Gut und sättigend: 3 Sterne

img_0851„Wahnsinn ist ein Land, zu dem nicht jeder Zutritt hat“
1952. In Deutschland sind die Kriegsfeuer ausgebrannt, im Nahen Osten – im neuen Staat Israel – werden sie gerade erst entzündet. Rosa Silbermann kennt sich aus mit beiden, sie konnte den Nazis entfliehen, lebt mit ihrem Sohn und vielen Verbündeten auf einem Fleckchen israelischem Land, dem sie jeden Tag genug zum Leben abringen. Dann wird Rosa als Agentin in das Nobelhotel Bühlerhöhle geschickt, weil sie Orts- und Sprachkenntnis hat. Gemeinsam mit einem männlichen Agenten namens Ariel soll sie den Kanzler Adenauer vor einem Anschlag schützen. Besagter Ariel taucht aber nicht auf, Rosa macht einen Fehler nach dem anderen und stößt mit Sophie Reisacher auf eine ausgefuchste Gegenspielerin, die das Hotel fest im Griff und ihre Nase in allen Angelegenheiten hat. Und schon bald stürzt das Auto des Kanzlers in eine Schlucht …

Bühlerhöhle ist kein Krimi. Brigitte Glaser schreibt aber welche. Und dass sie das kann, merkt man ihrem Roman aus dem Schwarzwald deutlich an: Er ist sehr spannend konstruiert und wartet mit einem Ende auf, das eines James-Bond-Streifens würdig wäre. Zwar treten Rosa und „die Reisacher“, wie sie das ganze Buch über genannt wird, als Gegnerinnen auf, geprägt und bestimmt wird die Geschichte aber eigentlich von drei Frauen. Da gibt es nämlich noch die junge Agnes, die am benachbarten Hundseck arbeitet – wobei der Begriff Nachbarschaft weit gefasst ist, denn das sind gut 45 Minuten zu Fuß. Die Neunzehnjährige gerät in große Gefahr, weil sie einen arabischen Hotelgast von früher erkennt, als jemanden, der ihr etwas angetan hat. Helfen kann ihr da nur ihre bärenstarke Schwester Walburga, die im Wald lebt. Wer was mit wem zu tun hat, das verwebt und klärt Brigitte Glaser auf gar meisterliche und sehr lesenswerte Weise. Wie ein alter Schwarz-Weiß-Film ist das Buch, ein Schelmenstück, ein Verwirrspiel mit fulminantem Schlussakt.

Mir persönlich war der Roman stellenweise sprachlich zu gewöhnlich und lieb, die Figuren waren mir – obwohl ich sie gern mochte – gar zu sehr dem Klischee verfallen: das ängstliche Mädel, das kaum bis drei zählen kann, die vermeintlich mutigen, unabhängigen Frauen, die sich dann doch nur ganz erhitzt dem erstbesten Mann an die Brust werfen, natürlich ohne zu merken, dass er ein Schwindler ist. Insgesamt aber ein gut recherchiertes, originelles und mitreißendes Lesevergnügen, das ich euch auf jeden Fall empfehlen kann.

Bühlerhöhle von Brigitte Glaser ist erschienen im List Verlag (ISBN 13 9783471351260, 448 Seiten, 20 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

bayer„Man kann nicht lieben, ohne zu lernen“

„Das, was ich von der Liebe weiß, ist nur der halbe Apfel. Die andere Hälfte kenne ich nur als Zaungast aus dem Leben meines Bruders.“

Denn Peters Zwillingsbruder Paul ist verheiratet mit Anne – der einzigen Frau die Peter je geliebt hat. Einen Ersatz für sie zu finden, ist ihm in all den Jahrzehnten nicht gelungen. Er begnügt sich mit Affären, gibt vor, dass ihm nichts fehlt. Von Montag bis Donnerstag führt er ein beliebtes Restaurant in Frankreich, den Rest der Woche verbringt er in einer Wohnung in Deutschland und schreibt. Doch auch in diesem Bereich seines Lebens steht er im Schatten seines Bruders: Peters Geschichten erscheinen unter Pauls Namen, der als Schriftsteller erfolgreich ist. Peters Leben ist streng strukturiert, recht langweilig und eigentlich zutiefst einsam.

Thommie Bayer hat schon erstaunlich viele Romane geschrieben – von denen ich keinen kannte. Sein Buch Seltene Affären ist wie das Leben seines Protagonisten: Es könnte interessanter sein. Er erzählt von einem, der eigentlich zufrieden ist, irgendwie, der aber weiß: Da wär noch mehr drin gewesen. Er berichtet von einer eingefahrenen, geliebten Routine, die Tag für Tag, Woche für Woche die gleiche ist. Das Einzige, was diese Routine von Protagonist Peter für eine Weile durchbricht, ist seine neue Putzfrau. Er träumt von ihr. Er hinterlässt ihr Schokoladen und seine Geschichten, von denen er hofft, dass sie sie liest. Diese eigentlich kaum nennenswerte Abwechslung von seinem Alltag durchmischt er mit Erinnerungen – an seine Kindheit und Studienzeit, an das eine Mal, als er Anne näherkam. Die Zwillinge verstehen sich gut, sind aber nicht unbedingt besonders eng. Das alles macht aus Seltene Affären ein angenehmes, unspektakuläres Buch, über das es nicht allzu viel zu sagen gibt. Ich habe auf ein Aufbrechen der Ordnung gewartet, auf einen Konflikt, einen Höhepunkt – nichts davon gibt es. Vielleicht bin ich aber auch nur die falsche Zielgruppe für diesen Roman. Richtet sich das Buch an ältere, rührselige Männer, die sich mit Peter identifizieren können? Ich persönlich konnte wenig Griffiges und Greifbares darin finden. Deshalb wird mir auch nur wenig davon in Erinnerung bleiben.

Seltene Affären von Thommie Bayer ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05611-3, 192 Seiten, 18 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

rai„Ist nicht so leicht manchmal, sich damit abzufinden, was man alles nicht kann und wer man alles nicht ist“
Du bist noch jung, und du lebst zurückgezogen an einem wunderschönen Ort: in einem Anwesen über Rayol-Canadel-sur-Mer an der südfranzösischen Mittelmeerküste. Die Villa gehört dir nicht, du bist hier der Housesitter, kümmerst dich um alles, genießt die Stille. Einmal im Jahr kommen die reichen Besitzer, dann lässt du den Pool ein und füllst das Haus mit Blumen, holst sie vom Flughafen ab. Du hast alles im Griff, und niemand kennt dein Geheimnis. Doch als die Inhaber des Luxusanwesens mit Gästen auftauchen, verlierst du Stück für Stück die Kontrolle. Die Ehefrau deines Chefs geht mit dir ins Bett, sein potenzieller Geschäftspartner ist ein Arschloch, und dir ist klar, dass du ihnen gefährlich werden könntest. Denn du wachst oft auf, ohne zu wissen, wo du warst. Oder wer.

Edgar Rai, erfolgreicher Autor und Besitzer einer Berliner Buchhandlung, hat einen Roman in einer ungewöhnlichen Erzählperspektive geschrieben: der zweiten Person Singular. Das gesamte Buch über wird der Leser mit „du“ angesprochen. Das ist ebenso befremdlich wie intensiv – sehr eindringlich und unmittelbar. Es ist wie ein Singsang, der mich einlullt und glauben lässt, ich sei tatsächlich beteiligt an der merkwürdigen, düsteren Handlung, die vorhersehbar und undurchsichtig zugleich ist. Was sind das für Ausfälle, die „du“ immer hast? Was ist das für eine Krankheit, unter der „du“ leidest, was ist die Ursache dafür? Das zu lesen, ist tatsächlich sehr spannend und interessant.

Dass Edgar Rai sich jedoch wirklich für genau die Variante entscheidet, die so offensichtlich ist, nehme ich ihm übel. Das ist enttäuschend. Ich hatte mir eine originelle Wendung gewünscht, ich gebe es offen zu. Auch dass das Ende so abrupt kommt, hat mich negativ überrascht – ein Schnellschuss nach einem langen Vorspiel. Mit „deiner“ Krankheit kenne ich mich zu wenig aus, um die Vorgänge beurteilen zu können, aber es erscheint mir unglaubwürdig, wie alles endet, wie es sich fügt, wie es endet. Kann das tatsächlich sein? Nichtsdestotrotz ist Etwas bleibt immer ein schön beklemmendes, mitreißend konstruiertes und höchst eigenwilliges Buch.

Etwas bleibt immer von Edgar Rai ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1304-0, 224 Seiten, 18 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

prentiss„An der Liebe lässt sich nichts ändern“
Stell dir vor, du siehst ein Gemälde. Darauf: New York. Die Big City, die Stadt der Träume, die niemals schläft. Fünf Figuren stehen in dieser Stadt, zwei im Hintergrund, drei davor. Die beiden im Hintergrund sind eine Mutter und ihr Sohn, leicht verschwommen sind sie, mit undeutlichen Gesichtern, weil sie eigentlich in Argentinien sind – nur einer von ihnen wird nach New York kommen. Widmen wir uns den drei Gestalten vor deinen Augen, schau sie dir genau an. Da ist ein Mann, James, recht gewöhnlich sieht er aus, er ist verheiratet, zurückhaltend, ein bekannter Kunstkritiker der New Yorker Szene. James ist Synästhet, und das macht ihn so gut in seinem Beruf:

„Wenn er Kunst betrachtete oder darüber schrieb, war es, als stünde sein Gehirn in Flammen. Plötzlich wirkte das ganze Universum verfügbar und übersichtlich. Er spürte Windstöße und krabbelnde Ameisen, schmeckte Karamellzucker und starrte in Himmel, die der Sterne würdig waren.“

Auf der anderen Seite des Bildes steht ein weiterer Mann, Raul. Er stammt aus Argentinien und ist Maler, er sieht gut aus, er will es schaffen in New York.

„Manche nannten ihn einen Frauenhelden, wogegen er nichts hatte, weil es stimmte. Allein schon sein Aussehen – warmer Hautton, leicht schrägstehende, umbrabraune Augen, ruhelose Brauen und ein Schopf pechschwarzer Haare – erweckte bei Frauen den Eindruck, dass er ebenso einfühlsam wie ernsthaft war, seine Leidenschaft die negativen Seiten überwiegen würde und er sie mit dem Rammbock seines zwar untersetzen, aber trotzdem irgendwie dominanten Körpers an einen exotischen Ort transportieren würde, von dem sie noch nie gehört hatten.“

Äh, ja. Genau deshalb steht auf unserem Gemälde zwischen den zwei Männern eine Frau. Sie ist erst seit Kurzem in New York, sie heißt Lucy und arbeitet in einer Bar.

„Kurz nach Mitternacht am Silvesterabend, in den ersten Stunden des champagnertrunkenen neuen Jahrzehnts, verliebte sich Lucy Marie Olliason auf den ersten Blick.“

Und damit fängt alles an: das ganze Kuddelmuddel, das ganze Drama.

Tuesday Nights in 1980 von Molly Prentiss, die in New York lebt, ist unglaublich pathetisch. Das ist es, was mich an diesem Roman am meisten erstaunt hat. Pathetisch ist er, dramatisch, voller Mitleid und Selbstmitleid, Schicksalshaftigkeit und Dummheit und Zorn. Molly Prentiss hat eine sehr eindringliche, auch sehr anstrengende Art zu schreiben. Sie will mir manches, so scheint es, so unbedingt in den Kopf hämmern, dass sie sich nicht zurückhalten kann. Über den „Rammbock“aus dem obigen Zitat schmunzle ich zum Beispiel immer noch. James’ Synästhesie gibt der Autorin die Möglichkeit, sich stellenweise ins Geheimnisvolle, Unverständliche kippen zu lassen, wohin ich ihr kaum folgen kann. Sie hat viel Farbe verwendet für ihr Bild, kräftige Pinselstriche, alles überlagert sich, drängt sich auf – ein Kunstwerk, das Aufmerksamkeit verlangt. Gut gelungen ist ihr die sarkastisch angehauchte Darstellung von New Yorks Kunstszene im Jahr 1980 – mit vielen Könnern und Möchtegerns, mit reichen Sammlern und willkürlich entscheidenden Galeristen. Das ist interessant zu lesen, die Geschichte an sich mochte ich sehr gern. Ihre Ausführung hat mich im Großen und Ganzen aber eher ermüdet: Es war einfach zu viel. Zu viel Wollen, zu viel Können, zu viel Rauspressen und Reininterpretieren. Und vor allem zu viel Pathos.

Tuesday Nights in 1980 von Molly Prentiss ist erschienen bei den Ullstein Buchverlagen (ISBN-13 9783471351314, 400 Seiten, 20 Euro).

 

 

Gut und sättigend: 3 Sterne

stradalEine höchst ungewöhnliche Menüabfolge
Da gibt es Eva Thorwald, und um sie dreht sich alles. Sie ist die Hauptfigur dieses Buchs – obwohl sie darin nur in einem einzigen Kapitel selbst zu Wort kommt. Aber Moment. Alles von Anfang an. Und der sieht für Eva nicht gut aus: Ihre Mutter merkt nämlich, kaum dass Eva da ist, dass sie gar keine Mutter sein will, und sucht das Weite. Der Vater will sehr wohl Vater sein, kann aber nicht, weil er **beep** und leider **beep** (aufgrund von Spoilergefahr wurden manche Teile dieses Satzes unkenntlich gemacht). Eva ist noch zu klein, um davon was mitzubekommen, und wächst fortan durchaus behütet auf. Als sie elf ist, sind selbstgezüchtete Chilis ihre größte Leidenschaft, und als Erwachsene gehören ihre Restaurant-Events zu den angesagtesten der Welt. Es gibt lange Wartelisten dafür, voll mit Leuten, die wahnsinnig viel Geld zahlen, um einmal bei einem dieser sagenumwobenen Geschmackshappenings dabei zu sein. Und auf eine solche Liste hat sich Evas Mutter setzen lassen …

In diesem Roman geht es um jemanden namens Eva und eigentlich auch nicht. J. Ryan Stradal erzählt seine Geschichte nämlich auf höchst unorthodoxe Weise: In jedem Kapitel kommt eine andere Figur vor, die mal mehr, mal weniger mit Eva zu tun hat. Das kann beispielsweise ihre Cousine sein, ein Typ, der mal auf der Highschool in sie verknallt war, oder dessen spätere Stiefmutter. Dazwischen liegen meistens mehrere Jahre. Über Eva erfährt man manchmal nur ein bisschen was in zwei, drei Nebensätzen. Auf diese Raffinesse weist der Klappentext nicht hin, und somit war ich sehr überrascht – ich musste mich mit Stradals Erzählweise erst einmal anfreunden. Nachdem mir das gelungen war, fand ich durchaus Vergnügen daran, weil ich Interlinking Short Stories sehr mag – und die einzelnen Kapitel in Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens eigentlich nichts anderes sind. Jedes für sich erzählt die Story einer Figur, und Eva ist die Schnur, die alle miteinander verknüpft. Irgendwo am Rande taucht immer mal wieder einer auf, den ich schon kenne, und dann freue ich mich, ihn wiederzusehen und zu erfahren, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen ist.

J. Ryan Stradals Debüt hat mir gut getan. Ich hab’s ja normalerweise gern schwermütig und melancholisch, aber im Sommer sehne ich mich nach etwas Leichtem, das zur strahlenden Freibadstimmung passt. Dann stehe ich ratlos vor meinem Zu-lesen-Regal und finde nichts. Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens kam mir da gerade recht: Es hat mich wunderbar unterhalten, war niemals langweilig, und ich konnte mit jedem Kapitel ein Bruchstück von diesem Kosmos rund um gutes Essen, eine merkwürdige Familie und eine geheimnisvolle Frau einfangen. Das passte perfekt zu meinem Zeitbudget, das in den Ferien der Kinder ebenfalls bruchstückhaft ist, denn eigentlich muss ich im Freibad ja in erster Linie im #teamtanga die Wasserrutsche runtersausen, aufpassen, dass keiner absäuft, und Pommes spendieren. Dieser Roman ist heiter und schlau, amüsant und fantasievoll. Das perfekte Sommerbuch, so gesehen, aber ich bin sicher, es wird euch auch im Herbst gefallen. Und im Winter und …

Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens von J. Ryan Stradal ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-06975-4, 432 Seiten, 24 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

RammstedtWährend er schrieb …
… veröffentlichte er schon: Tilman Rammstedts Roman Morgen mehr ist ein Experiment und ein Wagnis. Der Autor, der ungefähr die coolste Socke der Welt sein muss, hat sich getraut, dieses Buch während des Schreibprozesses sukzessive über ein Online-Abo an seine Leser zu verfüttern. Bei diesem Peu-à-peu-Lesen hab ich nicht mitgemacht, aber was aus Tilman Rammstedts mutiger Aktion letztlich geworden ist, das wollte ich dann doch wissen. Und das Buch ist erstaunlich. Dass der Autor – der übrigens schon so einiges veröffentlicht hat, wovon ich nur Der Kaiser von China aus dem Jahr 2008 kannte und sehr mochte – einfach so und ohne Konzept drauflosgeschrieben hat, das kauf ich ihm nicht ganz ab. Zumindest die Rahmenhandlung und ein ungefähres Storyboard wird er schon im Kopf gehabt haben. Generell aber hat er sich für eine geniale Strategie entschieden: mit offenen Karten zu spielen. Da sitzt also einer und muss jeden Tag weitergeben, was er geschrieben hat, kann nicht ändern, umschreiben, löschen, und denkt sich: Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Deswegen erschafft er einen Protagonisten, der in der gleichen Lage ist: Er will was erreichen und hat keine Ahnung, wie. Dann beginnt die Reise, von der keiner sagen kann, wo sie enden wird.

Der Ich-Erzähler hat nämlich das Problem, dass er noch gar nicht geboren ist. Würde er aber gern. Um seine Eltern zusammenzubringen und zu seiner Zeugung zu animieren, dazu hat er jedoch nur noch einen einzigen Tag Zeit. Zu allem Übel ahnen die beiden nichts von der Existenz des jeweils anderen, der potenzielle Vater wird gerade im Main versenkt, die potenzielle Mutter hat Sex mit einem Franzosen. Das sind nicht unbedingt die idealen Voraussetzungen für ein spontanes Zusammentreffen der beiden. Aber erstens kommt es ja immer anders und zweitens als man denkt – und das Schicksal hat in diesem Sommer 1972 noch so einiges vor mit diesen Figuren, die erst einmal quer durch Europa fahren, eine frische Ehe sabotieren, vor Ganoven flüchten, den Eiffelturm erklettern und dabei allerlei Überraschungen erleben.

Morgen mehr ist ein Buch, das in großer Eile geschrieben wurde – und mit großer Fabulierkunst. Es hat mich gut unterhalten, war mir aber, das muss ich gestehen, stellenweise viel zu klamaukig. Die Slapstickszenen haben zwar Drive, treffen aber leider nicht meinen Humor. Es liegt in der Natur der Sache, dass das Buch sich rasant und hektisch liest, Atemlosigkeit, Ungeduld und Chaos quellen aus jeder Seite. Darauf muss man sich einstellen und das muss man mögen, um mit Morgen mehr – das optisch ja wohl das schönste Buch des Jahres sein dürfte – seinen Spaß zu haben. Dass Tilman Rammstedt so oft wiederholt, was geschehen ist und was noch nicht, hatte wahrscheinlich den Zweck, den häppchenweise gefütterten Leser nicht zu verlieren, mich hat das ein bisschen genervt. Aber: Chapeau! Der Mann hat Nerven. Außerdem viel Witz, Fantasie und Talent. Von Tilman Rammstedt hören wir sicher bald noch mehr.

Morgen mehr von Tilman Rammstedt ist erschienen bei den Hanser Literaturverlagen (ISBN 978-3-446-25096-3, 224 Seiten, 20 Euro). Eine Besprechung dazu könnt ihr bei Leseschatz und ein Interview mit dem Autor bei Literaturen lesen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_9370Spionage im England der Siebziger
Serena ist jung, blond, überaus hübsch und ein bisschen langweilig – aber nur nach außen hin. In Wahrheit arbeitet sie nach einem Mathematikstudium, das sie mit Ach und Krach geschafft hat, beim britischen Geheimdienst MI15. Dorthin gebracht hat sie ein älterer Mann – ihr Professor und Geliebter, der selbst ein Spion war. In den Siebzigern ist es durchaus spannend, Mitglied des Geheimdienstes zu sein – allerdings nur als Mann. Serena ist dort ein kleines Mäuschen, das im Archiv Akten sortiert, schlecht bezahlt wird und absolut keine Wichtigkeit hat. Umso mehr freut sie sich, als sie für die Mission „Honig“ ausgewählt wird: Sie soll einen jungen Autor umgarnen und finanzieren. Es dauert nicht lange, und Serena verliebt sich in den Autor. Das doppelte Spiel, das sie spielt, wird ihr zum Verhängnis – aber auf völlig unerwartete Weise …

Ian McEwan ist einer der Großen. Zahlreiche Weltbestseller gehen auf sein Konto, einer davon, Abbitte, wurde mit Keira Knightley verfilmt. Er ist, so heißt es, ein Garant für gute Unterhaltung. Aus diesem Grund habe ich zu diesem Roman, der schon eine Weile in meinem Regal stand, gegriffen, denn Ian McEwan musste mich retten. Sehr, sehr dringend wollte ich gerettet werde, nachdem ich ELF schlechte Bücher gelesen hatte, über die ich mich hier, hier und hier echauffiert habe. Dann also Honig, und er hat es geschafft: Ian McEwan wurde seiner Aufgabe gerecht und riss mich aus meiner Leselethargie. Dieses Buch war dafür genau das richtige: leicht, aber nicht seicht.

Spannend ist Honig nicht unbedingt, zwischendurch auch ein wenig langweilig, aber das macht das kann man ja überblättern, und das grandiose Finale macht es wieder wett. Tatsächlich muss ich das Ende am meisten an diesem Roman loben, weil es ganz einfach das Beste daran ist. Honig bietet eine originelle, gut recherchierte und perfekt aufgeblätterte Story. Ian McEwan vermittelt mir das Gefühl, ein routinierter Schreiberling zu sein, der solche Geschichten aus dem Ärmel schüttelt, mich dann an der Hand nimmt und hindurch führt. Spaß macht es außerdem, in die Siebzigerjahre einzutauchen, und es war ein kluger Schachzug des Autors, als Protagonistin eine junge Frau zu wählen, die in einer geheimnisumwitterten Männerdomäne unterwegs ist: Das gibt dem Buch einen ganz eigenen, interessanten Drive, denn aus dieser Ecke hat man den MI16 noch nie gesehen. Falls also jemand von euch auch gerade eine Leseflaute erlebt und einen Rettungsring braucht oder sich einfach nur gut unterhalten lassen möchte: Nehmt einen Löffel Honig.

Honig von Ian McEwan ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-06874-0, 464 Seiten, 22,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Mackintosh„Wenn man lange genug über eine Sache redet, kommt irgendwann der Zeitpunkt, wo man sie tatsächlich will“
Gretchen ist ganz schön am Arsch. Sie trinkt zu viel, hat Narben vom Ritzen, kann keinen ihrer Freunde behalten und hat versucht, sich umzubringen. Sie hat Borderline, zumindest denkt das ihr Freund. Oder Ex-Freund. Oder einer der vielen Männer eben. Woher das kommt, dass Gretchen so am Arsch ist, das ist irgendwie unklar, denn ihre Kindheit – in der ja immer die Wurzeln für sämtliches gestörtes Verhalten liegen – war eigentlich sehr schön. Sie hat mit ihren Eltern und ihrer Schwester am Ende von England gelebt, mit Schafen und vielen wissenschaftlichen Vorträgen des schrulligen Vaters. Die Eltern haben einander geliebt und sie haben ihre Kinder geliebt, aber jetzt hat Gretchens Schwester noch viel öfter versucht, sich umzubringen, als Gretchen selbst, und der Vater ist tot. Die Leere in Gretchens Inneren lässt sich nicht füllen, nicht mit Sex, nicht mit Alkohol, also schreit Gretchen auf einer Theaterbühne verzweifelt und schreibt tragisch-traurige Geschichten.

Wenn in einem Buch viel gesoffen und gefickt wird, sind alle immer gleich so: Ohooo und Ach du meine Güte und Oh Gott. Das erklärt zu einem Teil den Hype um Anneliese Mackintosh und ihren rotzigen Stil. Da kotzt eine aufs Papier. Sie durchtränkt ihr Buch mit Tränen, Sperma, Schweiß und billigem Whisky. Die Ich-Erzählerin Gretchen ist ein Mädchen, das eigentlich alles hat und dennoch vor Unglück fast umkommt. Hat sie wirklich das Borderline-Syndrom? Woher kommt all der Selbsthass in ihr? Sind das einfach nur fette First World Problems? Sie sucht die Schuld bei den Eltern, bei den Männern, bei sich selbst, schiebt die Schuld von einem zum anderen, nirgends bleibt sie haften. Die Autorin, die wie ihre Protagonistin in Nottingham studiert hat, hat einen Master in Creative Writing, und bei manchen Sätzen merkt man das. Generell soll die Sprache aber ganz klar nicht schön sein, sondern knallig, hart, direkt und verroht. Das gelingt streckenweise gut, dann wieder weniger. Der jammernde Ton klingt manchmal auch einfach wie das Tagebuch einer Fünfzehnjährigen. In der Pubertät hasst man ja auch alle, einschließlich sich selbst.

So bin ich nicht ist kein Roman im eigentlichen Sinn. Es ist ein Sammelsurium aus Einzelstücken, fast kolumnenartig, ein Mix mit Ansichten über die Welt ohne erkennbare Reihenfolge. In Gretas Storys – wie der Untertitel sagt – geht es um Sex und Alkohol, um den Versuch, die Liebe zu finden, um den Tod eines Vaters und um Weihnachten, um das Vermissen, um Wut und ums Lesbischsein. Irgendwie geht’s halt um alles, was einer jungen Frau mal so einfallen kann. Der Klappentext schubst den Leser ein wenig in die falsche Richtung, weil er vermuten lässt, das Buch sei auf freche Art witzig. „Greta will nur Liebe, Glück, Mittag essen mit Margaret Atwood und endlich einen richtigen Orgasmus.“ Hört sich an wie heitere, leichte Ach-wir-Frauen-wieder-Unterhaltung. Aber So bin ich nicht ist nicht witzig. Nicht einmal ein bisschen. Von leichter Kost ist Anneliese Mackintosh so weit entfernt wie ich von der Victoria’s-Secret-Modelfigur, und glaubt mir, das ist weit. Dieses Buch ist fies und übel und es stinkt. Es ist Kotze und Pisse und Gehirnwichserei, und zwar so viel davon, dass ich zwischendrin manchmal entnervt dachte: Ist ja schon gut, ey, ich hab’s verstanden! Das ist vielleicht nicht sehr feinfühlig von mir, aber nun ja – so bin ich nicht.

So bin ich nicht von Anneliese Mackintosh ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03628-7, 256 Seiten, 19,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

GreenwayÜber einen, der erstarrt ist unter der Kruste der Vergangenheit
Jim Kennoway ist alt. Er lebt zurückgezogen auf einer Insel vor Maine, einer Insel, die er schon als Junge geliebt hat. Jetzt will Jim seine Ruhe haben, er will trinken und sich selbst leidtun. En Bein musste ihm amputiert werden, was ihm große Schwierigkeiten bereitet. Da reißt ihn plötzlich ein junges Mädchen aus seiner Lethargie: Sie hat schwarze Haut, heißt Cadillac Baketi und ist die Tochter von Tosca. 1943, dreißig Jahre zuvor, hat Jim im Pazifikkrieg mit Tosca zusammen japanische Schiffe ausgespäht. Sie haben gekämpft. Sie haben getötet. Und all das will Jim, der später als Ornithologe sehr erfolgreich war, einfach nur vergessen. Doch die Anwesenheit der jungen Salomonerin, die bald in Yale Medizin studieren soll, bewirkt das genaue Gegenteil: Jahrzehntelang verschüttete Erinnerungen schwappen hoch. Vielleicht ist es ja an der Zeit, endlich mit ihnen abzuschließen.

Vor einigen Jahren – genauer gesagt 2009 – fand ich Alice Greenways Roman White Ghost Girls grandios. Für ihren Zweitling hat sie sich ein Weilchen Zeit gelassen. Die war bestimmt auch für die Recherche nötig, denn Schmale Pfade führt mich an einen ungewöhnlichen Ort – eine Insel, von der ich nie zuvor gehört habe – und in einen Krieg, über den ich nichts weiß. Dieses Setting finde ich ausgesprochen interessant, genauso wie die Lebensumstände der Inselbewohner, die historischen Zusammenhänge und die vielen Beschreibungen diverser Vogelarten. Auch damit muss Alice Greenway sich ausführlich beschäftigt haben.

Trotz des großen Interesses meinerseits werde ich mit Schmale Pfade nicht so richtig warm – und ich kann die Gründe dafür nicht wirklich fassen. Liegt es daran, dass der Protagonist ein unsympathischer Grantler ist? Das stört mich für gewöhnlich nicht, es amüsiert mich meistens eher. Oder daran, dass Cadillac einfach nur anwesend ist, ohne dass ihre Persönlichkeit ausgeleuchtet wird? Das finde ich in der Tat schade. Sie ist der Auslöser für alles, bleibt aber dennoch verschwommen, nicht greifbar, als genüge ihre Funktion allein. Ich bekomme Infos über sie – aber kein Gefühl für sie. Das Buch liest sich gut, doch der emotionale Zugang bleibt mir auch insgesamt verwehrt. Keiner der Figuren gelingt es, mich zu erweichen. Das ist nicht weiter schlimm, bei manchen Büchern zündet es, bei anderen eben nicht. Und es bedeutet nicht, dass ich euch von diesem Roman abraten möchte, im Gegenteil: Bildet euch am besten selbst ein Urteil. Denn schreiben kann Alice Greenway tatsächlich sehr gut, mit einer Tiefe und zugleich einer Leichtigkeit, die verblüfft. Und meine leichte Enttäuschung ist auf jeden Fall subjektiv: Die Klappentexterin, Herzpotenzial sowie Leseschatz fanden das Buch beispielsweise wunderbar. Ich dagegen bin immer noch verliebt in die White Ghost Girls.

Schmale Pfade von Alice Greenway ist erschienen im mare Verlag (ISBN 978-3-86648-232-6, 368 Seiten, 22 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Popp„Man muss einfach den Weg nehmen, den der Sand einem lässt“
„Wer sich auf meinen Bruder einlässt, weiß nie, woran er ist. Etwas mit ihm zu unternehmen, hat schon immer geheißen, keine Ahnung zu haben, was als nächstes passiert.“ So ergeht es einem jungen Sänger, als er nur aufgrund einer SMS seines Bruders nach Marokko reist – ohne zu wissen, wo der sich genau aufhält. Er packt einen Koffer, lässt seine Freundin zurück und macht sich auf ins Ungewisse. Im fremden Land folgt er den Spuren seines Bruders wie bei einer Schnitzeljagd, er ist ihm dicht auf den Fersen – nur um ihn immer wieder um Haaresbreite zu verpassen. Ihn packt die Abenteuerlust, merkwürdige Dinge geschehen ihm, er schließt sich einem alten Hippie-Paar an und wagt sich in die Wüste. Stets stand er im Schatten des kleinen Bruders, dem alles mit Leichtigkeit zuflog und der ihn stets übertraf, weshalb sie in den letzten Jahren kaum Kontakt hatten. Auf der wilden, mystischen, geisterhaften Reise durch die Wüste erfährt er viel über ihn, was er nicht wusste – und über sich selbst.

Der österreichische Autor Wolfgang Popp hat eine Reise komprimiert und zwischen zwei Buchdeckel gepackt. „Eine Roadnovel vom Ende der Straße“ ist Wüste Welt laut dem Klappentext, „eine Geistergeschichte ohne Geister“ und „ein Wüstentagebuch“. Alles davon trifft zu auf diesen schmalen Band mit einem sympathischen Ich-Erzähler. Die Sprache gleicht der Art, auf die der Musiker reist: Sie ist geduldig und ruhig, nicht gehetzt, auch nicht kapriziös, einfach nur angenehm. Wolfgang Popp gibt Einblick in ein fernes Land und seine Sitten, in das Leben in einer so extremen Gegend wie der Wüste sowie in eine eher ungewöhnliche Geschwisterbeziehung, bei dem der Jüngere das Tempo vorgibt, dem der Ältere nicht folgen kann.

Für mich sind Geschwister etwas ganz Besonderes, und ich finde es sehr traurig, wenn jemand keinen Kontakt zu seinen Brüdern oder Schwestern hat – wie auch immer die Umstände im jeweiligen Fall sein mögen. In Wüste Welt geht es im Innersten um eine Geschwisterbeziehung, die nicht funktioniert und deshalb begraben wurde. Dennoch ist da ein einzigartiges, verbindendes Gefühl, das bewirkt, dass der eine Bruder dem anderen folgt – hinein ins Dunkle, ins Unklare, um aufzuspüren, was ihnen verloren ging. Das ist interessant, gut geschrieben, gut gemacht und lesenswert.

Wüste Welt von Wolfgang Popp ist erschienen bei Edition Atelier (ISBN 978-3-903005-14-3, 160 Seiten, 18,50 Euro). Eine Besprechung findet ihr bei Sophie von Literaturen.

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