Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8761Auf der Flucht vor sich selbst
„Das erste Mal fühlte ich die Angst, als mein Vater Kornkreise in ein Feld trat und meine Mutter mich losschickte, um ihn nach Hause zu holen, bevor die Nachbarn etwas bemerken konnten.“ Und dann beginnt die Angst allmählich sein Leben zu beherrschen, obwohl Georg noch ein Kind ist. Es geht ihm wie dem Vater, dessen Paranoia das Familienleben überschattet und der immer wieder in die Klinik muss. Doch obwohl die Eltern das Problem erkennen müssten, gehen sie alles andere als verständnisvoll und sanft mit ihrem Sohn um, sie beladen ihn mit Schuld und machen ihm ein schlechtes Gewissen, das er nie wieder loswird: Wenn du wirst wie dein Vater, sagt ihm die Mutter, bring ich mich um. Dennoch gelingt es dem erwachsenen Georg, ein halbwegs normales Leben zu führen, er heiratet und hat eine Arbeit. Bis auf dem Naschmarkt vor seinen Augen ein Mädchen von einem Auto angefahren wird und seine Paranoia endgültig durchbricht …

Der österreichische Autor Jürgen Bauer hat mit seinem zweiten Roman Was wir fürchten ein Buch geschrieben, dessen Titel Programm ist: Es geht darin um Angst. Und zwar um eine zwanghafte, unbezwingbare, völlig außer Kontrolle geratene Angst, die wir Paranoia nennen. Den Rahmen der Erzählung bildet ein Gespräch, das Georg mit einem Mann führt, von dem man nicht genau weiß, ob er ein Therapeut ist oder woher sie sich kennen. Klar wird das erst am Ende – in einer sehr genialen Auflösung. Innerhalb dieses Gesprächs kehrt Georg in Rückblicken an bestimmte Zeitpunkten seines Lebens zurück, um sie zu erzählen und die Zusammenhänge zu erklären. So berichtet er von seiner Kindheit, den Schrecken des Ferienlagers, dem Ende seiner Ehe. Und vor allem von der Angst, von den Gedanken in seinem Kopf, von seiner verzerrten Perspektive, von dem Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden, immer, nirgends sicher zu sein, nie.

Geschickt spielt Jürgen Bauer mit dem Vertrauen und der Gutgläubigkeit des Lesers: Welche Wahrnehmung ist die richtige? Ist Georg einfach nur völlig verrückt oder hat er womöglich sogar Recht? Alles ist brüchig, jeder könnte ein Lügner sein. Der Schluss wirft ein völlig neues Licht auf die Ereignisse, was ich ausgezeichnet fand – ich habe das Buch mit einem zufriedenen Lächeln geschlossen. Etwas angestrengt haben mich ehrlich gesagt die vielen Wiederholungen, die der Autor wie Mantras immer und immer wieder einbaut, für meinen Geschmack zu oft. Aber: Das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch, wenn man sich erst einmal dran gewöhnt hat. Ein Vergnügen war es auch, Jürgen Bauer auf der Leipziger Buchmesse persönlich kennenzulernen, als ich sein Treffen mit Gérard Otromba gecrasht und mich ganz frech einfach azugesetzt habe. Zuvor hatte ich bereits seinen Erstling gelesen und dann meinen eigenen Paranoia-Moment gehabt: An dem Tag, an dem später meine Besprechung zu Das Fenster zur Welt online gehen würde, lag morgens das neue Buch im Postkasten. Das ich gar nicht angefordert hatte. Und der Verlag konnte ja noch gar nicht wissen, dass ich Das Fenster zur Welt rezensiert hatte. Dennoch lag ein Brief dabei, in dem mir für mein Interesse gedankt wurde. Ich fühlte mich gestalkt und verfolgt. Und das passt perfekt zu Was wir fürchten

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Was wir fürchten von Jürgen Bauer ist erschienen im Septime Verlag (ISBN 978-3-902711-38-0, 264 Seiten, 21,90 Euro).

Mehr Futter:

– „Jürgen Bauers Roman ist nicht nur ein galantes Verwirrspiel zwischen Wahn und Wirklichkeit, sondern der gelungene Beweis dafür, dass nicht alles im Leben kontrollierbar ist“, schreibt Sophie von Literaturen.
– „Jürgen Bauers Schreibstil ist dabei so fesselnd und einnehmend, dass ich das Buch in nur zwei Tagen regelrecht verschlungen habe und es kaum zur Seite legen konnte“, schwärmt Petzi von dieliebezudenbuechern.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Moore_24723_MR2.indd„Es gibt Fehler, die mitten auf dem freien Feld stehen und um Liebe betteln“
David Slaney ist nach vier Jahren Haft aus dem Gefängnis ausgebrochen und auf der Flucht. Dorthin gelangt war er, weil er mit seinem Freund Hearn zwei Tonnen Marihuana von Kolumbien nach Neufundland schmuggeln wollte. In die Quere kamen ihnen der Nebel und die Fischer, von denen sie verpfiffen wurden. Nun wollen sie im Jahr 1968 einen zweiten Versuch wagen – und ausgerechnet den gleichen Coup noch einmal machen. Dabei könnte Slaney mit Jennifer, der Frau, die er liebt, und ihrer Tochter einfach fliehen und ein neues Leben beginnen. Stattdessen fährt er noch einmal hinaus aufs offene Meer, ins Hurrikangebiet, mit einem Koffer voll Geld, einem alkoholkranken Skipper und dessen Jahrzehnte jüngerer Freundin – und mit der Polizei direkt auf seinen Fersen.

Lisa Moore gehört zu den bekanntesten Autorinnen Kanadas. Für ihren dritten Roman Der leichteste Fehler hat sie sich einen jungen, charismatischen Helden erdacht – gut aussehend und verwegen. Und geldgierig. Und dumm. Von Anfang an liegt der drohende Untergang in der Luft – und es scheint klar zu sein, dass bei der zweiten Drogenschmuggelmission erneut alles schiefgehen wird. Ich möchte hineinspringen in das Buch und mich David Slaney in den Weg stellen, ihn hindern daran, sich selbst das Leben zu zerstören. Nebenfigur Patterson, der Polizist, der auf Slaney angesetzt ist, will ihn unbedingt schnappen, um befördert zu werden – und hat in den 1960er-Jahren nicht annährend die Überwachungsmöglichkeiten zur Verfügung, die es heute gibt. Er nutzt aber einen neuartigen Peilsender, von dem Slaney nichts ahnt. Ihm gegenüber schwanke ich permanent zwischen Mitleid und Selbst-schuld-Unverständnis.

Lisa Moore bedient sich einer überraschend männlichen Sprache, wenn ich ein so unfundiertes Adjektiv verwenden darf. Sie ist barsch, rau, geprägt von Adrenalin, Testosteron und Abenteuerlust. Zwischendrin jedoch schillert sie in den genialsten Farben und zeigt sich ebenso melodisch wie poetisch – besonders auf den ersten Seiten. Mit ihrem erstklassigen Stil hat sie mich gleich gefangen, inhaltlich kommt mir die Story zu langsam in die Gänge – es dauert ewig, bis das Schiff endlich ablegt. Zudem sind die Wendungen doch eher vorhersehbar. Dennoch bietet Der leichteste Fehler feine, niveauvolle und actionreiche Unterhaltung.

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Der leichteste Fehler von Lisa Moore ist erschienen bei Hanser Literaturverlage (ISBN 978-3-446-24723-9, 368 Seiten, 22,60 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_8609In der Politik und in der Liebe
Dass Ada und Farid geschieden sind, ist eigentlich nicht richtig. Weil sie sich einmal sehr geliebt haben, weil sie eine Tochter haben, weil sie sich nicht loslassen können. Aber der Alltag und das Leben mit Kind haben ihrer Ehe den Garaus gemacht, und jetzt filmt Ada durch ihr Fenster Paare, die zur Therapie gehen, als könnte sie dabei etwas finden, das ihr hilft, eine Brücke zu bauen über den Abgrund zu Farid. Sira, seine Schwester, hat dagegen ganz andere Probleme, denn sie ist bei einem Besuch zuhause in Ägypten ganz unerwartet mitten in die Revolution am Tahir-Platz geraten und wird seither die Bilder nicht los, die Unruhe, de Angst. Und während Filmemacher Olaf wilde Theaterideen rund um Adas und Siras Familien entspinnt, suchen beide Frauen nach Wegen, um ihre innere Anspannung zu lösen und ein bisschen Glück zu finden.

Ich hatte das große Vergnügen, Annika Reich im Jänner beim Hanser’schen Bloggertag kennenzulernen. Und nachdem ich ihr Buch 34 Meter über dem Meer schon ganz wunderbar gefunden hatte, fand ich seine Autorin noch wunderbarer. In unserer heiteren Runde hat sie aus ihrem neuen Roman Die Nächte auf ihrer Seite vorgelesen und hat erzählt, wie er entstanden ist, wie sie Interviews mit ägyptischen Frauen führte, die bei der Revolution dabei waren, und wie sie anfangs Reigen über Reigen schrieb, ohne zu wissen, wie daraus ein Buch werden sollte. Deshalb hatte ich, als ich das Werk endlich in den Händen hielt, das Gefühl, einem Freund zu begegnen, den ich schon kenne. Das Schöne aber war: An diesem Freund gab es noch viel Unbekanntes zu entdecken.

Annika Reich porträtiert mit viel Feingefühl und einer scharfen Beobachtungsgabe zwei Frauen, denen etwas fehlt im Leben – ein Mensch, ein Grund, ein Antrieb – und die deshalb völlig gelähmt und getrieben zugleich sind. Sie lotet dabei mit leichter Hand menschliche Beweggründe und Handlungsweisen aus, sie vereint Politik, Geschichte, Liebe und Familienwahnsinn zu einem Feuerwerk aus Emotionen. Trotz der gewaltigen Gefühle kommt kein Satz wuchtig daher, im Gegenteil, kraftvoll und intensiv, aber luftig gestrickt und höchst elegant ist Annika Reichs Sprache. Und obwohl ich vor der Lektüre mehr über das Buch wusste, als das üblicherweise der Fall ist beim Lesen, ist es ihr dennoch mehr als einmal gelungen, mich zu überraschen. Die Nächte auf ihrer Seite ist ebenso amüsant wie traurig, es ist wehmütig, intelligent und absolut lesenswert. Ich habe damit sehr schöne Stunden verbracht – wie mit einem guten Freund eben.

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Die Nächte auf ihrer Seite von Annika Reich ist erschienen bei den Hanser Literaturverlagen (ISBN 978-3-446-24766-6, 224 Seiten, 19,50 Euro). Hier könnt ihr der Autorin beim Lesen zusehen und zuhören.

Noch mehr Futter:
 – „Danke, dass Du das Buch so hervorragend geschrieben hast. Danke noch mal für den wunderbaren Abend in München, an dem Du uns Bloggern zum ersten Mal aus Deinem Buch vorgelesen hast und mich auf Deine Figuren und Deine Geschichten neugierig gemacht hast. Danke für Deine „Mutter-Kind“-Beobachtungen und für jeden einzelnen Moment als ich beim Lesen ausrufen musste – „ja, genau so ist es bei mir.“ Danke, dass Du schreibst. Und ich hoffe, Du wirst es weiter tun“, schreibt die Bibliophilin.
– „Die Nächte auf ihrer Seite ist ein einfühlsam geschriebenes, aber kein leicht zu durchdringendes Buch. Es ist schnell gelesen, die Gedanken aber regt es noch weit über die Lektüre hinaus an. Dafür verdient es, gelesen zu werden“, heißt es bei Sophie von Literaturen.

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_8607Die fatale Macht der Erinnerung
Die Weingarts haben eine sehr spezielle Gabe: Wenn sie jemanden berühren, können sie seine verdrängten Erinnerungen sehen. Jeder aus der Familie, der seine Initiation hatte, spürt dadurch jene Erlebnisse auf, an die die Menschen selbst nicht mehr herankommen. Die Brüder Julius und Toni haben dieses Talent von ihrem Vater geerbt, ihre Mutter hat daraus ein florierendes Geschäft gemacht: Die Kunden geben sich die Klinke in die Hand, um mithilfe der Weingarts verlorene Schlüssel, den Namen eines Vergewaltigers oder ein Gefühl aus der Kindheit wiederzufinden. Cousine Sonja, die zugleich die Freundin von Julius ist, arbeitet ebenfalls in diesem eigenartigen Familienbetrieb mit, und auch Halbbruder Res, von dessen Existenz niemand wusste, beherrscht das Scheinwerfen. Doch während die Klienten von dieser Weingart’schen Gabe profitieren, wird das Scheinwerfen für Toni, Julius, Sonja und Res zum Fluch – für jeden von ihnen aus einem anderen Grund …

Was für ein Debüt! Was für eine Story! Was für ein Vergnügen! Der Schweizer Autor Giuliano Musio erzählt in Scheinwerfen eine abstruse, spannende und gefühlvolle Geschichte, die völlig unglaubwürdig ist und dabei doch absolut realistisch erscheint. Schon in der Luftschacht-Vorschau hab ich große Lust auf dieses Buch mit der originellen Story bekommen: Ich war neugierig auf diese Romanfiguren, die eintauchen können in die Erinnerungen fremder Menschen. Und als ich angefangen habe, Scheinwerfen zu lesen, blieb mir erst mal die Spucke weg: Ich war sofort am Haken von Giuliano Musio aufgespießt und wollte dieses Buch auf der Stelle verschlingen.

Vier Menschen stehen im Mittelpunkt und tragen ihre jeweilige Perspektive zur Geschichte bei: Julius, Sonja, Res und Toni. Einer von ihnen liebt den falschen Mann. Einer kann überhaupt nicht scheinwerfen, sondern tut nur so. Und alle verbindet nicht nur dasselbe Erbmaterial, sondern auch ein schreckliches Geschehnis in der Vergangenheit, an das sie sich selbst nicht mehr erinnern können. Behutsam löst Giuliano Musio Schicht um Schicht das Vergessen und hantiert dabei gekonnt mit den Fäden eines fesselnden Verwirrspiels: Was ist damals wirklich passiert? Wer sagt die Wahrheit? Und was weiß ein jeder wirklich über die Menschen, die er liebt? Am Ende knallt es für alle Figuren noch einmal so richtig, was mich sehr überrascht hat. Lange hab ich kein Buch mit einer derartigen Sogwirkung gelesen – und will es euch deshalb dringend empfehlen.

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Scheinwerfen von Giuliano Musio ist erschienen im Luftschacht Verlag (ISBN 978-3-902844-51-4, 404 Seiten, 25,20 Euro). Hier findet ihr die Website des Autors.

Bücherwurmloch

imagesDas Bücherwurmloch macht ein Päuschen
Wenn ihr das hier lest, weile ich schon am Meer und stecke hoffentlich gerade das mit Sonnencreme eingeschmierte Näschen in ein Buch. Die letzte Maiwoche verbringe ich in Italien und melde mich danach wieder mit neuem Futter.
Habt es fein! Mariki

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Jügler„Kleine Wellen pflanzen sich zu immer größeren fort“
„Ich bin auf den Tag genau sechzehn Jahre alt. Eine Umarmung meiner Mutter ist ungefähr das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.“ Noch um einiges schlimmer ist für Daniel allerdings, dass sein Großvater an ALS erkrankt. Ihre Beziehung ist vor allem von einem geprägt: dem Fischen. Als Daniel vier Jahre alt war, durfte er zum ersten Mal mitfahren nach Schweden, wo seine Großeltern eine Hütte besaßen, und bekam eine Kinderangel in die Hand gedrückt. Stundenlang saß er mit seinem Opa auf dem Boot und lernte alles über die Unterwasserwelt: „Daniel, stell dir vor, du bist schwach. Alles in dir ist auf Ruhe ausgerichtet. Du kannst nicht stundenlang mit dem Jagen deiner Nahrung verbringen. Du kannst es nicht: Es ist Winter. Dein Herz schlägt nur noch so oft wie nötig.“ Der Großvater war streng, es gab öfter mal eine Ohrfeige oder Hausarrest, und er verbot ihm den Umgang mit dem Schweden Henrik. Der Grund dafür hatte jedoch mehr mit der Großmutter zu tun. Nun muss Daniel zusehen, wie dem Großvater die Kontrolle über seinen Körper abhandenkommt, wie er sich am Familientisch beim Kuchenessen verschluckt, nicht mehr aus dem Bett aufstehen kann, ins Heim ziehen muss. Da gibt es für den Teenager nur eine Möglichkeit: Er nimmt seinen Großvater mit. „Das Beatmungsgerät liegt neben dem Kescher auf dem Boden des Bootes. Ich habe es in eine Tüte gepackt, damit es nicht nass wird. Ein Schlauch und ein paar Kabel liegen herum. Sie führen nach oben und verschwinden unter seinem langärmeligen Hemd. Die Batterie seines Beatmungsgerätes ist frisch aufgeladen. Dreieinhalb Stunden noch.“

Raubfischen ist ein stilles Buch, schön wie ein glasklarer, ruhiger See – und auf den zweiten Blick voller Untiefen. Der junge Autor Matthias Jügler skizziert darin die Freundschaft zwischen einem Jungen und seinem Großvater, die gar nicht so harmonisch und liebevoll ist, wie man das erwarten würde, für den 16-jährigen Protagonisten aber dennoch sehr wichtig. Während er erwachsen wird, geht das Leben des Großvaters zu Ende – und zwar au sehr unwürdige und tragische Weise. Der Roman besteht aus verschiedenen Ebenen: den Erinnerungen an Schweden, der Gegenwart mit der Krankheit sowie Einschüben über das Verhalten von Fischen. Die Mixtur ist gut gelungen. Überhaupt beweist Matthias Jügler in diesem feinsinnigen Roman ein gutes Gespür für Stimmungen, Gefühle und Kummer. Sein Sprachnetz ist durchwirkt von Melancholie und Wehmut. Daniel muss lernen, loszulassen, er muss etwas aufgeben, das er nicht missen will, und er muss sich verabschieden. Er tut dies mit einer waghalsigen Aktion, die verrückt ist und menschlich und gut. Genau wie dieses Buch.

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Raubfischen von Matthias Jügler ist erschienen im Blumenbar Verlag (ISBN 978-3-351-05014-6, 224 Seiten, 16 Euro). Hier findet ihr den Trailer zum Buch.

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_8511„Bei uns ist man stolz darauf, das wildeste, böseste Volk der Welt zu sein“
„In Guerrero regierten Hitze, Leguane, Spinnen und Skorpione. Das Leben war so gut wie nichts wert.“ Das gilt besonders für das Leben eines Mädchens. Denn neben dem tödlichen Getier herrschen in diesem öden Dschungelgebiet Mexikos auch die Drogenbosse. Sobald sie hören, dass es irgendwo ein hübsches Mädchen gibt, kommen sie und holen es, verkaufen und benutzen es. Deshalb muss die junge Ladydi – benannt nach der britischen Prinzessin – möglichst hässlich aussehen. Und wenn ein SUV am Horizont auftaucht, rennen die Mädchen zu den Erdlöchern, die ihre Mütter für sie gegraben haben, und verstecken sich. Als Ladydis Freundin Paula eines Tages nicht schnell genug ist, wird sie verschleppt. Retten kann sie niemand, schon gar nicht ihr Vater, denn der ist ebenso verschwunden wie die meisten Männer von Guerrero. Auch Ladydis Vater ist über die Grenze in die USA gelangt und hat den Kontakt zu ihnen abgebrochen. Ihre Mutter, immer schon so rau und unzugänglich wie die unwirtliche Landschaft, ist seitdem noch härter geworden. Ladydi ist ein stilles, von all den Unmöglichkeiten und dem Schmerz erfülltes Mädchen: „Meine Haut war die Innenseite und all meine Adern und Knochen die Außenseite. Besser, ich stieß mit niemandem zusammen, dachte ich.“ Kaum hat sie die Schule beendet, will sie fort, und ihr Cousin Mike bietet ihr dazu die Chance in Form einer Stelle als Kindermädchen in der Stadt. Doch dann hält Ladydi plötzlich ein großes Paket Heroin in der Hand und zwei Menschen sind tot.

Die amerikanische Autorin Jennifer Clement wuchs in Mexiko-Stadt auf und hat für diesen Roman zehn Jahre lang vor Ort recherchiert. Durch die vielen Gespräche mit mexikanischen Frauen, die unter den kriminellen Machenschaften der Drogenbosse leiden, ist es ihr gelungen, in Gebete für die Vermissten ein sehr konkretes und authentisches Bild der Betroffenen zu zeichnen. Ihre Protagonistin Ladydi ist zwar introvertiert und nachdenklich, aber auch knallhart und gewieft. Die Art, wie sie zwischen Skorpionen und Vergewaltigern aufwächst, hat nicht das Geringste mit meiner eigenen behüteten Kindheit zu tun. Die Mädchen von Guerrero sind rund um die Uhr in Gefahr, und außer dieser Gefahr bietet ihnen ihr Heimatort nur Alkoholiker, Pflanzengift und Drogen. Jennifer Clement bedient sich für diese harte Geschichte einer harten Sprache, ihre Worte sind geschliffen wie die Machete von Ladydis Mutter. Sie kennt keine Gnade, sie erzählt vom Leben dort so ungeschönt und schroff, wie es eben ist. Diese Direktheit hat eine ganz eigene Eleganz und Eindringlichkeit, die ich sehr mag. Dies ist ein Buch, das einen unmittelbar an den Haarwurzeln packt und daran rüttelt. Dabei ruhig zu bleiben, ist schlicht unmöglich. Tagelang geht mir das Gelesene nicht aus dem Kopf. Und auch jetzt sind die Bilder noch überaus lebendig. Gebete für die Vermissten ist daher nichts für Leser mit schwachen Nerven – aber perfekt für alle, die eine gute Story und ausgezeichnete Bücher lieben.

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Gebete für die Vermissten von Jennifer Clement ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42452-0, 228 Seiten, 19,95 Euro). Hier könnt ihr auch einen Trailer zum Buch anschauen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_8476Ein heiterer türkischer Reigen
„Veganer haben es schwer in der Türkei, ganz besonders die, die wirklich kein Fleisch essen.“ In diesem sarkatisch-selbstironischen Ton sind die Momentaufnahmen in Rache auf Türkisch gehalten: Askim Utkuseven präsentiert Szenen und Skizzen, witzige Augenblicke und feurige Dialoge – die alle einem Motto unterstellt sind, wie beispielsweise Erben, Beten, Betrug, Ehekrach. Jede Geschichte ist kurz, im Durchschnitt etwa zehn Seiten lang – und überaus erheiternd. Da gibt es den jungen türkischen Mann, de ehrenhaft versucht, seine vegan lebende Freundin in der Türkei satt zu bekommen, eine rasante Führerscheinprüfung auf Türkisch oder eine Frau, die weiß, dass ihr Bräutigam sie betrügt und die ihn deshalb finanziell bis auf die Unterhosen auszieht. Da wird geschrien und getobt, auf die Seite gesprungen und köstlich gekocht, alles auf Türkisch eben.

Es braucht wohl jemanden mit einem feinen Blick auf die eigene Kultur, um so spitzfindige Beobachtungen zu Papier zu bringen. Die Autorin zieht zudem die messerscharfe Grenze zu den deutschen Sitten, denn die meisten Erzählungen finden in Deutschland mit Deutschtürken statt. Askim Utkuseven ist in Istanbul geboren und schreibt ganz ausgezeichnet über türkische Klischees: „Hüte deine Zunge, Frau, ich bin ein Türke, ich habe meinen Stolz, und heute siege ich, ich unterwerfe mich weder der Gesellschaft noch meiner Mutter!“ Ich habe mich glänzend amüsiert und kann euch dieses besondere kleine Buch zur Erheiterung für zwischendurch auf jeden Fall empfehlen.

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Rache auf Türkisch von Askim Utkuseven ist erschienen im Divan Verlag (ISBN 978-3-86327-025-4, 160 Seiten, 15,90 Euro). Hier könnt ihr der Autorin ein bisschen beim Lesen zusehen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_8510Ein Buch mit biblischer Wucht
„Es sind doch bloß Geschichten, Jonah. Bloß Geschichten, die wir uns aus dem zusammenreimen, was uns zugestoßen ist. Wir dichten den Ereignissen Sinn oder Moral an, beschließen, dass sie nur so passieren können, wie es die Vorsehung will und nicht etwa der Zufall.“ Das sagt Judith zu Jonah, als Jonah Judith endlich findet und ihr alles erzählt. Aber beginnen wir am Anfang. Da hat Jonah, 32 Jahre alt, noch seinen Job als Anwalt in New York, Aussichten auf eine Partnerschaft, den Arsch voll Arbeit, eine Freundin namens Sylvia, die ebenfalls zur Elite der Besserverdiener gehört, und eine Geliebte namens Zoey. Nach einem wirren Gespräch mit einem orthodoxen Juden hat er plötzlich Visionen und sieht beispielsweise alle Menschen nackt. Diese Ausnahmezustände erschüttern ihn bis ins Mark: „Da wusste er, was so schlimm an seinen Visionen war, weshalb sie ihn so erschrecken und quälen konnten und sein Leben mit einem Mal so öde und leer erscheinen ließen: Sie stimmten.“ Zunehmend verliert er seine Ziele aus den Augen, und innerhalb kürzester Zeit bricht das Leben, das er so sorgsam und mit viel Mühe aufgebaut hat, um ihn herum in Stücke: Er verliert seinen Job, seine Wohnung sowie beide Frauen – und fast seinen Verstand. Gescheitert geht er nach Amsterdam, wo er Judith trifft. Sie trägt eine tragische Geschichte mit sich herum, denn ihre Eltern sind bei 9/11 gestorben. Ihre gesamte Kindheit und Jugend lang war sie die Beste in der Schule und an der Uni, doch dann warf sie alles hin und arbeitet mittlerweile für einen korrupten Casinobesitzer in L. A. Dort sucht Jonah nach ihr – und nach der Erlösung.

Das Buch Jonah von Joshua Max Feldman ist ein schwergewichtiges Opus. Im Klappentext heißt es: „Mit leichter Hand versetzt Joshua Feldman die biblische Geschichte von Jonah und dem Wal in unsere moderne Welt.“ Dem „leicht“ möchte ich allerdings entschieden widersprechen, denn leicht ist in diesem Roman gar nichts. Sehr schwergewichtig und pathetisch kommt das Debütwerk von Joshua Max Feldman daher – was wohl Sinn macht, wenn man bedenkt, dass er sich zur Inspiration nichts Geringeres als das Alte Testament ausgesucht hat. Um diesen Roman zu verstehen, muss man nicht unbedingt in Bibelkunde bewandert sein, das Original rund um Jona und den Wal zumindest in den Grundzügen zu kennen, hilft aber durchaus. Wobei ich jedoch gestehen muss, dass ich die Parallelen nicht unmittelbar erkennen kann, denn der „echte“ Jona soll ja in Gottes Auftrag einer Stadt von ihrem Untergang künden, wird von einem Wal verschluckt und wieder ausgespuckt. Davon lässt sich eigentlich nichts auf den modernen Jonah umlegen. Er ist ein Abziehbild von einem amerikanischen Emporkömmling, der in der New Yorker Anwaltsszene Karriere gemacht hat und plötzlich nicht mehr so unbeteiligt ist, wie er es immer war: „Er merkte, dass er eine grundlegende Fähigkeit verlor – dass sie ihm abhandenkam: die Fähigkeit, wegzusehen.“ Das ist die Basis für all die Veränderungen in Jonahs Leben.

Das Buch Jonah hat gute und weniger gute Stellen. Oftmals ist es sehr verwirrend und abgedreht, weil es stilistisch und inhaltlich die Orientierungslosigkeit des Protagonisten spiegelt. Das ist beim Lesen sehr anstrengend und herausfordernd. Dann wieder zeichnet der Autor seinen Helden sehr weich, zeigt ihn verletzlich und verloren. Auch Judith bekommt eine eigene Perspektive, die vielleicht nicht ganz konsequent durchgezogen ist, aber durchaus ihr Gewicht hat. Insgesamt ist dieser Debütroman ein ganz eigenes Kaliber: originell und einzigartig, gehaltvoll und intensiv, abstrus und unerklärlich. Auf jeden Fall ein ganz besonderes Erlebnis.

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Das Buch Jonah von Joshua Max Feldman ist erschienen im C. Bertelsmann Verlag (ISBN 978-3-570-10203-9, 400 Seiten, 19,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Meyer„Gefährliche Sache, diese frojen! Lächeln dich an und schon sagst du zu allem Ja“
Motti heißt eigentlich Mordechai Wolkenbruch und ist ein orthodoxer Jude. Seit seine mame sich in den Kopf gesetzt hat, dass er heiraten soll, präsentiert sie ihm eine Kandidatin nach der anderen – und alle sehen aus wie sie. Also nicht gut. Aber für seine Ausflüchte hat sie kein Verständnis: „Offenbar herrschte im Gehirn meiner Mutter ein permanenter Kurzschluss, egal wie man die Kabel auch immer legte.“ An einer anderen Frau hat Motti dagegen sehr wohl Interesse: an seiner Kommilitonin Laura – doch die ist leider eine Schickse. Und das ist in Familie Wolkenbruch ein absolutes Tabu, denn sie lebt streng religiös und hält sich an die Regel, dass Juden am besten unter sich bleiben: „Die briln ist vom jüdischen Optiker, die matraz vom jüdischen Bettwarenhändler und das ojto vom jüdischen Garagisten.“ Was also tun, wenn das Herz in die eine Richtung zieht – und die Familie in die andere?

Was für ein saulustiges Buch! Ich habe mich mit Thomas Meyer und seinem Motti glänzend amüsiert – auf der Rückreise von der Leipziger Buchmesse, wo dieses Buch zu meinem großen Glück den Weg in meine Tasche gefunden hat (nein, ich habe es nicht geklaut). Erst mal war ich erstaunt darüber, dass Thomas Meyer beinhart so viel Jiddisch einbaut. Nach zwei, drei Seiten fand ich das aber gleich richtig toll und originell. Bei allen bisher verspeisten Büchern mit jüdischen Protagonisten ist mir sowas bisher noch nie untergekommen. Quasi sofort hat sich das pure Vergnügen eingestellt – und ist bis zum Schluss geblieben, obwohl der Roman ganz anders endet, als ich es erwartet habe. Motti ist ein supersympathischer Buchheld, der aus dem Judentum auftaucht wie aus der Versenkung. Er hat sein Leben hinter einer großen Schutzmauer verbracht – und als er erkennt, dass es „da draußen“ schickere Brillen, Alkohol, Partys und Sex gibt, will er verständlicherweise nicht mehr zurück. Allein – seiner Familie fehlt dieses Verständnis komplett. Deshalb ist es einigermaßen herzzerreißend, Motti dabei zuzusehen, wie er nach einem Weg für sich selbst sucht – und wie er letztlich, um ihn zu finden, alles verlieren muss. Trotz dieser traurigen Seite an der Geschichte ist Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse ein sehr heiteres, intelligentes und unbedingt zu lesendes Buch!

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Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse von Thomas Meyer ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-24280-5, 288 Seiten, 10,90 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Thomas Meyers Entwicklungsroman im Stile Woody Allens ist eine religiöse Emanzipationsgeschichte – mit zuverlässig witzigen Pointen“, heißt es auf faz.net.
– „Thomas Meyer, in seinem zweiten Leben offenbar als sprach- und kommunikationsgetriebener Werbetexter tätig, erzählt dies alles frisch und leicht, durchsetzt mit unzähligen jiddischen Einsprengseln“, wird auf nzz.ch geschwärmt.
– Und das ist die Meyer’sche Website.