Und könnte man 100 Jahre leben
Mathea Martinsen ist richtig alt – und richtig allein. Seit dem Tod ihres Mannes Epsilon verbringt die Greisin ihre Zeit mit Einkaufen, Backen und Nachdenken. Sie lässt ihr Leben Revue passieren, das nicht sehr aufregend war, da sie es zum Großteil in ihrer Wohnung verbracht hat. Sie konnte keine Kinder bekommen und übte keinen Beruf aus, sie hat keine einzige Freundin, und ihre extreme Schüchternheit hat jeden engeren Kontakt zu den Nachbarn verhindert: „Ich war ständig auf der Hut. Wenn mich jemand nach dem Weg fragte, rannte ich, so schnell ich konnte, in die andere Richtung.“ Jetzt, so denkt Mathea, bleibt ihr eigentlich nur noch eins: zu sterben. Also wartet sie auf den Tod, dem sie gleichzeitig aber am liebsten entwischen würde: „Nachts liege ich nicht mehr gern auf dem Rücken, ich fühle mich wie eine Leiche, besonders, wenn ich meine Beine dicht nebeneinanderlege, wie ich es fast immer tue, und die Hände falte. Das Gefühl, in einen Sarg zu passen, ist äußerst unbehaglich, also liege ich jetzt meistens auf dem Bauch, die Knie nach außen gedreht wie ein Frosch, ich habe flexible Hüften.“ Irgendwie geht das mit dem Sterben dann aber doch nicht so leicht, und solange Mathea noch nicht tot ist, erinnert sie sich eben.
Die norwegische Autorin Kjersti A. Skomsvold hat ein schmales Büchlein geschrieben über die Sentimentalität des Abschieds und unser Empfinden, dass das Leben verfliegt wie ein einziger Tag – selbst wenn es 100 Jahre währt. Die Geschichte ist der Erinnerungsmonolog einer alten Frau, aber niemals langweilig oder eintönig, im Gegenteil: Mathea erzählt witzig, erfrischend und mit herrlicher Naivität von kleinen und großen Begebenheiten wie dem Tod des Hundes, der Begegnung mit dem Nachbarsjungen oder dem Kauf von Marmeladegläsern, die sie gar nicht öffnen kann. Nach und nach rekonstruiert Kjersti A. Skomsvold aus all diesen Begebenheiten ein Leben – zumindest in einzelnen Splittern, die ich mit dem Klebstoff der Fantasie zu einem Gesamtbild zusammensetzen kann. Dieses Bild zeugt von Stille und Einsamkeit, einer Einsamkeit, die jedoch selbst auferlegt war und von Mathea nie als unangenehm empfunden wurde. Sie hat nichts, wirklich gar nichts gemacht in ihrem Leben – aber sie war damit zufrieden.
Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich ist eines dieser kleinen, feinen, gemütlichen Bücher, die so unaufgeregt daherkommen, die aber auch nichts Großes bewirken. Sehr rührend ist, wie das Zusammenleben zweier alter Menschen beschrieben wird, die ein bisschen schrullig und sehr eng zusammengewachsen waren. Ich fühle mich gut aufgehoben in dieser wunderbaren, melancholischen und auch hoffnungsfrohen Geschichte mit glitzernden Details, aber ich vermisse einen bedeutungsvollen Aha-Moment, einen Dolchstoß, irgendetwas, das mir besonders in Erinnerung bleiben würde. Dennoch ist der Roman mit seiner liebevoll arrangierten Sammlung aus kleinen Anekdoten, skurrilen Gedanken und schmunzeln machenden Ereignissen durchaus lesenswert.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: den Titel finde ich genial, das junge springende Mädchen scheint mir nicht unbedingt so passend.
… fürs Hirn: die Fabelhaftigkeit des Lebens und unsere Pflicht, es auszukosten.
… fürs Herz: das Kind, das es dann nie gab.
… fürs Gedächtnis: die vielen amüsanten Aussagen Matheas, wie zum Beispiel: „Ich gehe in Richtung Kirche hinab und fühle mich dick. Besonders an den Oberschenkeln. Ich habe gehört, dass das eine normale Reaktion ist, wenn man vom anderen Geschlecht abgewiesen wird.“
sehr schöne rezension…du machst mich richtig neugierig auf das buch :o)
das wird wohl gleich auf meinem wunschzettel landen…
lg
Eine hervorragende Idee! Bin gespannt auf deinen Eindruck!