig Jahren viel geschehen ist, sind die Erinnerungen noch frisch.
Drei Männer, eine Frau, die Berge und viel Schnee – das sind die Zutaten, die der niederländische Autor Stephan Enter zu einem spannenden, aber nicht unbedingt spektakulären Roman vermixt. Seine vier Figuren waren einst Freunde oder zumindest Kletterpartner, die sich aufeinander verlassen konnten, und haben sich dann aus den Augen verloren. Als junge Studenten suchten sie den Kitzel der Gefahr und die Hitzigkeit von Diskussionen. Und so glücklich wie damals sind sie tatsächlich nie wieder gewesen. Lotte als einzige Frau hat jeden der drei Männer irgendwie beeindruckt, sie war nicht auf klassische Weise schön, aber intelligent und scharfzüngig. In einen der drei war sie verliebt, mit einem anderen teilt sie ein Geheimnis, und den dritten hat sie geheiratet. Doch obwohl Lotte der schillernde Dreh- und Angelpunkt der damaligen Ereignisse ist, bleibt sie im Buch als Einzige stumm, was ich sehr schade finde – zu gern hätte ich auch ihre Stimme gehört und ihren Blick auf die Dinge gesehen.
Wenn angekündigt wird, dass es einst bei einem Kletterurlaub in den Bergen ein dramatisches Geschehnis gab, ist die Auswahl freilich beschränkt: Ich erwarte einen Absturz, Mord, Verrat, Betrug. Was ich bekomme, entspricht der erwarteten Dramatik nur bedingt. Ich übe mich in Geduld, ich warte ab, bin gespannt auf das Platzen der Bombe, die Ohrfeige der Überraschung, den Knalleffekt, als alle einander endlich wiedersehen. Doch all dies bleibt aus, es gibt nur eine Vorbereitung darauf, dann ist plötzlich alles zu Ende, die Energie verpufft – und ich schaue durch die Finger. In so einem Fall stellt sich freilich immer die Frage, ob die Erwartungen einfach zu hoch waren, von einem unglücklich formulierten Klappentext aufgeputscht, oder ob die Enttäuschung berechtigt ist. Warum füttert mich Stephan Enter mit so viel Smalltalk zwischen Vincent und Paul, warum dehnt er zu Beginn alles aus und nimmt sich am Ende nicht mehr die Zeit, die losen Enden zusammenzuführen? Wieso ist dieses Geheimnis von damals, das er mir recht bald verrät, so einigermaßen harmlos und schmal, dass ich ihm kaum die Sprengkraft zutraue, die es gehabt haben soll? Zu viele Fragen bleiben für mich offen, und all das, was die Charaktere einander nie gesagt haben, scheint mir recht klischeehaft bzw. angesichts dessen, dass die Konfrontation ausbleibt, belanglos. Stilistisch überzeugt Stephan Enter mich sehr, und ich denke, dass er das Lob, das er bekommt, absolut verdient – und dass es vermutlich schwierig ist, in einem so melancholischen Stil einen spannungsgeladenen Roman zu schreiben. Ich war mit diesem Buch wohl wie ein unerfahrener Bergsteiger: Ich habe mir das Spektakuläre erhofft und dabei das kleine Schöne am Wegrand (fast) übersehen.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: für mich eins der schönsten Cover bisher 2013. Der Nagellack war übrigens vorher nicht drauf.
… fürs Hirn: das Wissen, dass Erinnerungen trügerisch sind und die Jugend schnell verfliegt.
… fürs Herz: Martin und Lottes kleine Tochter.
… fürs Gedächtnis: eher ein enttäuschtes Gefühl, denn auf dem Gipfel angekommen, zeigte sich der Ausblick nebelverhangen.
Im Griff von Stephan Enter ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3827010995, 224 Seiten, 17,99 Euro).









