Gut und sättigend: 3 Sterne

PiukEine perfide Persiflage auf die „Generation GNTM“
„Ich ändere meinen Namen auf Facebook von Linda auf Lucy. Und meinen Wohnort von Floridsdorf auf Hollywood. Ich weiß, dass ich noch nicht in Hollywood war, aber es geht ja um die Zielvisualisierung und wenn du jeden Tag Floridsdorf liest, dann bleibst du in Floridsdorf, aber wenn du jeden Tag Hollywood liest, dann fliegen dir die Möglichkeiten, nach Hollywood zu kommen, nur so zu.“ Und nach Hollywood will Lucy unbedingt, also uuunbedingt, wirklich, wirklich, so sehr, dass sie alles dafür tut. Das Mädchen aus dem Wiener Plattenbau ist überzeugt davon, dass es eine große Schauspielerin werden wird, und übt schon als Kind die Oscarrede. Das echte Leben ist fad und ohne Perspektiven, aber Lucy lässt sich nicht unterkriegen: Sie glaubt an sich, sie kellnert und spart, sie schläft mit vermeintlichen Regisseuren und zieht sich aus, um an Rollen zu kommen. Sie sieht nichts anderes vor Augen als Hollywood – und sei es noch so weit weg. Sie lässt sich von nichts abhalten: nicht von den Neidern und Klatschweibern, nicht von den vielen Peinlichkeiten und Hindernissen, nicht von fehlendem Talent oder Geld, nicht von der Liebe und nicht von einer Schwangerschaft …

Lucy fliegt von Petra Piuk ist eine Persiflage. Auf ebenso kluge wie eindringliche Weise thematisiert sie den Wahn, dem junge Menschen ihm Zuge von DSDS, GNTM und Konsorten verfallen, immer den schnellen Ruhm vor Augen, der durch die Medien und Fernsehformate so erreichbar und greifbar erscheint. Jeder kann heutzutage berühmt werden, und Protagonistin Lucy ist entschlossen, die Chance – die es nicht gibt – zu nutzen. In einem atemlosen, gehetzten Monolog voll unfertiger Sätze und Ich-red-mir-ein-dass-alles-gut-ist-Mantras erzählt die österreichische Autorin, die im Doku-Soap-Bereich gearbeitet hat und sich somit bestens auskennt, in ihrem ersten Roman von einer Seifenblasenwelt und von Träumen, die zerplatzen. Herrlich ist dabei ihr sarkastischer Ton, der das ganze Buch durchtränkt und die Bitterkeit von Lucys Leben spürbar macht. Das Mädchen geht mit sich selbst hart ins Gericht, doch zwischen all den Durchhalteparolen wallt Verzweiflung auf. Lucy ist völlig blind für die Mechanismen, denen sie sich freiwillig unterwirft: Schon früh setzt sie auf Sex, um beliebt zu sein, und merkt nicht, wie sie sich verschenkt, verheizt, verbrennt. Die, die über sie reden, sind doch nur neidisch, tröstet sie sich. Und springt von einer Falle, die das Leben ihr stellt, in die nächste.

„Die Mama sagt: Und die Gitti, die sich die Brüste fürs Fernsehen machen hat lassen, spricht auch jeder drauf an. Die nennen sie Titti-Gitti, sage ich. Die Mama sagt: Die meinen das ja lieb.“

So klingt Lucy fliegt, und es ist ein böses Buch. Jede Wendung ist schlimmer als die davor, und obwohl die Monolog-Erzählvariante zum Teil wahnsinnig anstrengend ist, ist sie auch genial: Petra Piuk lässt Lucy selbst berichten, was geschehen ist, und schafft es dennoch, die verurteilende Außenwelt sichtbar zu machen. Das ist spannender als ein schlicht chronologisches Erzählen. Alle lachen Lucy aus. Während sie fest an ihren Traum glaubt, nimmt in Wahrheit niemand sie ernst.

„Ich gehe nach Hollywood und hole mir den Oscar, ihr werdet schon noch alle sehen. Du und dein Oscar, sagt die Mama, einen Oscar kannst du höchstens als Freund haben.“

Lucy will entkommen, will dem tristen Leben im Wiener Problembezirk entfliehen, doch sie hat sich ein Ziel gesetzt, das nicht zu erreichen ist. Sie kämpft, sie hält den Kopf über Wasser, sie will nicht untergehen. Ich finde ihre Naivität und Skrupellosigkeit unerträglich und leide zugleich mit ihr. Dass wir eine Jugend heranzüchten, die sich verrennt in den Glauben, Glamour, Schönheit und Ruhm mache glücklich, ist beängstigend. Lucy ist eine fiktive Figur und könnte trotzdem nicht realer sein. Das alles zu lesen, ist amüsant, doch das Lachen bleibt mir im Hals stecken, und am Ende des Buchs bin ich bekümmert. Petra Piuk hat nicht nur ein Mädchen, sondern eine halbe Generation porträtiert, die nach Bekanntheit und Beifall giert – um jeden Preis. Denn das Leben, das sie führt, bedeutet ihr gar nichts.

Lucy fliegt von Petra Piuk ist erschienen im Verlag Kremayr & Scheriau (ISBN 978-3-218-01026-9, 192 Seiten, 19,90 Euro).

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Gut und sättigend: 3 Sterne

Böttcher„Jemanden gehen zu lassen, obwohl man ihn liebt, weil man ihn liebt“
Eigentlich kannten sich Jakob und Arjeta schon aus der Schule, doch mit 13 hat Jakob das aus Prishtina eingewanderte Mädchen, das so schnelle Deutsch lernte, gar nicht wahrgenommen. Das macht sie ihm zehn Jahre später, als Jakob sich in Arjeta verliebt, zum Vorwurf – und weist ihn immer wieder auf ihre kulturellen Unterschiede hin. Doch Jakob hat dafür keinen Nerv, er versteht nicht, warum Arjeta sich ihren strengen Eltern fügt, die Jakob nicht in ihrem Haus haben wollen, schon gar nicht über Nacht. Auch warum die Familie sich so hineinsteigert in den Krieg, der in der fernen Heimat ausbricht, kann er nicht begreifen. Als Arjetas Vater beschließt, zurück nach Kosova zu gehen und dort ein Hotel zu bauen, kommt Arjeta mit. Die Trennung von Jakob fällt ihr leicht, geliebt hat sie ihn ohnehin nie, und in der Heimat gibt es andere Männer, von denen sie einen heiraten wird. Jakob dagegen akzeptiert Arjetas Schritt nicht, er folgt ihr nach Prishtina. Und er bleibt hartnäckig, denn das Kind, das Arjeta erwartet, ist seines …

Y ist die Geschichte einer Beziehung, die Geschichte einer Auswanderung und die Geschichte gescheiterter Eltern. Eine Liebesgeschichte ist es nicht, denn Liebe gibt es keine in diesem Roman. Manch einer erhebt Ansprüche auf einen anderen, und manch anderer fühlt sich verpflichtet, aber niemand liebt. Jan Böttcher, der mit der Band Herr Nilsson erfolgreich war und später mehrere Bücher in die Bestsellerlisten geschupft hat, hat einen interessanten Roman über innere Zerrissenheit, ein Leben in der Fremde und die Suche der Kinder nach Antworten geschrieben. Dabei hat er eine kuriose Erzählperspektive gewählt, die ebenso originell wie unvorteilhaft ist: Der Ich-Erzähler ist jemand, der mit den Ereignissen nicht das Geringste zu tun hat, nämlich der Vater eines vierzehnjährigen Teenagers namens Benji in Berlin. Dieser Benji lernt in einem Sommer Leka kennen, den Sohn von Jakob und Arjeta. Von hier an wird alles rückwärts aufgerollt, besagter Vater ist Schriftsteller und hat Bock auf die Story – er reist sogar selbst mit Benji nach Prishtina und wandelt auf den Spuren der ihm völlig fremden Menschen. Er spricht mit Jakob und Arjeta, und er mag beide nicht. Das merkt man seinem Erzählen sehr stark an. Es ist auch kein Wunder, denn die zwei, die zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren nichts mehr miteinander zu tun haben, sind wahnsinnig unsympathisch. Problematisch an der ungewöhnlichen Perspektive ist auch, dass der Erzähler nichts weiß – er war nie selbst dabei, fungiert nur als Filter, gibt wieder, was ihm eingetrichtert wurde, muss sich mit steifen Überlegungen behelfen, wo ich mir eigentlich Gefühl und Beteiligung wünschen würde.

Y ist eines jener Bücher, bei denen ich mich nach der Lektüre frage, was es mir eigentlich sagen will. Ich werde nicht ganz schlau aus den verschiedenen Botschaften, die ich zu erkennen glaube: dass ungewollte, entwurzelte Kinder verloren sind? Ja. Dass ein Land, in dem Krieg war, moralisch, finanziell und politisch am Boden ist? Mit Sicherheit. Dass man sich manchmal an die falschen Menschen hängt und sie viel zu lange nicht loslassen kann? Durchaus. Alles davon ist wahr, alles davon ist wichtig. Trotzdem bleibt Y mir gegenüber auf Distanz, was vielleicht auch an der unbeteiligten Erzählperspektive liegt. Wir verstehen uns ganz gut, dieses Buch und ich, aber wir werden keine Freunde, wir sind eine Weile zusammen, doch es funkt nicht. Genau wie bei Jakob und Arjeta.

von Jan Böttcher ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03640-9, 255 Seiten, 19,95 Euro). Hier findet ihr eine Besprechung von deutschlandradiokultur.de.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Reverdy„Wir müssen unsere Eltern verraten, um zu wachsen“
„Da schläft man jahrelang neben einem Menschen und weiß noch immer nicht, wovon er träumt.“ Das sagt Yukikos Mutter, als ihr Mann Kaze spurlos verschwindet. Er ist ein Verflüchtigter, er hat sich in Luft aufgelöst, um seine Familie nicht mit hinunter zu ziehen in die Schande. Wer entlassen wird oder aus anderen Gründen sein Gesicht verliert, wird zu einem solchen Verflüchtigten, taucht unter, meldet sich nie mehr wieder. Doch Yukiko will das nicht hinnehmen. Sie kehrt aus den USA, wo sie seit vielen Jahren lebt, zurück nach Japan. Und sie nimmt Richard mit: Er ist Detektiv, Dichter und vor allem ist er über die Maßen in Yukiko verliebt. Sie hat ihm das Herz gebrochen, und doch folgt er ihr in ein Land, das er nicht kennt, um einen Mann zu suchen, der nicht gefunden werden will.

Dieses Buch ist für mich eine Reise an einen Sehnsuchtsort, denn nach Japan möchte ich schon lange. Vor zehn Jahren habe ich an der Universität sogar versucht, Japanisch zu lernen, und bin mit viel Verve daran gescheitert. Geblieben ist eine große Faszination für diese sonderbare Kultur mit ihren vielen Regeln und Gepflogenheiten, die mir so fremd erscheinen. Der französische Autor Thomas Reverdy hat diese Kultur aufgegriffen und in einen Roman verwandelt: Bevor ein Japaner sein Gesicht verliert, verliert er lieber sein Leben, gibt es auf, verbannt sich selbst. Das ist eine gute Idee für ein Buch, das ist eine gute Geschichte.

Sich ein Setting und interessante Figuren ausdenken, das kann Thomas Reverdy in meinen Augen besser als schreiben. Von seinen Formulierungen bin ich an manchen Stellen nicht überzeugt, im Allgemein wirkt sein Stil ein wenig hölzern und nicht so zugespitzt, wie er sein könnte. Eine solche Story sollte düsterer sein und schärfer, sie plätschert mir manchmal zu nah am Belanglosen dahin. Gut erzählt ist sie allemal, sie bietet eine betörende Mischung aus Fremdheit und Gefahr, aus Liebe, Sehnsucht und Verrat. Dieser Roman bietet Unterhaltung auf halbwegs hohem Niveau. Ich habe mich gefreut, wenigstens auf diese Weise nach Japan zu reisen und einzutauchen in die Fremdheit. Bestes Zitat:

„Die japanische Gesellschaft ist wie das Land: ein Vulkan mitten im Ozean, auf einer von Tausenden Bruchlinien durchzogenen Insel, wo es überall bebt und kracht. Wenn Sie das Land kennenlernen wollen, müssen Sie seine Verwerfungen studieren. Für die Gesellschaft gilt das Gleiche. Und für die Menschen übrigens auch.“

Die Verflüchtigten von Thomas Reverdy ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1222-7, 320 Seiten, 22 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Köhler „Der Alltag ist ein Schmetterling“
„Man muss sich ihm behutsam nähern, der Alltag ist kamerascheu, er flattert davon. Das Herkömmliche, Gewöhnliche soll in den Kasten.“ So steht es in einer von Synke Köhlers Geschichten, so gilt es auch für dieses Buch. Die deutsche Autorin, die an der Drehbuchwerkstatt München sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert hat, erzählt darin vom Kleinen, das – zusammengesetzt in tausend Varianten – das große Ganze ergibt, von Momentaufnahmen und schmalen Szenen, gerupft aus fiktiven Leben.

„Ich hasse das Meer. Ich habe das Meer immer gehasst. Am liebsten sitze ich hier, in meinem schattigen Kabuff, und döse vor mich hin. Ich verstehe nicht, was die Leute hier wollen. Und ich weiß auch nicht, was ich hier soll. Die Sonne. Es ist viel zu heiß und viel zu hell.“

Das sagt einer, der am Meer lebt, auf einer Insel voller Touristen, mit einer Mutter, die hinter dem Haus begraben liegt. Eine andere Ich-Erzählerin wohnt in einem großen Haus zusammen mit einer Gruppe aus Freunden und Kindern. Es gibt dort keinen Handyempfang, dafür aber viel Grund. Auf diesem Grund sitzt eines Tages ein Mann, den niemand kennt und der da nicht mehr weggeht. Aus der Reihe tanzt auch eine Mutter, die während einer Wanderung einfach irgendwo abbiegt. Wie eine Kamera, ein Fotoapparat, nimmt Synke Köhler in ihren sehr kurzen Geschichten solche Augenblicke auf, hält sie fest wie auf einem Foto, das man betrachtet und wieder weglegt.

Ich habe Kameraübung schon vor Wochen gelesen, dann blieb es aus diversen Gründen eine Weile liegen. Als ich es jetzt wieder in die Hand genommen und meine Notizen dazu durchgeblättert habe, habe ich gemerkt: Ich kann mich an keine Geschichte erinnern. Nicht an eine einzige. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht gut wären. Es heißt vielmehr, dass ich a) mein Gedächtnis nur selektiv nutze und b) dass die Short Storys sehr schlicht und aus dem Leben gegriffen sind. Sie kommen nicht kunstvoll aufgebrezelt daher, sie sind zurückhaltend und ja, doch, ein wenig unscheinbar. Ich hab sie alle gern gelesen, mit einem auf unspektakuläre Weise angenehmen Gefühl.

Kameraübung von Synke Köhler ist erschienen im Verlag Kremayr & Scheriau (ISBN 978-3-218-01024-5, 128 Seiten, 16,90 Euro).

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Gut und sättigend: 3 Sterne

Kuttner„Ohne Wut wäre ich vielleicht ein schönerer Mensch, aber auch weniger Mensch“
Jule hält sich fest an ihrer Wut, zelebriert sie, nährt sie und pflegt sie. Nachdem ihr Vater die Familie verlassen hatte, musste Jule sich um den kleinen Bruder und die unzurechnungsfähige Mutter kümmern. Eine Mutter, die sich vor ein Taxi warf – mit Jule an der Hand. Heute ist Jule erwachsen, singt in einer Bar und hat einen Freund namens Tom. Glücklich ist sie nicht, glücklich will sie auch gar nicht sein. Sie verweigert sich dem Glück, zerstört es sogar mutwillig. Als dadurch ihre Beziehung ins Wanken gerät, flüchtet Jule zu ihrem Bruder nach London. Ihr Vater, zu dem sie keinen Kontakt hat, lebt nicht weit von dort entfernt. Das Problem ist nur: Leben wird er nicht mehr lang, denn er hat Krebs. Soll Jule sich von ihm verabschieden? Wird sie ihren Frieden finden, wenn sie sich mit ihm versöhnt? Und will sie das überhaupt? „Ich will die Dinge nicht klar sehen“, sagt sie selbst dazu, „sie sehen klar nur noch hässlicher aus.“

Mit Sarah Kuttner hatte ich bisher noch nie zu tun. Dass es die gibt, das wusste ich freilich, auch, dass sie hübsch ist und erfolgreich und witzig. Von ihren Büchern hatte ich jedoch keins gelesen und ihre jetzige Sendung noch nie angeschaut. Dann schwärmte Tobias vom Buchrevier von ihr und ich dachte: Stimmt ja, Sarah Kuttner! Warum eigentlich nicht. Jetzt kann ich sagen: Unterhaltsam war das allemal. Und ein bisschen lehrreich. Und ein bisschen lebensklug. Vielleicht nicht an allen Stellen stilistisch einwandfrei, aber generell ein angenehmer Roman, der sich gut weglesen lässt, dabei aber authentisch und glaubwürdig bleibt, ohne ins Pathos abzudriften.

Protagonistin Jule ist eine, die alles zerdenkt. 180 ° Meer gleicht deshalb zum Großteil einem inneren Monolog, der sich dreht und dreht. Das ist stellenweise durchaus anstrengend, und Jule ist wirklich kein angenehmer Mensch. Sie findet alles scheiße, in erster Linie das eigene Leben und sich selbst. Ich würde die ja nicht in meiner Nähe haben wollen. Das alles weiß sie auch ganz genau, und sie will sich nicht ändern. Wenigstens darin ist sie beeindruckend konsequent. Was mir an 180 ° Meer gefällt, ist das Unsentimentale, das Kitschige, das Scheißegale. Das macht das Buch sehr lebensnah und sympathisch. Ein Setting wie dieses – der Vater stirbt, das große Verzeihen steht an – gibt es in Büchern tausendfach, aber Sarah Kuttner spendiert gegen Ende eine unerwartete Wendung und lässt das Leben so sein, wie es eben ist: beschissen. Also. Sarah Kuttner? Warum eigentlich nicht!

180 ° Meer von Sarah Kuttner ist erschienen bei S. Fischer Verlage (ISBN 978-3-10-002494-7, 18,99 Euro). Mehr über das Buch erfahren könnt ihr auf standard.at, readpack.de und buzzaldrins.de.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Lish„Wusstest du, dass es einen Ort gibt, wo es besser ist als überall sonst?“
Die Gegend, aus der die Kriegswaise Zou Lei kommt, kennt niemand: Sie ist Uigurin. Ohne Geld und ohne Papiere kommt sie nach monatelanger Reise in die USA, wo sie extrem unterbezahlte Jobs annimmt und in heruntergekommenen Löchern haust. „Sie wollte dort sein, wo jeder so illegal wie sie selbst war und in der Menge verschwand und den Kopf einzog.“ Deshalb geht Zou Lei nach New York, wo sie auf den Kriegsveteranen Brad Skinner trifft. Er ist gerade von seinem dritten Einsatz im Irak zurückgekehrt, und obwohl er körperlich unversehrt ist, ist er ein Zerschossener. Er kann nicht arbeiten, trinkt zu viel Bier, wohnt in einem Kellerzimmer. „Die Army hatte ihn mit Pillen gegen Angst, mit Antipsychotika und Schlafmitteln versorgt. Was auch immer diese Chemikalien mit ihm anstellten, seine Albträume konnten sie nicht verhindern.“ Die beiden kommen zusammen, vielleicht verlieben sie sich ein bisschen, vielleicht wollen sie auch einfach nur nicht allein sein in diesen einsamen New Yorker Nächten. „Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, für uns beide nicht, sagte sie, denn vielleicht wird etwas Gutes passieren.“ Doch die Hoffnung ist mehr als trügerisch, nichts Gutes passiert, gar nichts.

Vorbereitung auf das nächste Leben von Atticus Lish ist ein niederschmetterndes Buch. Es ist wahnsinnig deprimierend und traurig. Der amerikanische Autor, der bereits die verrücktesten Jobs ausgeübt hat und selbst schon im Gebiet der Uiguren in China war, lebt in New York wie seine Protagonisten. In seinem Debüt erzählt er die Geschichte zweier Menschen, die gestrandet sind in der Anonymität und Gleichgültigkeit einer Metropole, die täglich Tausende solcher Menschen verschlingt. Das Leben ist ebenso gefährlich wie gnadenlos, Zou Lei und Brad müssen stets auf der Hut sein – vor der Polizei, vor Schlägern, vor einander. Zou spricht ein rudimentäres Englisch, Brad dagegen spricht kaum. In der Nacht drängen sie sich aneinander wie zwei Vögelchen, die Angst haben, aus dem Nest zu fallen. Kann das Leben gnädig zu ihnen sein? Ich wünsche es mir. Ich wünsche es mir die ganze Zeit. Aber Atticus Lish nimmt darauf keine Rücksicht.

Das Leben ist hart. Natürlich! Für Zou und Brad ist es besonders hart. Unerträglich sogar. Es bricht mir das Herz, zuzusehen, wie sie sich an das bisschen Gefühle, das zwischen ihnen entsteht, klammern, um wenigstens ein kleines Glück zu erleben. Es bricht mir das Herz noch mehr, dass es ihnen nicht vergönnt ist. Sprachlich ist das nicht immer fein austariert, und vom Sohn des berühmten Lektors Gordon Lish habe ich mir in dieser Hinsicht definitiv mehr erwartet. Langatmig schreibt er, manchmal verquer und in schiefen Bildern, durchaus ergreifend, aber ausufernd. Da muss man als Leser viel Durchhaltevermögen beweisen, und wird am Ende mit einer alles umspannenden Hoffnungslosigkeit allein gelassen. Dieser Roman ist erdrückend, schonungslos, grausam, authentisch – denn jede Zeile könnte tatsächlich so geschehen sein.

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Vorbereitung auf das nächste Leben von Atticus Lish ist erschienen im Arche Verlag (ISBN  978-3-7160-2745-5, 544 Seiten, 24,90 Euro). Auf spiegel.de und welt.de findet ihr weitere Besprechungen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Rudkoffsky.JPG„Manchmal habe ich das Gefühl, dass schon hinter kleinsten Rissen ein Abgrund klafft“
Endlich ist es soweit: Bastian und Nina fliegen in den Urlaub nach Thailand. Darauf freuen sich die beiden, die eine Fernbeziehung führen, seit Monaten. Beinahe hätte es nicht geklappt, denn Bastians Vater ist kurz zuvor gestorben, und einen Streik gab es auch noch. Er hat es aber rechtzeitig geschafft, die Beerdigung abzuwickeln und den Nachlass zu regeln. An Entspannung ist in Thailand trotzdem nicht zu denken: Während Nina vor Tatendrang sprudelt, will Bastian sich eigentlich nur betäuben. Deshalb taumelt er von Bar zu Bar, verschwitzt, verärgert, mit der Bürde der Vergangenheit auf den Schultern – und einer genervten Freundin an der Seite. Was tut ein Mann in einer solchen Situation? Richtig. Er haut ab. Bastian schließt sich einer Gruppe rund um eine geheimnisvolle Frau an, die eine Art Geocaching-Abenteuer inszeniert. Doch egal, mit wem oder wohin Bastian geht: Was einst mit seiner Mutter geschehen ist, verfolgt ihn überallhin.

Frank O. Rudkoffsky hat ein Buch über einen jungen Mann geschrieben, der glaubt, der Tod seines Vaters würde ihm nicht den Boden unter den Füßen wegziehen – und der nicht merkt, dass er längst dabei ist, in den Abgrund zu fallen. Weil er es nicht wahrhaben will. Weil er sich mit Händen und Füßen wehrt – und dabei jeden schlägt, der in seine Nähe kommt. Allen voran natürlich Freundin Nina, die als geradezu nervtötend perfekt beschrieben wird. Da gibt es Spannungen, die schon lange in der Beziehung sitzen, und Spannungen, die von Bastian induziert sind, weil er in einer selbstzerstörerischen Phase steckt. Was genau in Bastians Kindheit geschehen ist, erklärt der Autor anhand von Briefen bzw. Nachrichten in einem Buch, in dem Bastians Eltern miteinander geschrieben haben, als sie wegen der Depression von Bastians Mutter nicht mehr offen miteinander reden konnten. Nach dem Tod des Vaters besitzt nun Bastian dieses Buch. Nur erträgt er es nicht, darin zu lesen.

Ich mag an Dezemberfieber die Sprache. Ich mag einzelne Szenen, wie beispielsweise dass die Zikaden aufschrillen, als Bastian und die fremde Frau sich anschauen. Ich mag den Wechsel aus Gegenwart und Vergangenheit im Spiel der Perspektiven. Was ich an Dezemberfieber nicht mag, ist Bastian. Ganz unerträglich finde ich den egozentrischen Kerl. Wie ihm in der Hitze Thailands alles entgleitet, ist absolut glaubwürdig und einfühlsam beschrieben. Bloß würde ich ihn, während er säuft und sich bemitleidet und sich aufführt wie ein Vollidiot, am liebsten packen und schütteln, auf dass er endlich aufwachen und sich seinem Schmerz stellen möge. Vielleicht muss ich mich als Frau automatisch ein bisschen mit der blassen Nina identifizieren, vielleicht tut sie mir einfach nur leid. Womöglich hab ich auch keine Geduld für Jungspunde, die nicht den Mumm haben, sich mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. Das ist natürlich höchst subjektiv. Daran, dass Dezemberfieber ein gutes Buch ist, ändert das nichts. Tobias vom Buchrevier, der mich auf dieses Buch gebracht hat, hat Recht, wenn er schreibt: „Aber können diese Newcomer auch schreiben? Nach den ersten Seiten von Dezemberfieber atmete ich befreit durch. Ja, zumindest Frank Rudkoffsky kann es. Sehr gut sogar.“

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Dezemberfieber von Frank O. Rudkoffsky ist erschienen im Verlag duotincta (ISBN 978-3-946086-02-4, 316 Seiten, 16,95 Euro). Hier findet ihr noch eine Besprechung bei Literaturen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Mengestu„Isaac und ich wurden Freunde wie zwei streunende Hunde“
„Was Isaac und ich nie hatten, war ein richtig guter Anfang für unsere Beziehung. Uns entgingen die traditionellen Rituale des Liebeswerbens und die angespannten gemeinsamen Restaurantbesuche, anhand derer die meisten Paare rückblickend die Distanz abmessen, die sie vom ersten Kennenlernen zum Schlafzimmer zurückgelegt haben.“ Den ersten Kuss drückt Isaac Helen auf die Lippen, da ist er kaum zwei Wochen in der amerikanischen Stadt im Mittleren Westen. Sie ist Sozialarbeiterin und soll sich um den jungen Afrikaner kümmern. Seine Akte gibt nichts über ihn preis, und obwohl er uns Helen sich bald täglich sehen, erzählt er ihr nichts von seiner Vergangenheit. Warum ist er aus Uganda geflüchtet? Welche Rolle hat er bei den Aufständen an der Universität von Kampala gespielt? Wer ist dieser Mann? Helen, die sehr zurückgezogen bei ihrer Mutter lebt, geht mit Isaac ins Bett, zieht sogar vorübergehend in seine Wohnung – und kommt ihm doch kein Stück näher. Bis er ihr am Ende die Wahrheit sagt.

Dinaw Mengestu wurde in Addis Abeba geboren und wuchs in den USA auf. Dies ist sein dritter Roman, für die beiden Vorgänger wurde er mit Preisen bedacht. Er schreibt stets über die Schwierigkeiten seines Geburtslandes, über Menschen, die versuchen, Afrika zu verändern, und über Menschen, die aus Afrika fliehen. Auch in Unsere Namen geht es um die Rücksichtslosigkeit einer Diktatur, um Polizeiwillkür und Tod. Zwei Ich-Erzähler hat das Buch: die amerikanische Sozialarbeiterin Helen, die sich in den geflohenen Afrikaner Isaac verknallt, und einen Isaac, der noch in Afrika ist, eine Zeitebene früher – der aber nicht mit dem zuvor genannten Isaac übereinstimmt. Klingt verwirrend? Das ist es auch, und ich finde es eine Zeitlang sehr anstrengend, nicht zu verstehen, wer wer ist und was da vor sich geht. Letztlich ist das Identitätsspiel – als es am Ende aufgelöst wird – gar nicht so kompliziert und schwer zu durchschauen. Doch an den Kapiteln, in denen der Ich-Erzähler ständig einen anderen Mann mit Isaac anspricht, verzweifle ich regelmäßig.

Unsere Namen hat ebenso kraftvolle wie nichtssagende Stellen. Es handelt von dem Zustand der Ratlosigkeit zweier Liebender, die sich voneinander angezogen fühlen, sich aber nicht kennen, und vom Mut eines Afrikaners, der etwas bewegen und verbessern will – auch wenn er dafür sein Leben lassen muss. Beide Ich-Erzähler sind reichlich lethargische Figuren, die nie aus eigenem Antrieb handeln, was dem Roman jeglichen Drive nimmt. Allerdings muss man sagen, dass ohnehin wenig Handlung vorhanden ist: Dies ist ein Buch der Begegnungen und der Möglichkeiten, die es vielleicht hätte geben können. Ich habe vor einigen Jahren bereits Die Melodie der Luft von Dinaw Mengestu gelesen, und das mochte ich so halb – ein bisschen schon, ein bisschen nicht. Mit seinem dritten Buch geht es mir ganz genauso: Während es viele schöne Sätze, kluge Gedanken und gehaltvolle Passagen hat, fadisiere ich mich zwischendurch wegen der Belanglosigkeiten so sehr, dass ich Seiten überspringe. Ich mag euch nicht von diesem Buch abraten, es euch aber auch nicht ans Herz legen. Mengestu und ich finden einfach nicht zueinander – aber vielleicht gelingt es euch ja.

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Unsere Namen von Dinaw Mengestu ist erschienen bei Kein & Aber (ISBN 978-3-0369-5702-9, 336 Seiten, 23,50 Euro).

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Gut und sättigend: 3 Sterne

Johnson„Mir ist natürlich klar, dass die Menschheit pervers ist“
Ein Pädophiler verdient sein Geld damit, die Computer von Männern zu reparieren, auf deren Festplatten sich Kinderpornos befinden. Er kämpft gegen seine Neigung. Aber die zwei kleinen Nachbarsmädchen sind so süß – und ständig unbeaufsichtigt … Die Frau eines Schriftstellers hat ihre Brüste an den Krebs verloren. Ihr Mann hat soeben den Pulitzer-Preis gewonnen, und sie neidet seinen vielen Verehrerinnen deren unversehrte Oberweite. Eine andere Frau, ebenfalls krank und ans Bett gefesselt, bekommt von ihrem Mann ein besonderes Geschenk: Er programmiert für sie ein Hologramm von Kurt Cobain, mit dem sie sich unterhalten kann. Und in Höhenschönhausen im Gebiet der ehemaligen DDR weigert sich ein früherer Stasi-Gefängnisaufseher, den Tatsachen ins Auge zu sehen: Er redet sich die Vergangenheit schön, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen.

Adam Johnson wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Meiner Meinung nach zu Recht, denn sein Roman Das geraubte Leben des Waisen Jun Do, der in Nordkorea spielt, ist grandios. Seine unter dem Titel Nirvana versammelten Short Storys sind dagegen ganz anders: unverfroren, kühn, höchst merkwürdig. Die Menschen, die darin vorkommen, sind hochgradig neurotisch, irgendwie angeschlagen und psychisch kaputt, verloren und auf der Suche. Krankheiten spielen eine große Rolle in diesen Geschichten, ebenso wie Naturkatastrophen und die Verfehlungen aus der Vergangenheit. Nicht alle Storys gefallen mir, sie wechseln sich kurioserweise ab, auf eine herausragend gute Geschichte folgt eine, der ich so gar nichts abgewinnen kann. Gemeinsam ist allen sechs Erzählungen, dass sie sehr kraftvoll und rau sind, intensiv und beklemmend. Adam Johnson schreibt unbekümmert und gradheraus, so wie jemand redet, dem völlig egal ist, was andere über ihn denken. Das mag ich sehr. Zudem überschreitet er in Nirvana Grenzen, macht Unmögliches möglich, thematisiert Pädophilie und Krebserkrankungen, gibt seinen Geschichten viele Ecken und Kanten, geht nicht zimperlich mit mir als Leserin um. Auf das Buch trifft ein Adjektiv zu, das ich für gewöhnlich meide, weil es so inflationär gebraucht wird: Es ist cool. Sehr cool sogar. Es ist ungewöhnlich und gut, es ist aber auch anstrengend und stellenweise langweilig, es ist niveauvoll und unterhaltsam, aber auch verwirrend und ausgefranst. So oder so ist es auf jeden Fall besonders.

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Nirvana von Adam Johnson ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN  978-3-518-42500-8, 262 Seiten, 19,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Jia„Was nur allzu wirklich ist, erscheint oft als unglaubwürdig“
„Fragen, die nicht gestellt werden dürfen, stellt man nicht, Aussagen, die nicht gemacht werden dürfen, macht man nicht, was man nicht wissen darf, weiß man nicht. Das war ein ungeschriebenes Gesetz in Einheit 701.“ Für diese Einheit arbeitet Rong Jinzhen – allerdings nicht ganz freiwillig. Er versucht dort, die Codes der Kriegsfeinde zu lösen, in erster Linie natürlich die Codes der Amerikaner. Rong entstammt einer alten chinesischen Dynastie, die einst durch Salzhandel reich geworden ist. Als ungewolltes, uneheliches und körperlich missgestaltetes Kind verbringt er seine ersten Jahre in einem Birnengarten. Sein Ziehvater setzt in seinem Testament durch dass Rong eine Chance bekommt – und an die Universität kann, der er ist ein großes Mathematikgenie. Aus diesem Grund wird die Regierung auf ihn aufmerksam und nimmt ihn mit zur Einheit 701. Und wenn Männer dieser Art etwas verlangen, ist es unmöglich, Nein zu sagen.

Mai Jia ist in China ein Star: Er hat sieben Bestseller geschrieben, die 15 Millionen Mal verkauft sowie allesamt verfilmt wurden. Zudem gilt er als Begründer der chinesischen Spionageliteratur, zu der auch dieser Roman gehört. Westliche Maßstäbe lassen sich hier nicht anlegen, denn Geschichtliches, die Familie und die Politik spielen in diesem Genre ebenso eine Rolle wie Spionageverdacht und Rätsel. Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong ist stark in zwei Hälften geteilt: Den Anfang macht Rongs Familiengeschichte, die in typisch asiatischer Manier zugleich ausufernd und seltsam magisch erzählt wird. Doch sobald das junge Genie von der Spionageeinheit quasi entführt wird, flacht das Buch extrem ab, die Magie verschwindet. Und das führt dazu, dass ich gegen Ende immer mehr das Interesse am Roman verliere. Euch das zu erklären, ohne zu spoilern, ist jedoch ausgenommen schwierig. Deshalb möchte ich nur so viel sagen: Rong gerät plötzlich aus dem Fokus und wird zu einer Schattenfigur, was dem Buch in meinen Augen jeglichen Drive nimmt.

Mai Jia hat in mir die Hoffnung geweckt, sein Protagonist werde Großes erreichen, und spannende Szenen aus der Welt der Kriegsspionage würden folgen. Das ist jedoch nicht der Fall, denn der Autor entsorgt sozusagen seinen Helden – und ohne ihn ist sein Buch dann doch ein wenig leer. Da hilft es auch nicht mehr, dass ein Gegenspieler enttarnt war – vor allem nicht, weil seine Identität ohnehin schon lange klar war. Für mich ist Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong ein Roman mit einem fulminanten Beginn und einem enttäuschenden Ende, weshalb ich ihm mit gemischten Gefühlen gegenüberstehe. Wer aber ein Faible für asiatische Literatur und rätselhafte Storys hat, ist damit sicher gut beraten.

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Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong von Mai Jia ist erschienen in der DVA (ISBN 978-3-421-04671-0, 352 Seiten, 19,99 Euro). Eine Rezension dazu findet ihr beispielsweise auf literaturblog.at.