Bücherwurmloch

„Das bittere Fazit ist, dass das Glück vor der Erkenntnis liegt“

„Wie ein Abgrund ist Paula, wie ein tiefes schwarzes Loch, in das man Verständnis, Geduld und Liebe hineinwirft, und alles versinkt in der Tiefe, ohne auch nur einen Hall zu erzeugen.“

Dabei hätte alles so gut sein können, dabei war es das einmal – gut. Als Paula sich in Ludger verliebt hat, als sie zwei Töchter bekommen haben und all diese Träume hatten. Doch dann hat sich herausgestellt, dass ihre Träume nicht dieselben sind, dann hat das Schicksal zugeschlagen – und Paula zu einem Abgrund gemacht. Hilflos dabei zusehen musste ihre Freundin Judith, die sonst nie hilflos ist, im Gegenteil. Sie ist eine selbstbestimmte Frau, Ärztin, Single und passionierte Reiterin: „Im Zweifel zog Judith die Gesellschaft des Tieres der Gesellschaft anderer Menschen vor.“ Und ja, viele Männer zu haben, ist schön, nur einen zu haben, wäre aber, sie mag es kaum zugeben, vielleicht auch schön. Autorin Brida sieht das ähnlich – auch wenn sie von ihrer großen Liebe Georg, dem Vater ihrer Töchter, inzwischen getrennt ist. Dennoch fährt sie mit ihm, den Kindern und seiner neuen Freundin auf Urlaub. Und merkt in dieser Zeit, in der sie noch Sex mit Georg hat, in der sie nachdenkt über ihr gemeinsames Leben, was sie wirklich will.

Fünf Frauen, fünf interlinking Short Stories: Das ist Daniela Kriens neues Buch, das ich sehr herbeigesehnt habe. Weil ich die Autorin vergöttere, seit sie mit Irgendwann werden wir uns alles erzählen und Muldental bewiesen hat, was für ein unheimliches Talent sie hat. Das Faszinierende an ihr ist: Daniela Krien braucht nur wenige Sätze, nur wenige Seiten, und man windet sich. Das Lesen ist unangenehm, das Nachdenken über das Gelesene auch. Man fühlt sich merkwürdig berührt, man fühlt sich irgendwie ertappt, man schämt sich ein bisschen. Ich liebe es, wenn ein Buch so etwas vermag. Wenn es mich aufrüttelt und zwickt. Was ich ebenfalls liebe: dass alle Frauen im Buch ständig an Sex denken. Dass alle Frauen im Buch ständig Sex haben. Weil das so selten miterzählt wird, weil das stets den Männern und Männerfiguren zugeschrieben wird. Das ist ein Tabu, obwohl es keines sein sollte, und ich finde es grandios, wie nonchalant und ohne große Mühe Daniela Krien es bricht.

Es geht um Lebensentwürfe in diesem Buch, um die Lebensentwürfe von fünf verschiedenen Frauen. Und es ist egal, welche Entscheidung man als Frau trifft, es scheint nie die richtige zu sein. Ist es besser, Kinder zu bekommen – oder nicht? Ist es besser, zu heiraten, sich festzulegen auf einen Mann – oder nicht? Was muss man aufgeben als Frau, um Karriere zu machen – und was muss man opfern, um eine Familie zu haben? Wir denken darüber nicht nur nach, wir leben das. Das sind die Fragen, die uns umtreiben und auf die es keine allgemeingültigen Antworten gibt. Daniela Krien ist klug, sie versucht auch nicht, welche zu finden. Stattdessen erzählt sie gute Geschichten.

Die Liebe im Ernstfall von Daniela Krien ist erschienen bei Diogenes (ISBN 978-3-257-07053-8, 28

Bücherwurmloch

„You wanna know the future? Look in the mirror“
Sie sind vier Geschwister, und sie haben einen Plan: Sie wollen eine Wahrsagerin aufsuchen. Im Jahr 1969 lassen sich Simon, Klara, Daniel und Varya Gold das exakte Datum ihres Todes verkünden. Sie sind Kinder, sie wissen nicht, was sie tun – und wie sehr das ihr Leben verändern und bestimmen wird. Sie nennen einander den Tag nicht, an dem alles zu Ende sein soll, und jeder für sich geht anders damit um. Ist das vielleicht nur Humbug? Oder werden sie wirklich wie angekündigt sterben? Simon ist mit seinen 16 Jahren eigentlich zu jung, um mit seiner Schwester Klara nach San Francisco abzuhauen, doch wenn die Wahrsagerin Recht hat, hat er nicht viel Zeit: Er stürzt sich in das wilde bunte schwule Leben der Achtziger. Klara möchte eine berühmte Magierin werden, eine Illustionistin, und sie schafft es bis nach Vegas. Daniel gelingt eine militärische Karriere, die ein abruptes Ende findet. Und Varya forscht an Affen, um eine Möglichkeit zu finden, wie der Mensch ewig leben kann – ohne dabei zu merken, dass ihr Dasein längst nicht mehr lebenswert ist.

Die Idee ist freilich nicht neu: Sag einem Menschen, wann er sterben wird, und beobachte, wie er sich ab da verhält. Chloe Benjamin hat dies zur Ausgangssituation für ihren zweiten Roman genommen und vier Figuren erdacht, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist. Ich muss gestehen, ich hatte keine sehr hohen Erwartungen an den Roman – und war dann positiv überrascht. Besonders die erste Story rund um Simon, der sich so vorbehaltlos, blutjung, naiv und voller Lebenslust ins goldene Gedränge San Franciscos wirft, hat es mir angetan. Überhaupt schreibt Chloe Benjamin sehr gefühlvoll, und damit meine ich keine romantischen Gefühle: Neid und Missgunst finden ebenso ihren Platz wie Versagensangst und Trauer. Die Geschwister, die einst so eng verbunden waren, verlieren sich über die Jahre aus den Augen. Wie sehr der Besuch bei der Wahrsagerin ausschlaggebend dafür ist, lässt sich nicht genau sagen: Zu wissen, wann sie sterben werden, lastet – wenn auch auf unterschiedliche Weise – schwer auf diesen vier Seelen.

Es gehört für uns zum Leben, nicht zu ahnen, wann unser letzter Tag sein wird. Das ist die Essenz von Carpe Diem. Es kann morgen vorbei sein oder in vierzig Jahren. Wie würden wir uns verhalten, wenn wir es wüssten? Würden wir es überhaupt glauben? Natürlich hat der Roman durch sein Thema ein bisschen was von Final Destination – literarisch umgesetzt. Nicht alle Ideen, nicht alle Protagonisten haben mich restlos überzeugt. Dennoch hab ich das Buch gern gelesen, fand es interessant und originell, schlau konstruiert. In 28 Ländern ist es erschienen und dominiert die Bestsellerlisten – weil es gut geschriebene, niveauvolle Unterhaltung bietet, die man schlicht jedem empfehlen kann.

The Immortalists von Chloe Benjamin ist auf Deutsch unter dem Titel Die Unsterblichen erschienen im btb Verlag.

Bücherwurmloch

„Gib mir, was ich will, ich flehe dich an, damit ich dir danach ins Gesicht spucken kann“
Es hat nur 150 Seiten, doch jede davon explodiert regelrecht vor Wut: In King Kong Theorie schreibt die bedeutende französische Autorin Virginie Despentes über Vergewaltigung und Prostitution, über das Patriarchat und die vielfältige Ungerechtigkeit, die damit einhergeht. Sie schleudert dem Leser entgegen, was sie über Rollenklischees und Männlichkeitswahn denkt, über sexuelle Identität und Pornografie. Sie tut es so, wie man es von Frauen nicht will und nicht erwartet: schonungslos, direkt, ohne ein Blatt vor dem Mund. In ihren Sätzen steckt so viel Wahrheit. Und das zu lesen, ist wie mit allen Wahrheiten: schmerzhaft und eine Erleichterung zugleich.

Wir wollen anständige Frauen sein. Wenn die Fantasie als störend, unrein oder verachtenswert gilt, verdrängen wir sie. Brave kleine Mädchen, Engel im Haus und gute Mütter. Wir sind so formatiert, dass wir den Kontakt zu unserer eigenen Wildheit meiden.

Als Frau kommt irgendwann der Tag, da hat man keine Lust mehr. Da ist man nur noch erschöpft. Weil man kämpft, an allen Fronten kämpft – und nirgends auch nur ansatzweise gewinnen kann. Stattdessen verliert man an Energie, so viele Streuverluste hat man, man verliert die Motivation und die Lust und die Geduld. Die Karriere ist ein Kampf, die ungleiche Bezahlung, die Frage nach der Kinderbetreuung, nach denselben Chancen, wie Männer sie haben. Innerhalb der Familie herrscht ein Kampf, gegen das Klischee vom lieben, fürsorglichen Muttchen, das keine eigenen Wünsche haben darf, das sich aufopfern muss für die Kinder. Nichts ist selbstverständlich für uns, nichts ist fair. Wir reiben uns auf. Wir stoßen in allen Richtungen nur auf Beschränkungen und Grenzen. Die es für Männer nicht gibt. Und daher rührt der Zorn, daher rührt die Wut.

Virginie Despentes spürt das genauso wie wir alle. Sie hat sich schon mit ihrem Debütroman Baise-moi – Fick mich, den sie später selbst verfilmt hat, in die Nesseln gesetzt. Und ist der Ruf erst ruiniert, schreibt es sich ganz ungeniert: Mittlerweile ist die französische Schriftstellerin preisgekrönt und Mitglied der Académie Goncourt.

Nein, man beschreibt einen männlichen Autor nicht so, wie man es bei einer Frau macht. Niemand hat je das Bedürfnis gehabt zu schreiben, Houellebecq sei schön. Wenn er eine Frau wäre und ebenso viele Männer seine Bücher mögen würden, hätten sie geschrieben, er sei schön. Oder nicht schön. Und man hätte in neun von zehn Artikeln versucht, ihn fertigzumachen und ausführlich zu erklären, warum dieser Mann sexuell so unglücklich sei. Man hätte ihm zu verstehen gegeben, dass es seine Schuld sei, dass er es nicht richtig anpacke, dass er sich über nichts und niemanden beklagen dürfe. Und nebenbei hätte man sich über ihn lustig gemacht: Sag mal, hast du deine Fresse gesehen?

Das ist nur einer der vielen Aspekte, die Virginie Despentes in ihren 150 wütenden Seiten unter dem Teppich hervorkehrt. Die ungleiche Behandlung, die beide Geschlechter erfahren, quer durch die Bank, beleuchtet sie in aller Deutlichkeit. Sie plädiert für Selbstbestimmung, für die gesellschaftliche Absicherung von Prostituierten, für mehr Rechte von Vergewaltigungsopfern. Sie selbst wurde mit 17 Opfer einer solchen Straftat, und auch so viele Jahre danach kann sie nicht damit abschließen. Das muss sie auch nicht. Niemand darf das verlangen, niemand hat das Recht, Vergewaltigungsopfer ständig zu bevormunden, ihnen keinen Glauben zu schenken, sie zu bestrafen für das, was ihnen zugefügt wurde.

Virginie Despentes ist ein kleines Pulverfass, das spürt man deutlich. Wir alle sind es. Wir haben kein Verständnis mehr. Wir wollen nicht mehr brav sein, nicht mehr zurückstecken. Wir wollen nicht mehr unterdrückt und verlacht werden. Damit muss endlich Schluss sein. Spätestens für unsere Töchter.

Komplexe haben, das ist weiblich. Unauffällig sein. Gut zuhören. Nicht mit dem Verstand brillieren. Gerade gebildet genug sein, um zu begreifen, was der Schönling zu erzählen hat.

King Kong Theorie von Virginie Despentes ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-31910-1, 160 Seiten, 9,99 Euro).

Bücherwurmloch

„Mella hatte ein Schicksal, und wer in ihrer Nähe war, bekam auch eines: Besser konnte es Marie nicht erklären“

Es ist das Wie. Der Tonfall, das Dazwischen. Wenn du genau hinhörst, spürst du das Ungesagte.

Und Ungesagtes gibt es viel zwischen Mella und Marie. Weil so viele Jahre vergangen sind, seit sie Kinder waren. Seit sie befreundet waren. Einst war alles zwischen ihnen leicht, obwohl die Umstände schwer waren, obwohl Mellas Mutter erst nur abwesend war, nur verrückt war, nur in einer Klinik war – dann aber tot. Obwohl Marie Mellas Vater immer schon interessant fand, ein bisschen zu interessant. Obwohl sie Außenseiter waren in der Schule, jede auf ihre Art. Zwischen Mella und Marie gab es dieses Band, das vor allem Marie enger und enger knüpfte, weil sie fasziniert war von der Freundin und deren angeschlagener Familie. Jetzt, so viele Jahre später, begegnen sie einander wieder, sind gemeinsam beruflich unterwegs in Japan. Und da spüren sie es, das Ungesagte. Da sorgen sie dann doch dafür, dass es nicht länger ungesagt bleibt.

Es ist seltsam, aber wahr: Ich konnte dieses Buch nicht losgelöst von meinem eigenen lesen. Ein Roman über eine enge Freundschaft, die einen Bruch erleidet, von dem man als Leser erst nicht weiß, was ihn ausgelöst hat. Ein Roman über zwei Menschen, die sich wiedersehen nach Jahrzehnten, die sich einmal kannten und nun doch nicht mehr, zwischen denen so viel simmert. Es ist dasselbe Konstrukt, dieselbe Ausgangssituation. Und ich war sehr neugierig. Denn oft wurde ich bei all meinen Lesungen gefragt: Hätten Moritz und Raffael auch zwei Mädchen sein können? Ich habe immer geantwortet: Ja, natürlich – aber dann hätten sie einander andere Dinge angetan. Gudrun Seidenauer – die ich wegen ihres großartigen Buchs Aufgetrennte Tage kenne, das ich sehr liebe und euch ans Herz legen möchte – hat mir bewiesen, dass das stimmt. Die Story funktioniert. Die Ausgangssituation ermöglicht viele Wege. Wir sind beide am selben Punkt losgegangen – und woanders angekommen. Aber: Der Grundton ist der gleiche. Die Wehmut, die man spürt, wenn man einer Freundschaft hinterhertrauert. Die Verletzungen, die nur wahre Freunde uns auf diese Art zufügen können. Und das Loslassen, das manchmal gelingt – manchmal nicht.

Gudrun Seidenauer hat ein feines Ohr für die Zwischentöne. Und ein gutes Händchen, sie einzufangen, sie niederzuschreiben. So vieles gerät in eine Schieflage zwischen Marie und Mella, als Leser sieht man besorgt zu und weiß genau – gut ausgehen wird das nicht, das kann es nicht. Ich habe diesmal anders gelesen als sonst, mit einem tieferen Blick für die Konstruktion, für die Schichten, aus denen der Roman besteht. Ich war sehr gespannt darauf, wie sie ihre Figuren entlassen wird, mit welchen Schlussworten sie sie gehen lässt. Weil ich mich nun selbst sehr lange Zeit mit einer ganz bestimmten fiktiven toxischen Freundschaft beschäftigt habe. Weil ich viel diskutiert habe über das Ende meines Buchs. Und ich verrate euch den letzten Satz von Was wir einander nicht erzählten natürlich nicht, aber so viel kann ich euch sagen: Es ist ein guter letzter Satz.

Was wir einander nicht erzählten von Gudrun Seidenauer ist erschienen bei Milena (ISBN 978-3-903184-24-4, 264 Seiten, 24 Euro).

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„Eigentlich ist es überhaupt nicht seltsam, dass die Menschen sich umbringen. Viel seltsamer ist doch, wenn sie es nicht tun“
Ellinor ist eine jener Frauen, die gerade verschroben genug sind, um noch als interessant zu gelten: Von ihrem ersten Freund hat sie sich beibringen lassen, wie man sich prügelt. Über eine Dating-Seite lernt sie Calisto kennen, der wirklich dick ist – und wirklich besessen von Houellebecq. Obwohl sie nichts füreinander empfinden, obwohl der Sex schlecht ist und sie einander nicht mal mögen, bleibt sie in seinem Haus – wo sich auch das Manuskript von Max Lamas befindet, „Die polyglotten Liebhaber“. Er hat es in Italien geschrieben, als er sich einquartiert hat bei Lucrezia und ihrer Familie. Einst reiche Adelige, bröckelt inzwischen der Putz von ihren Wänden – und was da zwischen Max Lamas und Lucrezias Großmutter gelaufen ist, ist mehr als rätselhaft.

Es geht um Sex in diesem Buch, um Macht und Erniedrigung, um Ekel, Neid und Geld. Es ist ein wilder Ritt, auf den die schwedische Autorin Lina Wolff den Leser mitnimmt. Auf den ersten 30 Seiten denkt man mehr als einmal: What the fuck?, und wenn man weiterliest, hört das nicht auf. Die Figuren sind fertig mit der Welt, mit dem Leben, mit sich selbst. Sie sind kaputt und irgendwie unangenehm. Lina Wolff erzählt absolut unbarmherzig. Sie stülpt das Innere ihrer Charaktere nach außen, und man hat fast das Gefühl: Sie macht sich lustig über sie, lacht sie aus wie eine fiese Mutter, die ihnen danach doch wieder über die Wange streicht. Weirder Vergleich? Ich sag’s euch, das Buch ist noch viel weirder.

Manche Szenen sind ziemlich bizarr. Mancher Handlungsstrang ebenfalls. Drei große Teile hat der Roman, sie hängen eher lose zusammen. Verbunden werden sie vom schwarzen Humor, von der bitteren, melancholischen und zugleich resignierten Sichtweise auf die Welt. Wie ein Kabinett der Kuriositäten präsentieren sich die Figuren, sie tanzen auf der Bühne, tanzen nach der Pfeife von Lina Wolff, die gekonnt die Fäden zieht – und nie das tut, was man erwartet. Ich bin nur so durchgerauscht durch dieses Buch, habe es im Zug innerhalb von zwei, drei Stunden inhaliert – und mich dabei ebenso gegraust wie diebisch gefreut. Über so manche Wendung, über so manche großartige Formulierung. Und vor allem: über so viel schonungslose Bosheit.

Sie sagen, dass Sie Liebeskummer haben. Ich dagegen bin ja nicht mal verliebt. Schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Mein Herz hat die Fähigkeit verloren, es ist zu schlau, um sich zu verlieben. Es durchschaut alles sofort, und dann denkt es sich: Warum soll ich aus meinem sicheren Schlupfwinkel hervorkriechen, nur um mich plagen zu lassen?

Die polyglotten Liebhaber von Lina Wolff ist erschienen bei Hoffmann und Campe (ISBN 978-3-455-00143-3, 288 Seiten, 22 Euro).

 

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„Die schlimmen Erinnerungen brennen sich immer viel tiefer ein“
Peter Manyweathers hat kein aufregendes Leben, aber er hat eine Mission: Er möchte die Blumen finden, von denen er in einem geheimnisvollen Brief gelesen hat. Es sind seltene Blumen, manche von ihnen wurden kaum jemals gesichtet, andere blühen ungefähr so oft, wie ein Meteorit auf der Erde einschlägt. Und jetzt wäre Peter eigentlich nicht der Typ für Abenteuer, doch als er den – angenehmerweise recht reichen – Hens kennenlernt, stellt sich bald heraus: Auch Hens ist interessiert an den schönen Pflanzen. Und an den schönen Frauen, die er kennenzulernen plant. Er treibt Peter an, gemeinsam zu jenen weit entfernten Orten zu reisen, an denen die Blüten, für die er sich begeistert, vielleicht zu finden sind. Doch nicht nur die beiden erleben dabei allerlei Merkwürdiges: Dreißig Jahre später hat Dove, dessen Leben ähnlich unspektakulär ist wie das von Peter, plötzlich seltsame Visionen. Von Blumen halluziniert er. Und von einem Mann, den er nie gesehen hat – und der ihm doch so bekannt vorkommt …

Unterhaltung auf hohem Niveau: Das ist Der Blumensammler von David Whitehouse. Ein feines, stringent erzähltes und vor allem wunderbar originelles Buch, das einen interessanten Einblick in die Flora dieser Welt gibt – und das Ganze mit einem Hauch Magie würzt. Wer hat je von der mysteriösen Udambara gehört? Oder von der bezaubernden Lichtnelke? Wer weiß, wo sie wachsen? Manche Blumen recken sich in unwegsamem Gelände der Sonne entgegen, andere blühen nur für einen winzig kurzen Moment. David Whitehouse hat ihnen eine Ode gewidmet, hat ihnen eine kleine Hymne geschrieben, und das ist schön. Es ist verträumt, ein bisschen romantisch, minimal kitschig und maximal gut zu lesen. Um mitzuschwimmen in dem Sog, den der junge englische Autor erzeugt, muss man sich einlassen auf die Verrücktheiten dieses Buchs. Auf die Ideen, die so einzigartig sind wie die beschriebenen Blumen. Auf die Erklärungen am Ende, die – näher betrachtet – vielleicht gar nicht so viel Sinn machen, die aber – wenn man wohlwollend bleibt – zum Schmunzeln anregen und einen Kreis ergeben. Dieses Buch ist genau das, was man in die Hand nehmen sollte, wenn man sich etwas Durchdachtes, Neues, Spannendes und Unterhaltsames wünscht. Es erzählt von Erinnerungen und magischen Verbindungen, von duftenden Blüten und dem Schönsten, was es auf dieser Welt zu finden gibt: der Liebe.

Das ist ja das Problem bei Erinnerungen. Man kann sie sich nicht aussuchen. Wenn man sich nur an das erinnern würde, an das man sich auch erinnern möchte, dann gäbe es keine gebrochenen Herzen.

Der Blumensammlervon David Whitehouse ist erschienen bei Klett-Cotta (ISBN 978-3-608-50373-9, 346 Seiten, 20 Euro).

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„In North Carolina gab es die schwarze Rasse nur an den Enden von Stricken“

Bevor ich nach North Carolina zurückgekommen bin, hatte ich auch noch nie gesehen, wie ein Mob einen Menschen in Stücke reißt. Wenn man das gesehen hat, sagt man nicht mehr, was Menschen tun werden und was sie nicht tun werden.

Und etwas, das Menschen nicht tun, das gibt es nicht, sie tun alles, was einem einfallen kann, wie grausam und vermeintlich unmenschlich es auch sein mag. Und grausame Taten gibt es zur Genüge in diesem Buch, es besteht aus solchen Taten, es ist aus ihnen gebaut, denn es geht in Underground Railroadvon Colson Whitehead, ausgezeichnet mit dem National Book Award und mit dem Pulitzerpreis, um die Sklaverei. Schon seit langer Zeit beschäftigt mich die Tatsache, dass der Mensch jemals auf die Idee gekommen ist, einer sei mehr wert als der andere, die Farbe der Haut habe eine Bedeutung, und egal, wie viele Erklärungen ich dafür im Lauf meines Lebens gelesen habe, wirklich begriffen habe ich das nie. Dieses Erhöhen der einen über die anderen, obwohl wir alle dasselbe Blut haben und Knochen und ein Herz, obwohl wir alle dasselbe empfinden und sehen und wollen, obwohl wir eine Einheit sein könnten und sollten, das leuchtet mir nicht ein – und das wird es auch nie tun.

Wenn ich ein Buch wie dieses lese, das aufbereitet, was Menschen über Jahrhunderte weg anderen angetan haben, wie sie sie verprügelt und verstümmelt, ausgebeutet und ausgepeitscht, entwertet und bei lebendigem Leib verbrannt haben, bestätigt mich das nur immer wieder in meinem Glauben, dass die Menschheit der widerwärtigste Parasit ist, den die Erde sich je eingefangen hat. Und ich hoffe wieder aufs Neue, dass er bald ausstirbt und verschwindet von diesem Planeten, damit der sich erholen kann von der Krankheit Mensch. Lange wird das nicht mehr dauern, natürlich nicht, wir sind auf dem besten Weg, uns selbst und uns gegenseitig auszulöschen und auszuradieren. Colson Whitehead erzählt durch seine Protagonistin Cora, die von einer Sklavenplantage entkommt, von den Gräueln der damaligen Zeit – doch, nein, so viel besser ist es heute nicht, da brauchen wir uns nichts vorzumachen – und von dem Kampf für die Freiheit. Einem Kampf, der auch nach dem Ende der Sklaverei noch lange nicht gewonnen ist, denn #blacklivesmatter zeigt jeden Tag, wie sehr die Menschen mit der helleren Haut sich immer noch erhöhen über jene mit dunklerer. Obwohl das doch sowas von scheißegal sein sollte.

Coras Unglück war nicht an ihre Person oder ihr Handeln gekettet. Ihre Haut war schwarz, und so ging die Welt mit schwarzen Menschen um. Nicht mehr, nicht weniger.

Sie entkommt über ein System an Untergrundeisenbahnen, das es so – man muss sagen: leider – nie gegeben hat. Der Autor selbst hat erklärt, das Buch sei kein historischer Roman, er habe es nach dem Motto geschrieben „Halte dich nicht an Tatsachen, sondern an die Wahrheit“. Die Lektüre von Underground Railroad ist schwer auszuhalten, auch wenn man kein Misanthrop ist wie ich. Denn es erzählt nun mal die Wahrheit.

Underground Railroad von Colson Whitehead ist erschienen bei Hanser (ISBN 978-3-446-25655-2, 352 Seiten, 24 Euro).

 

 

Snacks für zwischendurch

Für gewöhnlich bekommt ihr hier nur das zu sehen, worüber ich mehr als ein, zwei Sätze zu sagen habe – doch das soll sich ändern. In Wahrheit lese ich nämlich viel mehr. Ab sofort möchte ich euch meine monatliche Lektüre mit kurzen Kommentaren dazu zeigen. Keine neue Idee, ich weiß, das macht ihr ja fast alle so – neu aber immerhin für mich. Ich freu mich natürlich, wenn wir darüber diskutieren und uns austauschen!

Franziska Wilhelm: Meine Mutter schwebt im Weltall und Großmutter zieht Furchen
Großartig verrücktes Buch über eine junge Frau, die ein Verhältnis mit ihrem Onkel hat (ja, es ist so schräg, wie es klingt) und mit einem Fremden in einem Bulli quer durchs Land fährt. Roadtrips ergeben einfach immer die besten Geschichten. Darüber werdet ihr auf jeden Fall bald noch mehr lesen können.

Eve Harris: Die Hochzeit der Chani Kaufman
Hat mich wahnsinnig aufgeregt, dieses Buch. Da habe ich gemerkt: Ich habe kein Verständnis mehr für das, was im Namen der Religion Menschen angetan wird. Und vor allem den Frauen. Es macht mich einfach nur noch wütend. Ich konnte das nicht als schrullige jüdische Geschichte lesen, für mich war es in erster Linie eine Geschichte von Unterdrückung und Frauenverachtung.

Lukas Lindner: Der Letzte meiner Art
Beginnt irgendwie lustig, bleibt es aber nicht unbedingt – die Satire ist in meinen Augen nicht ganz gelungen. Manchmal hab ich geschmunzelt, viel öfter aber hab ich mich gewunden und fremdgeschämt. Es ist wie mit einem Witz, der nicht so richtig zündet. Eigentlich ist es eher traurig, aber nicht mal darüber kann man sich erfolgreich lustig machen.

Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall
Ich vergöttere Daniela Krien wegen ihrer großartigen Bücher „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ und „Muldental“. Als sie zu meiner Wohnzimmerlesung in Leipzig kam, war ich ein aufgeregtes Fangirl. Über ihren neuen Roman, der so herrlich anders ist als die Vorgänger, erzähle ich euch nach dem Erscheinungstermin mehr.

Siri Hustvedt: Die unsichtbare Frau
Eine herbe Enttäuschung, ich weiß nicht, was dieses Buch mir sagen will. Ich habe versucht, es zu ergründen, aber es ist wirr, unzusammenhängend, mit seltsam bedeutungslosen Botschaften. Und das, wo Siri Hustvedt eine so überragende Autorin ist. Irgendwann hab ich nur noch quergelesen.Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit
Im ersten Drittel war ich begeistert. Diese langsame, detailverliebte Sprache, dieser Rhythmus, diese landschaftliche Fremdartigkeit! Dann habe ich, wie es oft passiert, mehr und mehr das Interesse verloren. Es war immer noch schön und melodisch, aber ein bisschen pointless.

Thomas Hettche: Pfaueninsel
Ein tolles Setting: Ein zwergwüchsiges Mädchen namens Marie, das im Jahr 1810 auf die Pfaueninsel in der Havel bei Potsdam kommt und dort Schloßfräulein wird. Manchmal lustwandeln die Preußenkönige in dem künstlich angelegten Paradies mit Palmen und exotischen Tieren. Thomas Hettche beeindruckt durch eine formvollendete Sprache, er lässt die damalige Zeit aufleben, bleibt sehr nah bei seiner Figur. Gut zu lesen, interessant, bisschen langweilig.

Melinda Nadj Abonji: Schildkrötensoldat
Es gibt einen Grad an Verrücktheit bei Figuren, der ist charmant, der ist kurios. Ist er überschritten, kann man nicht mehr folgen – den Handlungen nicht, dem Innenleben auch nicht. Das ist hier der Fall: Der Protagonist ist wirr im Kopf, und derart wirr sind seine Erzählungen, dass man als Leser Verständnis und Geduld verliert. „Tauben fliegen auf“ habe ich gefeiert, das hier war mir zu gewollt, ich habe keinen Zugang gefunden.

Nana Ekvtimishvili: Das Birnenfeld
Sie wachsen in einem Waisenhaus auf: Die inzwischen volljährige Lela und zahlreiche andere Kinder. Von deren Leben am Rand der Gesellschaft erzählt die georgische Autorin, die auch Filme dreht, in schnellen Schnitten und harten Szenen. Nicht hart genug aber, um wirklich zu erschüttern. Es sind Momentaufnahmen, Freundschaftsmomente, Streitmomente. Auch gut zu lesen, aber nicht sehr aufregend.

Margriet de Moor: Von Vögeln und Menschen
Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Stellenweise hab ich dieses Buch gefeiert und seine Autorin für ihre kluge Ausdrucksweise. Dann wieder war ich extrem genervt, habe Seiten überblättert, auf denen die Handlung keinen Schritt voranging. Die nicht nachvollziehbaren Perspektivenwechsel haben mich gestört, mehr noch aber dass die Grundidee – eine Frau gesteht einen Mord, den sie nicht begangen hat – so seltsam lieblos umgesetzt wurde. Alles ist bereits zu Beginn bekannt, nichts ist spannend.

Harald Jöllinger: Marillen & Sauerkraut
Da hab ich mir viel erwartet, das klang richtig gut: Gschupfte und grantige Geschichten – perfekt für meine österreichische Seele! Noch an dem Tag, an dem das Buch bei mir ankam, hab ich angefangen, es zu lesen, und: Naja. Oder um es auf Österreichisch zu sagen: Ja, eh. Manche Storys sind herrlich böse, gschissen, grantig, mit anderen konnte ich genau gar nix anfangen. Sehr viel innerer Monolog, sehr viele Beobachtungen, die noch viel spitzer hätten sein dürfen – siehe Verlagskollegin Petra Piuk.

Eva Menasse: Tiere für Fortgeschrittene
2017 hat Eva Menasse für dieses Buch den Österreichischen Buchpreis bekommen. Es enthält Geschichten, gebündelt unter dem großen Nenner „Tiere“. Manche Sätze sind unglaublich treffend, großartige Alltagsbeobachtungen, die möchte man sich einrahmen. Die Storys selbst sind manchmal eigenartig zerfranst, ohne harten Kern, ohne Wumms.

Katharina Mevissen: Ich kann dich hören
Das ist einer dieser Romane, bei denen man denkt: Oh, ja, das hätte was werden können. Das ist nur ganz knapp vorbei. Da spüre ich das Herz, da spüre ich das Talent – allein, es berührt mich (noch) nicht. Viele schöne Szenen, im Großen und Ganzen aber ein bisschen blutleer, zerstückelt, eine Nuance zu distanziert.

Das also in aller Kürze zu meinen literarischen Ausflügen im ersten Monat des Jahres 2019 – Blogbeiträge werden daraus wohl nur zwei, vielleicht drei entstehen. Alle anderen Bücher, ihr wisst ja, ich lebe in der Hinsicht minimalistisch, dürfen ihr neues Zuhause in der Bücherei beziehen. Habt ihr einen der Titel gelesen und seid ihr der gleichen Meinung wie ich? Oder seht ihr das ganz anders?

 

 

 

 

 

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„Die Menschen, von denen wir lernen, nehmen einen besonderen Platz in unserer Erinnerung ein“

Fast gestorben zu sein ist nichts Einmaliges oder Besonderes. Der Tod begegnet uns ständig; wohl jeder, wage ich zu vermuten, war ihm schon einmal nahe, vielleicht ohne es zu merken.

Es sind diese Situationen, von denen Maggie O’Farrell erzählt: Momente, in denen der Tod nah war. So nah, dass sie es sehr wohl gemerkt hat. Sie, die bekannt ist für ihre bisher sieben Romane, hat sich der eigenen Geschichte angenommen, hat eine Art bruchstückhafte Autobiografie geschrieben, hat sich mit ihrem Leben beschäftigt und nur jene Augenblicke behandelt, in denen ebenjenes Leben beinahe zu Ende gewesen wäre.

Maggie O’Farrell wäre beinahe ertrunken und einer Infektion erlegen, sie wurde mit einer Waffe bedroht und war bei der Geburt ihres Kindes in Lebensgefahr. Das beschreibt sie jedes Mal mit einer Detailverliebtheit, dass ich mich frage, wie viel Wahrheit darin steckt, wie viel Fiktion, was sind unsere Erinnerungen denn anderes als Gedanken, die wir uns heute über das Damals machen? Erstaunlich finde ich die Tatsache, wie oft Maggie O’Farrell – von Kindesbeinen an – offenbar dem Tod ins Auge geblickt hat. 17 solcher Geschichten umfasst das Buch. Ich kann von keinen solchen gefährlichen Dem-Himmel-so-nah-Momenten in meinem Leben berichten, oder vielleicht: Mir war nie bewusst, dass dieser Hauch mich beinahe gestreift hätte. Die wild durcheinandergewürfelten Kapitel sind spannend und kurzweilig zu lesen, im Ganzen ergeben sie einen Bericht über Nahtoderfahrungen, eine Mahnung, das Leben zu nutzen mit dem Wissen, dass es vorbei sein kann jederzeit. So gesehen: Carpe Diem in Buchform.

Ich bin ich bin ich bin von Maggie O’Farrell ist erschienen bei Piper (ISBN 978-3-492-05889-6, 256 Seiten, 22 Euro).

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„Nur weil zwei Leute heiraten, heißt das noch lange nicht, dass sie einander alles sagen“
Drei Buben, ein Mädchen: Das ist der Sommer in Apulien, das ist jeder Sommer in Apulien, wo Teresa ihre Ferien verbringt. Sie stammt aus Turin und kommt mit dem Vater, jedes Jahr, und sie ist fasziniert von Bern, Tommaso und Nicola, die auf einem Hof aufwachsen, eigentlich keine Brüder sind, aber irgendwie doch, sie leben streng religiös und arbeiten hart. Besonders für Bern interessiert Teresa sich, und aus diesem Interesse wird eine erste große Liebe, wird die vielleicht einzige große Liebe. Doch die beiden werden es nicht leicht miteinander haben in den Jahren, die folgen, sie werden sich, bei aller Liebe, wieder und wieder verletzen, verlieren, erneut finden, bis es nichts mehr zu finden gibt.

Das klingt nach einer guten Geschichte, nicht wahr? Ist es nur leider nicht. Paolo Giordano kann schreiben, keine Frage, sehr gut kann er das, und es gibt Szenen in Den Himmel stürmen, die sind getragen von seinem typischen Ton, die sind ausgezeichnet formuliert. Nur die Story, die Handlung, ist derart unstimmig, zerfasert, unglaubwürdig, dass ich mich ständig frage: Paolo, warum? Was hast du getan? Die Richtung, in die das Buch sich entwickelt, die die gesamte Geschichte einnimmt, ist dröge und unromantisch, sehr seltsam auch: Das Paar verstrickt sich in eine Obsession, plagt sich, müht sich ab, die Liebe geht in kürzester Zeit verloren und ja – das mag so sein im Alltag. Ich verstehe das, ich mache mir keine Illusionen. Aber dadurch wird es ein ganz anderes Buch, als die Rahmenhandlung glauben machen will, als Titel und Aufmachung und Klappentext sagen, ein nüchternes, schwieriges Buch. Es ist keine Lovestory. Es ist kein Roman von zweien, die sich als Jugendliche kennenlernen und über Widrigkeiten hinweg abstoßen und anziehen. Es ist vielmehr ein Roman darüber, dass Menschen sich manchmal einbilden, sie müssten etwas haben, etwas bekommen – und dann, wenn sie es nicht erreichen können, alles hinwerfen, das ihnen etwas bedeutet.

Am wenigsten mag ich die Zeitsprünge, die mir zu abrupt sind und deren Sinn sich mir nicht erschließt. Weshalb erzählt Hauptfigur Teresa ab und zu – völlig aus dem Zusammenhang und ohne erkennbare Dramaturgie – von einem Zeitpunkt fünfzehn Jahre später, warum zerstört Paolo Giordano durch diese Einschübe jegliche Spannung, jegliches Rätselraten, was geschehen wird mit Teresa und Bern? Wieso ist Teresa so erschreckend passiv, blass, unzugänglich? Manchmal habe ich den Eindruck, und das ist vielleicht das Schlimmste, dass es sich so anhört, wenn ein Mann sich vorstellt, wie eine Frau sich fühlt. Und ich mich beim Lesen winde, laut rufen möchte: So nicht, so ist es nicht! Alle Figuren im Buch sind ständig genervt. Diese jungen Menschen, die den Hof später besetzen und selbst bewirtschaften, die unabhängig sein wollen und revolutionär, sind allesamt unglücklich mit ihrem eigenen Lebensentwurf. Sie scheinen zu denken: Das hätte was werden können, das haben wir uns so gut vorgestellt, warum klappt es nicht? Und genau so geht es mir mit diesem Buch.

Den Himmel stürmen von Paolo Giordano ist erschienen bei Rowohlt (ISBN  978-3-498-02533-5, 528 Seiten, 22 Euro).