Gut und sättigend: 3 Sterne

Reverdy„Wir müssen unsere Eltern verraten, um zu wachsen“
„Da schläft man jahrelang neben einem Menschen und weiß noch immer nicht, wovon er träumt.“ Das sagt Yukikos Mutter, als ihr Mann Kaze spurlos verschwindet. Er ist ein Verflüchtigter, er hat sich in Luft aufgelöst, um seine Familie nicht mit hinunter zu ziehen in die Schande. Wer entlassen wird oder aus anderen Gründen sein Gesicht verliert, wird zu einem solchen Verflüchtigten, taucht unter, meldet sich nie mehr wieder. Doch Yukiko will das nicht hinnehmen. Sie kehrt aus den USA, wo sie seit vielen Jahren lebt, zurück nach Japan. Und sie nimmt Richard mit: Er ist Detektiv, Dichter und vor allem ist er über die Maßen in Yukiko verliebt. Sie hat ihm das Herz gebrochen, und doch folgt er ihr in ein Land, das er nicht kennt, um einen Mann zu suchen, der nicht gefunden werden will.

Dieses Buch ist für mich eine Reise an einen Sehnsuchtsort, denn nach Japan möchte ich schon lange. Vor zehn Jahren habe ich an der Universität sogar versucht, Japanisch zu lernen, und bin mit viel Verve daran gescheitert. Geblieben ist eine große Faszination für diese sonderbare Kultur mit ihren vielen Regeln und Gepflogenheiten, die mir so fremd erscheinen. Der französische Autor Thomas Reverdy hat diese Kultur aufgegriffen und in einen Roman verwandelt: Bevor ein Japaner sein Gesicht verliert, verliert er lieber sein Leben, gibt es auf, verbannt sich selbst. Das ist eine gute Idee für ein Buch, das ist eine gute Geschichte.

Sich ein Setting und interessante Figuren ausdenken, das kann Thomas Reverdy in meinen Augen besser als schreiben. Von seinen Formulierungen bin ich an manchen Stellen nicht überzeugt, im Allgemein wirkt sein Stil ein wenig hölzern und nicht so zugespitzt, wie er sein könnte. Eine solche Story sollte düsterer sein und schärfer, sie plätschert mir manchmal zu nah am Belanglosen dahin. Gut erzählt ist sie allemal, sie bietet eine betörende Mischung aus Fremdheit und Gefahr, aus Liebe, Sehnsucht und Verrat. Dieser Roman bietet Unterhaltung auf halbwegs hohem Niveau. Ich habe mich gefreut, wenigstens auf diese Weise nach Japan zu reisen und einzutauchen in die Fremdheit. Bestes Zitat:

„Die japanische Gesellschaft ist wie das Land: ein Vulkan mitten im Ozean, auf einer von Tausenden Bruchlinien durchzogenen Insel, wo es überall bebt und kracht. Wenn Sie das Land kennenlernen wollen, müssen Sie seine Verwerfungen studieren. Für die Gesellschaft gilt das Gleiche. Und für die Menschen übrigens auch.“

Die Verflüchtigten von Thomas Reverdy ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1222-7, 320 Seiten, 22 Euro).

Bücherwurmloch

IMG_76851. Der wichtigste und ausschlaggebende Grund ist, dass ich Kinder habe und keinen Platz. Ja, das ist kausal gemeint: Seit die Kinder da sind, ist der Platz weg. Vor allem der Platz für etwas so „Überflüssiges“ (Entschuldigung!) wie Bücher. Sie mussten weichen, und sie wichen. Aus dem Büro und Bücherzimmer wurde ein Kinderzimmer, an die Stelle des Regals kam unser erstes Gitterbett. Als ich noch jung war und bei meinen Eltern wohnte, war ich umgeben von Büchern, und ich liebte es. Natürlich war es ein Schock, als ich mich Jahre später von meinen Buchschätzen trennen musste, kistenweise wanderten sie in den Keller, ich verschenkte sie, setzte sie mit Zetteln versehen aus. Das ist mir anfangs wahnsinnig schwergefallen. Aber es gab keine andere Möglichkeit.

2. Heute bin ich daran gewöhnt, Bücher wegzugeben. Ich habe gelernt, mich zu lösen und sie loszulassen. Ich bin sogar so sehr daran gewöhnt, dass es nur noch extrem selten vorkommt, dass ich ein Buch behalte. Inzwischen haben wir zwei Kinder, aber auch eine größere Wohnung, und mein Opa hat mir ein wunderschöness, selbstgezimmerte Holzregal gebaut. Auch hier ist der Platz begrenzt, aber das stört mich nicht mehr: Ich scheue den Abschied von einem Buch nicht, meine Einstellung von früher hat sich ins Gegenteil verkehrt.

3. Ich muss nicht alles besitzen. Und schon gar nicht die Bücher, die ich lese. Sie sind für eine Weile bei mir, begleiten und entführen mich, nehmen mich mit auf eine Reise – und IMG_7682wandern dann weiter. Ich lasse sie frei, und ich habe heute das Gefühl, dass das ihrem Wesen viel mehr entspricht: Geschichten zu erzählen, Wissen weiterzugeben. An so viele Menschen wie möglich.

4. Ich behalte ausschließlich Herzensbücher, nur die wenigen, die mich erschüttert, getroffen und berührt haben. Im Jahr 2015 waren das von über 100 Büchern, die ich gelesen habe, gerade einmal 15. Von ihnen umgeben zu sein, ist sehr schön, weil sie mir viel bedeuten.

5. Ich ersticke nicht in Dingen und in materiellem Besitz.

6. Ich muss nie, wirklich nie Bücher aussortieren.

IMG_76837. Seien wir ehrlich: In die meisten Bücher schauen wir kein zweites Mal hinein. Wir lesen sie, stellen sie ins Regal, und da stehen sie dann. Wir würden sie nicht noch einmal lesen. Wozu sie also behalten?

8. Viele Bücher gefallen mir nicht, ihre Geschichten sind mittelmäßig, sie fesseln und begeistern mich nicht. Das ist für mich ohnehin ein Grund, sie wegzugeben.

9. Ich sehe darin auch eine Vorbildfunktion für meine Kinder. Sie sollen lernen, dass man nicht alles haben muss – dass auch wenig reicht, wenig Gutes vor allem. Wir leben ohnehin im Überfluss, und ich zeige ihnen, dass man sich auch Dingen trennen kann, die einem wichtig sind. Bei mir sind es Bücher, bei ihnen ist es Spielzeug, von dem sie auch ein großes Regal voll besitzen. Sie haben mehr als genug, und ich möchte, dass sie vorgelebt bekommen, dass Reichtum nicht in Quantität besteht, sondern in Qualität.

10. Ich habe nach langer Suche eine wunderbare Auffangstelle für meine Bücher gefunden: die kleine Bücherei in meinem neuen Heimatdorf. Denn das ist natürlich entscheidend: Was tut man mit den Büchern, die man weggibt? Sie bei ebay, rebuy oder einem der anderen Anbieter zuIMG_7684 verkaufen, ist mühsam und lohnt sich nicht. Mein Freundeskreis rollt nur genervt mit den Augen, und zum Wegschmeißen sind sie mir viel zu schade. Aber in der örtlichen Bücherei freut man sich über die Maßen: Hier gibt es wenige, aber sehr gute Bücher, die Leiterin achtet auf eine hochwertige Auswahl. Meine Bücher werden schön laminiert, bekommen ein NEU-Pickerl, werden ganz vorn positioniert und vor allem: Sie werden noch gelesen. Von vielen Menschen.

11. Ich kaufe nicht mehr so unüberlegt wie früher. Ich denke schon beim Buchkauf darüber nach, ob das ein potenzielles Buch ist, das ich behalten möchte. Wenn nicht, dann kann es gut sein, dass es gleich in der Buchhandlung liegen bleibt.

Nun interessiert mich natürlich: Wie haltet ihr es mit der Gretchenfrage? Gebt ihr jemals Bücher weg oder lebt ihr in einem wahrgewordenen Bibliophilentraum, umgeben von Buchtürmen? Könntet ihr euch vorstellen, so wie ich fast kein Buch mehr zu behalten?

High Five

FuchsWenn ich eine Figur aus einem Roman wäre, dann wahrscheinlich eine von Wilhelm Genazino. Ein Ich voller Unzulänglichkeiten, das ziellos umherstreift auf der Suche nach etwas äußerlich Greifbarem, das fürs eigene Leben eine Verbindlichkeit bietet – die es aber natürlich nicht gibt. Die aber schlussendlich jedoch auch gar nicht gebraucht wird, weil dieses Abgelöst-sein von der Wirklichkeit eine heimliche Liebe zum Leben ist, die man nicht bereit sein sollte, aufzugeben.

Ich ordne meine Bücher in folgendem System:
– von denen ist es erstrebenswert, erschlagen zu werden (Regal über dem Schreibtisch, ergo Kopf)
– die brauche ich vielleicht zum Nachlesen (stehen in erster Reihe im Regal in meinem Rücken)
– die mag ich, aber brauche ich nicht fürs Arbeiten (stehen hinter der ersten Reihe in zweiter Reihe im Regal in meinem Rücken)
– die fand ich naja, aber weggeben ist trotzdem undenkbar (stehen hinter der zweiten Reihe im Regal in dritter Reihe in meinem Rücken)
– die habe ich zwar gekauft, aber ob ich sie irgendwann lese, bleibt fraglich …
+ Fotografiebücher, auf die ich süchtig reagiere und die sonst, weil sie so hoch sind, nirgendwo hinein passen (Regal auf dem Flur, neben dem Reiskocher)
– die Bücher, die ich liebe und darum von allen Menschen, die ich kenne, gelesen werden müssen (meistens verborgt und nicht zurückbekommen)

Das Cover meines aktuellen Buchs ist abstrakt, man könnte es als Raumschiff deuten, wenn mal will, mit großem Titel drauf, weil er halt einfach so schön ist. Aber vor allem ist das Buch auch mit geschlossenen Augen wunderbar anzugreifen, durch die Lack-Flächen am Cover.

Viel zu selten verwendet wird das Wort nein. Zumindest von mir. Aber Wörter, die auch offiziell selten sind und unbedingt öfter verwendet werden sollten: Schabracke, ungeschlacht, ungestüm, fatal, geflissentlich, Contenance, nachträglich und notdürftig … Ich finde außerdem, man sollte das Western-Genre der „Pferdeoper“ unbedingt wieder einführen. Der Genrebegriff ist zu gut, um endgültig unterzugehen.

Das Buch meines Lebens werde ich hoffentlich nie lesen müssen.

thumb_IMG_6302_1024

Irmgard Fuchs wurde 1984 in Salzburg geboren. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und Berlin sowie Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst. Ihr erstes Buch Wir zerschneiden die Schwerkraft ist 2015 im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen. Foto von www.detailsinn.at.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Köhler „Der Alltag ist ein Schmetterling“
„Man muss sich ihm behutsam nähern, der Alltag ist kamerascheu, er flattert davon. Das Herkömmliche, Gewöhnliche soll in den Kasten.“ So steht es in einer von Synke Köhlers Geschichten, so gilt es auch für dieses Buch. Die deutsche Autorin, die an der Drehbuchwerkstatt München sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert hat, erzählt darin vom Kleinen, das – zusammengesetzt in tausend Varianten – das große Ganze ergibt, von Momentaufnahmen und schmalen Szenen, gerupft aus fiktiven Leben.

„Ich hasse das Meer. Ich habe das Meer immer gehasst. Am liebsten sitze ich hier, in meinem schattigen Kabuff, und döse vor mich hin. Ich verstehe nicht, was die Leute hier wollen. Und ich weiß auch nicht, was ich hier soll. Die Sonne. Es ist viel zu heiß und viel zu hell.“

Das sagt einer, der am Meer lebt, auf einer Insel voller Touristen, mit einer Mutter, die hinter dem Haus begraben liegt. Eine andere Ich-Erzählerin wohnt in einem großen Haus zusammen mit einer Gruppe aus Freunden und Kindern. Es gibt dort keinen Handyempfang, dafür aber viel Grund. Auf diesem Grund sitzt eines Tages ein Mann, den niemand kennt und der da nicht mehr weggeht. Aus der Reihe tanzt auch eine Mutter, die während einer Wanderung einfach irgendwo abbiegt. Wie eine Kamera, ein Fotoapparat, nimmt Synke Köhler in ihren sehr kurzen Geschichten solche Augenblicke auf, hält sie fest wie auf einem Foto, das man betrachtet und wieder weglegt.

Ich habe Kameraübung schon vor Wochen gelesen, dann blieb es aus diversen Gründen eine Weile liegen. Als ich es jetzt wieder in die Hand genommen und meine Notizen dazu durchgeblättert habe, habe ich gemerkt: Ich kann mich an keine Geschichte erinnern. Nicht an eine einzige. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht gut wären. Es heißt vielmehr, dass ich a) mein Gedächtnis nur selektiv nutze und b) dass die Short Storys sehr schlicht und aus dem Leben gegriffen sind. Sie kommen nicht kunstvoll aufgebrezelt daher, sie sind zurückhaltend und ja, doch, ein wenig unscheinbar. Ich hab sie alle gern gelesen, mit einem auf unspektakuläre Weise angenehmen Gefühl.

Kameraübung von Synke Köhler ist erschienen im Verlag Kremayr & Scheriau (ISBN 978-3-218-01024-5, 128 Seiten, 16,90 Euro).

we_read_indie_header

Gut und sättigend: 3 Sterne

Kuttner„Ohne Wut wäre ich vielleicht ein schönerer Mensch, aber auch weniger Mensch“
Jule hält sich fest an ihrer Wut, zelebriert sie, nährt sie und pflegt sie. Nachdem ihr Vater die Familie verlassen hatte, musste Jule sich um den kleinen Bruder und die unzurechnungsfähige Mutter kümmern. Eine Mutter, die sich vor ein Taxi warf – mit Jule an der Hand. Heute ist Jule erwachsen, singt in einer Bar und hat einen Freund namens Tom. Glücklich ist sie nicht, glücklich will sie auch gar nicht sein. Sie verweigert sich dem Glück, zerstört es sogar mutwillig. Als dadurch ihre Beziehung ins Wanken gerät, flüchtet Jule zu ihrem Bruder nach London. Ihr Vater, zu dem sie keinen Kontakt hat, lebt nicht weit von dort entfernt. Das Problem ist nur: Leben wird er nicht mehr lang, denn er hat Krebs. Soll Jule sich von ihm verabschieden? Wird sie ihren Frieden finden, wenn sie sich mit ihm versöhnt? Und will sie das überhaupt? „Ich will die Dinge nicht klar sehen“, sagt sie selbst dazu, „sie sehen klar nur noch hässlicher aus.“

Mit Sarah Kuttner hatte ich bisher noch nie zu tun. Dass es die gibt, das wusste ich freilich, auch, dass sie hübsch ist und erfolgreich und witzig. Von ihren Büchern hatte ich jedoch keins gelesen und ihre jetzige Sendung noch nie angeschaut. Dann schwärmte Tobias vom Buchrevier von ihr und ich dachte: Stimmt ja, Sarah Kuttner! Warum eigentlich nicht. Jetzt kann ich sagen: Unterhaltsam war das allemal. Und ein bisschen lehrreich. Und ein bisschen lebensklug. Vielleicht nicht an allen Stellen stilistisch einwandfrei, aber generell ein angenehmer Roman, der sich gut weglesen lässt, dabei aber authentisch und glaubwürdig bleibt, ohne ins Pathos abzudriften.

Protagonistin Jule ist eine, die alles zerdenkt. 180 ° Meer gleicht deshalb zum Großteil einem inneren Monolog, der sich dreht und dreht. Das ist stellenweise durchaus anstrengend, und Jule ist wirklich kein angenehmer Mensch. Sie findet alles scheiße, in erster Linie das eigene Leben und sich selbst. Ich würde die ja nicht in meiner Nähe haben wollen. Das alles weiß sie auch ganz genau, und sie will sich nicht ändern. Wenigstens darin ist sie beeindruckend konsequent. Was mir an 180 ° Meer gefällt, ist das Unsentimentale, das Kitschige, das Scheißegale. Das macht das Buch sehr lebensnah und sympathisch. Ein Setting wie dieses – der Vater stirbt, das große Verzeihen steht an – gibt es in Büchern tausendfach, aber Sarah Kuttner spendiert gegen Ende eine unerwartete Wendung und lässt das Leben so sein, wie es eben ist: beschissen. Also. Sarah Kuttner? Warum eigentlich nicht!

180 ° Meer von Sarah Kuttner ist erschienen bei S. Fischer Verlage (ISBN 978-3-10-002494-7, 18,99 Euro). Mehr über das Buch erfahren könnt ihr auf standard.at, readpack.de und buzzaldrins.de.

Netter Versuch: 2 Sterne

thumb_IMG_9182_1024„Nie spürt man die eigene Macht so sehr wie in jenen Momenten, in denen man sie missbraucht“
Im Jahr 2031 bezahlt die Menschheit die Rechnung für die Ausbeutung des Planeten: Die Welt geht unter. Zumindest fängt sie damit an. Wirbelstürme, Überschwemmungen, CO2-Kontingente für Benzin und Fleisch sind an der Tagesordnung. Die Regierung besteht aus Frauen – doch die Männer haben ihnen das Ruder nur überlassen, weil es unmöglich ist, das sinkende Schiff noch zu retten. In dieser Endzeitstimmung geht Sebastian Bürger in einem Hamburger Vorort zu einem 50-Jahre-Klassentreffen:

„Auf Klassentreffen geht es überhaupt nicht darum, was aus einem geworden ist, sondern es geht um das, was man einmal war. Je älter man wird, desto wichtiger ist es, Menschen zu treffen, die einen schon gekannt haben, als man noch jung war, ich meine echt-jung.“

Echt-jung ist hier nämlich niemand: Alle schlucken das Verjüngungsmittel Ephebo, das sie aussehen lässt wie Mitte zwanzig. Dass es Krebs auslöst, ist ihnen scheißegal – die Welt gibt es ohnehin nicht mehr lang. Als Sebastian auf seine Jugendliebe Elli trifft, erwidert sie endlich, Jahrzehnte später, seine Gefühle. Alles könnte für die letzten Jahre auf Erden so schön sein! Wenn da nicht Christine wäre – Sebastians Ex-Frau und Mutter seiner Kinder. Die hält er nämlich seit zwei Jahren in seinem Keller gefangen, wo sie – in dem Radius, den ihre Halskette zulässt – Kekse für ihn backen und seinen Schwanz lutschen muss. Sebastians Meinung nach ist dies die natürliche „Haltung“ einer Frau:

„Wieso sollte ich Rücksicht darauf nehmen, dass jemand körperlich schwächer ist als ich? Das ist evolutionäres Pech. Damit hat das Schicksal demjenigen seinen Platz zugewiesen: unter meinen Stiefeln. Alles, was Frauen tun, können sie nur mit der Erlaubnis von uns Männern tun.“

Um mit Elli die frische Liebe zu leben, muss Sebastian Christine loswerden. Doch das ist schwieriger als gedacht …

Macht von Karen Duve ist ein höchst merkwürdiges Buch. Es spaltet die Leser und Kritiker – und auch mich. Während ich zu Beginn sehr angetan bin von der Idee, dem Setting und der gedanklichen Weiterführung gesellschaftlich relevanter Themen, denke ich zum Schluss: WHAT THE FUCK?! Karen Duves Plan von der Abschaffung der Welt ist prinzipiell genial: Sie zeigt, was geschehen wird, wenn wir weitermachen wie bisher. Der Klimawandel wird der Menschheit zum Verhängnis, der Point of no return ist überschritten, die Verjüngungspille Ephebo treibt den gegenwärtigen Jugendwahn auf die Spitze. Das ist herrlich perfide und sarkastisch – und derart realistisch, dass es mir Angst macht. So weit ist 2031 schließlich nicht mehr weg. Was all diese Ideen, Überlegungen und Weltuntergangsmomente angeht, merke ich jedoch ungefähr nach der Hälfte des Romans: Diese Welt des Jahres 2031 zu entwerfen, war bereits der ganze Geniestreich, der nicht weiter umgesetzt und entwickelt wird. Nun gut, vielleicht muss er das auch nicht. Er ist ja schon scharf genug.

Protagonist Sebastian ist ein Arschloch, wie es im Buche steht (Entschuldigung). Selbstherrlich, besessen, voller Hass auf Frauen im Allgemeinen und Christine im Speziellen. Er hält sie wie ein Tier, vergewaltigt und misshandelt sie und fühlt sich dabei stets im Recht. Für den Mut und das Einfühlungsvermögen, aus einer derart abartigen Perspektive zu schreiben, bewundere ich Karen Duve. Es zu lesen, ist jedoch schwer erträglich. Sehr schwer. Ich wechsle von Abscheu zu Übelkeit und zurück. Und dann? Hm. Es kommt mir vor, als hätte die Autorin sich mit ihrer psychisch kranken Figur, dem Kellergefängnis und dem Ende der Welt in eine Ecke geschrieben, aus der sie nicht mehr herauskommt. Also hat sie vielleicht beschlossen, einfach aufzuhören. Anders kann ich mir den abrupten, sinnlosen und irrsinnig langweiligen Schluss nicht erklären. Pffft, macht das Buch, als ihm die Luft ausgeht. Und ähnlich klingt auch das Geräusch meiner Enttäuschung.

Diesen Roman zu lesen, ist, als würde man angekotzt werden. Ein bitterer Schwall aus Hass und Intoleranz, Überheblichkeit und Gewalt geht auf mir nieder. Das nährt die Verachtung, die ich für die gesamte Menschheit hege. Ich hoffe, Karen Duve hat Recht und unsere Zeit auf Erden hat bald ein Ende, damit der Planet befreit wird von dem schlimmsten Parasiten, den er sich jemals eingefangen hat: uns.

Macht von Karen Duve ist erschienen bei Galiani Berlin (ISBN 978-3-86971-008-2, 416 Seiten, 21,99 Euro). Viele weitere kluge Worte über das Buch findet ihr bei Sätze & Schätze, auf zeit.de, faz.net und sueddeutsche.de, außerdem ein Interview mit der Autorin auf welt.de.

Bücherwurmloch

thumb_IMG_6298_1024Willkommen im neuen Bücherwurmloch
Bestimmt kennt ihr den Spruch: Fühle mich wie neugeboren. Könnte schreien. So ging es mir in den letzten zehn Tagen während meines Blogumzugs. Einige von euch haben so etwas ja selbst schon mitgemacht und wissen, dass es nicht babyleicht ist. Das Exportieren der Daten, das Neugestalten und Umbauen kostet viel Zeit und Nerven. Zum Glück hatte ich Hilfe (danke an dieser Stelle!), denn allein hätte ich das weder gewagt noch geschafft.  Jetzt ist das Bücherwurmloch tatsächlich neu geboren. Nach sieben Jahren unter der Fuchtel von WordPress hat es ein eigenes Zuhause, und zwar (so viel Heimatverbundenheit muss sein) ein österreichisches, siehe oben:

buecherwurmloch.at.

Das Bücherwurmloch heißt ja Bücherwurmloch, weil ich einen Namen wollte, der leicht vulgär klingt. Ein bisserl nur. So, dass man es fast nicht merkt. Zudem fand ich freilich das Wortspiel aus Bücherwurm und Wurmloch reizvoll. Zur Geburtsstunde der neuen Domain, dachte ich, sollte ich vielleicht auch mal den Namen des Kindes erklären. Ganz spontan und kurz vor knapp habe ich, wie euch vielleicht schon aufgefallen ist, entschieden, doch noch das Theme zu wechseln und die Fotos vom crazy Bookworm-Shooting mit Thomas Wozak zu verwenden. Wozu hab ich den Blödsinn denn sonst gemacht?! Jetzt hoff ich natürlich, dass euch das gefällt. Falls nicht, dann verschweigt es mir bitte – das kann ich nach all der Umzugsschwitzerei im Moment nicht verkraften … 😉

Hier wird es weiterhin in gewohnt flapsiger Manier Buchvorstellungen und Kurzinterviews geben sowie alles, für das ich in meinem chaotischen Halligallileben Zeit finde. Im Moment scharren schon Karen Duve und Sarah Kuttner in den Startlöchern. Ich freu mich sehr, wenn ihr mir auch hier folgt und die Treue haltet – und wenn ihr euch die Mühe macht, in euren Blogrolls den alten Link gegen den neuen auszutauschen. Vielen Dank!

Mariki

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

HeinEin Schelm, wer sich stets was Neues ausdenkt
Friedrich Bender ist ein Jugendlicher in der DDR. Das Leben dort ist einigermaßen öde, aber Friedrich ist überraschend kreativ: Wo keine Geschichten sind, da erfindet er welche. Zum Beispiel vor der gesammelten Klasse, der er regelmäßig berichten muss, was in der Zeitung steht. Keine sozialistische Zeitung ist derart spannend wie seine Erzählungen. Am interessantesten finden die Klassenkameraden freilich Friedrichs Freundin in London, in die er wahnsinnig verliebt ist – und die es leider gar nicht gibt. Während die Wende vielen Menschen, wie auch Friedrichs Eltern, den Boden unter den Füßen wegzieht, sieht er ein Paradies an neuen Möglichkeiten. Durch Einfallsreichtum gelangt er an Geld, Freunde, Frauen und einen Uniabschluss. Die Frage ist nur: Lässt sich ein ganzes Leben auf Lug und Trug aufbauen – oder bricht das Kartenhaus irgendwann in sich zusammen?

Kaltes Wasser von Jakob Hein wird auf dem Klappentext Schelmenroman genannt. Und das trifft es genau: Dies ist ein Schelmenroman par excellence. Und Protagonist Friedrich Bender ist ein ganz wunderbarer Schelm. Eigentlich ein 08/15-Typ, der sich von den Grenzen, die das Leben ihm auferlegt, schlicht nicht aufhalten lässt. Seine Fantasie überflügelt alles. Die Berliner Mauer hindert ihn daran, die DDR in der Realität zu verlassen. Aber in seinem Kopf reist er tatsächlich zu seiner Freundin nach England. Und das ist erst der Anfang – die Wende inspiriert ihn zu wahren Höhenflügen. Es gelingt dem deutschen Autor, der bereits 14 Bücher veröffentlicht hat, bestens, originelle Einfälle auf glaubwürdige Weise zu präsentieren. Das macht richtig viel Spaß. Ich weiß nie, was Jakob und Friedrich als Nächstes einfällt – und ich amüsiere mich prächtig mit diesem Buch. Es ist locker, luftig, schlau, witzig und ernst zugleich.

Jakob Hein ist ein Garant für niveauvolle Unterhaltung. Ich habe von ihm vor vielen Jahren Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht gelesen. Sein neuester Clou driftet trotz allen Schelmentums nie ins allzu Seichte ab und hat bei aller Heiterkeit stets einen leicht zynischen, vernunftvollen Hintergrund. Mit dem Ende bin ich nicht zu 100 Prozent einverstanden, aber insgesamt hat dieses Buch mir einen ganz herrlichen Ausflug ermöglicht in eine längst vergangene Zeit, als man noch – frei von virtueller Kontrolle – ein Schwindler sein konnte, verwegen und voller verrückter Einfälle. Dieser Roman ist genau ein kleines Stelldichein mit der Leichtigkeit der Fantasie.

Banner

Kaltes Wasser von Jakob Hein ist erschienen bei Galiani Berlin (ISBN 978-3-86971-125-6, 240 Seiten, 18,99 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

thumb_IMG_9179_1024.jpgWenn man verbrennt, tief innen drin
Einer packt ein Mädchen, tritt es in den Keller, missbraucht es und donnert es an die Wand, bis es sich nicht mehr rührt. Ein anderer ist alt geworden während der Arbeit in der Fabrik, tagein, tagaus, und jetzt, wo seine Arbeitskraft nichts mehr wert ist, bleibt ihm nur die Kneipe, wo die Kumpel sitzen und es nach Bier riecht, nach Kotze, Tschick und Wut. Resignation, Frust, Gewalt: Das ist die Mischung, die das Blut der Männer zum Kochen bringt, der Alkohol und die Perspektivenlosigkeit tun ihr Übriges. Manch einer will ausbrechen aus dem Trott der Generationen, will studieren und ein besseres Leben haben, aber wenn er es nicht schafft, muss er zurück in die Welt der Verlierer. Und er muss prügeln, er muss Knochen krachen lassen, damit er überhaupt noch was hört in seinem tiefen, gedämpften Sumpf aus abgestorbenen Träumen.

Milieustudie ist ein wirklich abgeschmackter Begriff. Trotzdem trifft er zu auf Sven Heucherts schonungslose Geschichten: Der junge deutsche Autor bildet in seinen Debütstorys eine Gesellschaftsschicht ab, die Arbeiterschicht, greift sich eine Handvoll Figuren aus der Masse der Hunderttausenden und zeigt, wie sie leben. Das tut er auf ebenso eindringliche wie authentische Weise: So knallhart und verdichtet ist seine Sprache, dass sie wirkt, als käme sie direkt aus den Mündern dieser Menschen. Wie Ohrfeigen sind die Worte, wie Schläge in den Magen, und wuchtiger noch sind ihre Inhalte: Von Einsamkeit erzählen sie und von Schmerz, von Alkoholismus und Brutalität. Hackler heißen diese Arbeiter auf Österreichisch, doch egal, wie man sie nennt: Ihr Leben ist hart. Ihre Hände sind rau und vernarbt, ihre Herzen sind es auch.

Sven Heucherts Figuren sind Männer. Auf Frauen treten sie drauf, wenn sie ihnen unterkommen, Frauen suchen sie, um abzuladen, was sich aufgestaut hat, Frauen sind anwesend. Aber die eigentlichen Figuren sind Männer. Wenn sie ein Kind zeugen, behalten sie die Frau dazu, versorgen sie, fühlen sich ihr verpflichtet, füllen die Leere im Inneren mit Bier. Liebe gibt es nicht, nur in kleinen Dosen vielleicht, als ein Aufeinander-angewiesen-Sein, als ein Mittel gegen das Alleinsein oder in der Form von Sex. Frauen werden gejagt, vergewaltigt, blutig geschlagen und liegengelassen. Sie sind Objekte der Begierde, sie sind das, was man sich nimmt, oder das, was zuhause sitzt und einem auf die Nerven geht. Dazwischen gibt es wenig, einen heimlichen Blick vielleicht, eine einzige zärtliche Geste.

Sven Heucherts Storys sind selbst wie Männer: Sie benutzen nicht viele Worte. Er ist ein Meister der Verknappung, sparsam geht er um mit seinem Werkzeug Sprache – und schafft es trotzdem, viel zu sagen. Deshalb ist sein Buch Asche, auf das Tobias vom Buchrevier aufmerksam gemacht hat, so hervorragend. Auch wenn ich oft vom Dialekt in den Dialogen wenig verstehe, ist die Botschaft klar: Da suchen Menschen nach dem Glück, wühlen danach, graben, bis ihnen die Fingernägel brechen, und finden nichts weiter als ein schwaches Schimmern. Ein desillusionierendes, lebensnahes, starkes Buch.

Banner

Asche von Sven Heuchert ist erschienen im Bernstein Verlag (ISBN 978-3-945426-13-5, 184 Seiten, 12,80 Euro). Eine weitere Besprechung findet ihr auch bei Sophie von Literaturen.

High Five

mercedes_03.jpgWenn ich eine Figur aus einem Roman wäre, dann … wäre oder sein dürfte? Wenn Zweiteres: Huck Fynn. Ersteres funktioniert nicht, dafür bin ich dann doch zu sehr ich.

Ich ordne meine Bücher neuerdings nach gelesen und ungelesen, das stiftet mich am meisten zum Lesen an. Ist nämlich erschreckend zu sehen, wie wenige der Bücher in meinem Regal ich gelesen habe und wie viele noch darauf warten.

Das Cover meines aktuellen Buchs ist zum Glück recht ansehnlich geworden. War nicht so einfach.

Viel zu selten verwendet wird das Wort kann ich mich so schnell nicht festlegen. Aber wenn man auf der Suche nach starken, etwas aus der Mode geratenen Vokabeln ist, sollte man unbedingt im Dornseiff, in Raddatz- oder in Tuchoksly-Büchern danach suchen.

Das Buch meines Lebens gibt’s nicht, es sei denn ich würde es aus unzähligen Passagen unterschiedlicher Bücher selbst zusammenstellen. Wichtige Autoren für mich sind aber zum Beispiel Herrndorf, Céline und Bouvier.

Lauenstein

Mercedes Lauenstein, 1988 in Kappeln an der Schlei geboren, arbeitet in der jetzt-Redaktion der Süddeutschen Zeitung und schreibt als freie Autorin Essays und Reportagen für Zeitungen und Magazine. 2015 erschien ihr Debüt Nachts im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03614-0, 191 Seiten, 18,95 Euro). Foto von Juri Gottschall.