Gut und sättigend: 3 Sterne

Perfide kleine Erzählung
Der Professor hat mir klargemacht: Amélie Nothomb ist gut für böse, originelle Geschichten. Als ich daher Die Reinheit des Mörders auf dem Remittendentisch fand, ist es in mein Regal gewandert. Und siehe da: Auch in diesem Roman macht Nothomb Gebrauch von ungewöhnlichen Ideen, provokanten Aussagen und Figuren, die so surreal wirken, dass sie fast schon wieder echt sein könnten. Hauptperson ist dieses Mal Prétextat Tach, ein gefeierter Autor, der 83-jährig an einer seltenen Krebsart erkrankt und nur noch zwei Monate zu leben hat. Die Journalisten reißen sich um ein Interview mit ihm, fünf werden ausgewählt. Einer nach dem anderen betritt den Ring und wird von Tach in einem verbalen Boxkampf k. o. geschlagen. Wie begossene Pudel trotten sie aus dem Zimmer, in dem der monströs fette, fiese und rücksichtslose Alte liegt. Es braucht erst eine Frau, die als Einzige all seine Werke gelesen und zudem in seiner Vergangenheit geschnüffelt hat, um dieser Eiterbeule die Stirn zu bieten.

Fast der ganze Roman ist in Interviewform gehalten (ähnlich wie Das Wetter vor fünfzehn Jahren von Wolf Haas, wobei es mir da jedoch noch geschickter gemacht ist), die Charaktere sind extrem überspitzt gezeichnet: Tach scheißt auf Manieren und Konventionen, er spuckt Gift und Galle, während die Journalisten naiv sind und extrem dumme Fragen stellen, sodass sie naturbedingt schnell zu Boden gehen. Was die Geschichte in der Geschichte betrifft, die im Interview mit der Frau ans Tageslicht kommt, so ist sie dermaßen absurd, dass ich nicht weiß, ob ich sie genial oder lächerlich finden soll. Die Erzählung versteigt sich immer mehr in der perversen Fantasiewelt des sterbenden Autors, hat aber – obwohl der Titel ja schon einen Todesfall erwähnt – doch ein, zwei überraschende Wendungen.

Amélie Nothomb ist definitiv eine Ausnahmeautorin. Selten schreibt jemand mit so viel Freude und Lust über das Gemeine, Niederträchtige und Abscheuliche. Die Reinheit des Mörders ist ein kleines Büchlein für zwei, drei Stunden abstruses Vergnügen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Bericht über ein entbehrungsreiches Leben
Oskar Maria Graf ist ein wichtiger Chronist deutscher Geschichte: 1894 wurde er in Berg am Starnberger See geboren. 1933 schrieb er den Aufruf “Verbrennt mich!” gegen die Nazis, danach lebte er im Exil in New York. Das Leben seiner Mutter, von dem er in diesem Buch erzählt, begann 1857. Sie hieß Theres, wurde aber bayerisch Resl oder Resei genannt. Sie hatte acht Geschwister und wurde auf einem Bauernhof groß, auf dem es vor allem eins im Überfluss gab: Arbeit. Von früh bis spät schufteten die Eltern, die Kinder sowie die Mägde und Knechte im Stall und auf dem Feld. Die Heimrath-Bauern waren in der Gegend geachtet, aber nicht reich. Ihre Frömmigkeit zeichnete sie als besonders katholisch und gläubig aus, sie beteten viel und waren in jeder Lebenslage überzeugt: “Unser Herrgott wird’s schon richten.” Was die Obrigen trieben, war für die Unteren meist undurchschaubar. Kriege zogen durch das Land, doch die Bauern merkten davon nur etwas, wenn ihre Knechte eingezogen und ihre besten Pferde konfisziert wurden. Was wir heute unter Selbstverwirklichung verstehen, war damals nicht einmal im Ansatz denkbar. Die Dorfbewohner waren misstrauisch und begegneten einander mit Argwohn, keiner gönnte dem anderen Erfolg und jeder redete über jeden. Als der Bäcker Maxl eine neue Backstube einrichtete, glaubte niemand an ihn. Doch er kämpfte sich durch und arbeitete hart für wenig Geld. Kaum hatte er das Schlimmste überstanden, hielt er um Resls Hand an, die keine Einwände erhob, denn “heiraten muss halt jeder mal”. Elf Kinder bekamen die beiden, doch nur acht überlebten, darunter Oskar.

In einer sehr altertümlichen Sprache erzählt Oskar Maria Graf vom beschwerlichen Leben seiner Mutter, vom Alltag auf dem Bauernhof, bevor es Elektrizität, Melkmaschinen und Traktoren gab. Die detailgenaue Darstellung von Figuren und Ereignissen macht das Buch einerseits sehr authentisch, ist aber andererseits auch recht anstrengend. In der zweiten Hälfte erzählt er aus seiner Kindheit und Jugend, die durchsetzt war von Streitigkeiten und Missgunst. Die Geschwister hatten nichts füreinander übrig und prügelten sich bei jeder Gelegenheit. Hier ist der Klappentext um ein Vielfaches sentimentaler als der tatsächliche Buchinhalt: Die große Familie war verfeindet und hat nie Zusammenhalt gekannt, Mutter Theres stand dem allem hilflos gegenüber. Überhaupt zeichnet sich dieser Bericht durch eine merkwürdige Emotionslosigkeit aus: Eltern und Geschwister waren halt da, und wenn einer starb, begrub man ihn eben. Kaum einer ging an einem anderen Familienmitglied, bei manchen wünschten sie sich gar, sie würden im Krieg fallen. Als es dann geschieht, heißt es nur: “Wir vermissten ihn nicht.” Das ist für einen Leser wie mich ist das höchst befremdlich, weil ich mit ganz anderen Werten aufgewachsen bin. Dennoch finde ich es interessant, einen Einblick in das beschwerliche, demütige Leben auf einem Bauernhof im 19. Jahrhundert zu bekommen, denn ich bin nicht nur wenige Kilometer von der bayerischen Grenze, sondern ähnlich ländlich aufgewachsen. Zudem fasziniert es mich, über die Vergangenheit zu lesen oder alte Bilder zu betrachten: Was haben die Menschen früher getragen, wie haben sie ausgesehen, wie haben sie gelebt? Darüber gibt Oskar Maria Grafs Chronik Aufschluss. “Wer dieses Buch liest, lernt die bayerische Seele kennen”, hat meine Freundin, die mir Das Leben meiner Mutter geliehen hat, gesagt. Und sie hat Recht behalten.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Außen hui, innen pfui
Richard Yates – dessen Roman Zeiten des Aufruhrs letztes Jahr in die Kinos kam – porträtiert den amerikanischen Mittelstand, die Vorstadtbürger, deren Leben vordergründig so sauber, so lustig und so bunt ist. Dahinter jedoch lauern, wie wir alle wissen, Abgründe. Im Fall von Easter Parade lernen zwei Frauen, die Schwestern Sarah und Emily, diese Abgründe kennen: Als sie noch klein sind, in den 1930er-Jahren, lassen ihre Eltern sich scheiden, die Mutter, die Pookie genannt werden will, zieht ständig mit ihnen um und hat ein Alkoholproblem. Als Erziehungsberechtigte ist sie unbrauchbar. Sarah heiratet früh, Emily geht aufs College und lässt nichts anbrennen: Sie wechselt die Männer in Rekordzeit. Aber schnell stellt sich heraus, dass beide mit ihrem Lebensmodell nicht das Glück gefunden haben.

Easter Parade ist die Studie einer Frau – Emily, der wir als Leser folgen – , an der eigentlich nichts besonders ist: Sie macht Karriere, lernt viele Männer kennen und lebt vor sich hin. Am Verlauf der Handlung hat mich nichts überrascht (bis auf das Ende), da Yates viele Klischees aufwirbelt und hinter der Fassade der beiden Frauen das aufdeckt, was man dahinter erwartet: Unzufriedenheit, Perspektivenlosigkeit, häusliche Gewalt, Alkohol und Selbstsucht. Erstaunt hat mich dagegen Emilys Verhaltensweise, ihr eiserner Egoismus und ihre Weigerung, zu helfen. Das ist nicht das Bild, das man von seinen Mitmenschen hat bzw. haben möchte: dass sie nur an sich denken. Und doch hat Yates damit genau einen Knackpunkt getroffen: weil es natürlich so ist.

Der Erzählstil wirkt auf mich sehr träge, stellenweise ein wenig oberflächlich. Das mag damit zusammenhängen, dass die Jahre in Easter Parade rasend schnell vergehen und wir uns immer wieder in das Leben von Emily einklinken, ohne so richtig an dessen Entwicklung teilzuhaben. Beeindruckend ist, wie Yates sich in eine Frau hineinfühlt, die alles andere ist als sympathisch – und gerade dadurch authentisch. Was also kann uns dieser Roman sagen? Nichts, was wir nicht schon wüssten: dass das Leben oft traurig und einsam und dann auf einmal viel zu schnell vorbei ist. Aber Yates erzählt es glaubwürdig und lesenswert.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein Roadtrip anno 1947
Jack Kerouac ist ein Autor, den man mit der Beat-Generation der beginnenden Fünfzigerjahre in Verbindung bringt: Mit On the Road wurde er berühmt. In diesem halbautobiografischen Roman erzählt er von Sal Paradise, der 1947 von New York nach Denver und weiter nach San Francisco trampt. Er ist jung, er hat keinen Job und zeitweise reist er mit nur einem Dollar in der Tasche (der damals bedeutend mehr wert war). In Denver hofft er, seinen Freund Dean Moriarty, den er bewundert, und andere Kumpels zu treffen. Dean, der sich immer mit mehr als einer Ehefrau herumschlägt, will, genau wie Sal, unabhängig sein und Autor werden. “We drove around aimlessly” trifft das, was sie tun, wohl am besten.

Allein und frei reist Sal Paradise durch Amerika – und genießt das Leben. Er lernt ein Mädchen nach dem anderen kennen und hinterlässt gebrochene Herzen. Wie er und Dean sich verhalten, würde man heute im besten Fall asozial nennen. Sie sind auf der einen Seite verantwortungslos, auf der anderen Seite ungebunden. Sie probieren Drogen aus, trinken Alkohol und wollen sich nicht binden, weder beruflich noch an einen Ort noch in der Liebe. Doch da es die swingenden, coolen, aufstrebenden Fünfzigerjahre sind, erweckt Sals Geschichte einen raubeinigen, lässigen Eindruck, sein Leben wirkt beneidenswert.

Was mich an On the Road stört, ist die dürftige Handlung: Es passiert nicht viel. Der Roman ist eher die Charakterstudie von Männern einer vergangenen Zeit, die umso authentischer wirkt, da sie zeitgleich geschrieben – und teilweise auch vom Autor erlebt – wurde. Dennoch fehlt mir die Entwicklung der Persönlichkeiten bzw. der Sinn und Zweck des Buchs, der, wie ich merke, für mich persönlich unerlässlich ist. Nichtsdestotrotz gibt On the Road interessante und überraschende Einblicke in eine Generation, die mir fremd ist. Schön ist, wie Sal das Außergewöhnliche sucht und findet: “… because the only people for me are the mad ones, the ones who are mad to live, mad to talk, mad to be saved, desirious of everything at the same time, the ones who never yawn or say a commonplace thing, but burn burn burn …”

Gut und sättigend: 3 Sterne

Exaltiert, gestelzt, einzigartig, fantastisch, anstrengend: ein Buch mit vielen Eigenschaften
Drei völlig unterschiedliche Helden, Maskenbälle und Kostüme aus dem viktorianischen Zeitalter, Frauen in Korsetts, mächtige Bösewichte und jede Menge blaues Glas: Das sind die Zutaten, aus denen Drehbuchautor Gordon Dahlquist seinen viel gelobten und sehr originellen 924-Seiten-Schmöker gestrickt hat. Und alles beginnt so: Die eigensinnige und naive 25-jährige Miss Temple ist entrüstet, dass Roger Bascombe, Angestellter des Außenministers, ihre Verlobung ohne eine Erklärung löst. Um einen Grund zu finden, folgt sie ihm zu einem Maskenball in einem abgelegenen herrschaftlichen Haus – und gerät unvermittelt in Lebensgefahr. Ähnlich ergeht es dem Auftragsmörder Kardinal Cheng, der auf demselben Maskenball einen Colonel ermorden soll, diesen aber bereits tot vorfindet. Ehe er sich versieht, ist er in dunkle Machenschaften hineingezogen und muss um sein Leben fürchten. In Gefahr befindet sich auch Doktor Svenson aus Mecklenburg, dessen Aufgabe es ist, einen Prinzen zu schützen – und der dabei denselben Bösewichten wie Cheng und Miss Temple in die Quere kommt. Alle drei treffen “zufällig” im Hotel Boniface zusammen und schwören einander, den Ereignissen gemeinsam auf die Schliche zu gehen. Und es ereignet sich allerhand Mysteriöses: Frauen und Männer werden durch eine geheimnisvolle Prozedur, das Verfahren genannt, willenlos und gefügig gemacht. In Karten aus indigoblauem Glas werden lebensechte Erinnerungen in Bildern festgehalten. Hinter der großen Verschwörung stecken Adelige ebenso wie der Außenminister und mächtige Personen des Landes.

Die Glasbücher der Traumfresser ist ein exaltierter, eigenwilliger, spannender und anstrengender Roman, in dem Gordon Dahlquist irreale Elemente, Abenteuer, Erotik und Action wild zusammenmixt. Die Vorgänge rund um das mysteriöse Glas sind reichlich kompliziert, die ersten 150 Seiten lang versteht man erst mal gar nichts. Was aber nicht so schlimm ist – zum einen gibt es ja noch knapp 800 weitere Seiten, zum anderen ist es ganz amüsant, den drei tollpatschigen, ratlosen, aber endlos mutigen Helden des Buchs auf ihren Irrwegen zu folgen. Eine Ruhepause gibt es in diesem Roman nicht: Die ganze Zeit über wird gejagt, gesucht, gemordet und intrigiert. Wer mit wem und wer gegen wen – man weiß es nicht. Bis zum allerletzten Satz spritzt Blut, wird Glas zerbrochen, werden Menschen manipuliert und Geheimnisse verborgen. Wie die drei Protagonisten – zwischen denen die Perspektive regelmäßig wechselt, allerdings meist mit jeweils knapp 80 Seiten dazwischen – im herrschaftlichen Haus Harschmont (wie kann ein Haus so unglaublich viele Zimmer und Geheimgänge haben?), verirrt man sich als Leser in den Handlungssträngen und Ereignissen im Buch. Die Glasbücher der Traumfresser ist fesselnd und originell, stellenweise aber auch mühsam, da man vor lauter Action kaum zum Atmen kommt. Zudem bildet dieser Roman keine Ausnahme bei den Mehr-als-600-Seiten-Büchern: Er ist einfach zu dick, viele Szenen hätte man gut und gern einsparen können, da sie nur das Durchhaltevermögen des Lesers strapazieren. Der rasante Plot rund um eine geheimnisvolle Substanz, um Macht und den Kampf zwischen Gut und Böse ist aber auf jeden Fall fantasievoll und bereitet viel Lesevergnügen – wenn man genug Energie mitbringt. Streckenweise lässt das Buch zu wünschen übrig und das Ende ist geschickt so gehalten, dass man zum zweiten Teil Das Dunkelbuch greift, was ich aber nicht tun werde. 924 Seiten Abenteuer mit Miss Temple sind genug.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein Buch als Mahnmal
In den Siebzigerjahren ist Buenos Aires ein gefährliches Pflaster: Kaddish Poznan, Sohn einer jüdischen Hure, verdient Geld damit. Nachts hievt er sich über die Mauer in den jüdischen Friedhof und entfernt Namen von Grabsteinen, weil die Nachfahren Angst vor der Entdeckung haben – und ihn gut für seine Dienste bezahlen. Kaddishs Frau Lillian und sein Sohn Pato sind nicht erfreut über diese unehrenhafte Arbeit; Pato fühlt sich als kleiner Rebell. Er besitzt verbotene Bücher und träumt davon, sich gegen das grausame Regime aufzulehnen. Der Vater-Sohn-Konflikt ist sehr stark und entlädt sich gegen Mitte des Buchs auf dramatische Weise. Derweil übernimmt die Militärjunta die Macht und fackelt nicht lange – die Kinder Argentiniens verschwinden eines nach dem anderen.

Was die Atmosphäre betrifft, so erinnert mich The Ministry of Special Cases sehr stark an Der Schatten des Windes von Záfon: düster, ein wenig schaurig, ein bisschen mystisch, aber doch realistisch genug. Nathan Englander zeichnet das Porträt eines gescheiterten Mannes, dessen Träume sich nie erfüllt haben und der plötzlich das Schlimmste erlebt, was einem Vater passieren kann. Kaddish und Lillian verlieren im Laufe des Romans alles – sogar das, was das Jüdischste an ihnen ist: ihre Nasen. Sie geraten in die Schusslinie eines Regimes, wie es auf dieser Welt tatsächlich existiert hat und in vielen Ländern weiterhin existiert. Dieses Buch ist eine Mischung aus Familientragödie und Gesellschaftsabbild, gewürzt mit einer Prise Judentum: “When there’s death in the air, the Jew is more likely to catch it”, sagt Lillian.

The Ministry of Special Cases ist ein spannendes, trauriges und regelrecht deprimierendes Buch mit einem für mich sehr überraschenden Ende. Auszusetzen habe ich nicht viel, Schreibe und Inhalt reichen für mich zwar nicht zur Glorioses-Meisterwerk-Bewertung, das Buch ist aber durchgehend gut gemacht. Es behandelt Verlust und Erinnerung, Hilflosigkeit und Elternsein.

Lieblingszitat: Lillian zu Kaddish: “You’re broken in so many places for so long that – like your nose – it has come to pass for beauty.”

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein Mann, ein Bein, zwei Frauen
Bei einem Unfall mit dem Fahrrad wird der Pensionist Paul Rayment so schwer verletzt, dass ihm ein Bein amputiert werden muss. Nun beginnt eine Zeit der Hilflosigkeit und Einsamkeit: Weil Paul keine Familie hat, ist er auf eine fremde Person angewiesen, die ihn wäscht, mit ihm Übungen macht und für ihn einkauft. Er stellt die Krankenschwester Marijana ein, die gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Kindern aus Kroatien nach Australien geflüchtet ist. Sie ist eine Frau aus dem alten Europa, die zupackt, nicht jammert und Paul mit Achtung behandelt. Er merkt, dass er sich immer mehr zu ihr hingezogen fühlt. Er mischt sich in ihr Leben ein – und bekommt ganz unvermittelt jemanden vor die Nase gesetzt, der sich in sein Leben einmischt: Elizabeth Costello, siebzigjährig, aufdringlich und rätselhaft.

Laut Kritikern gehört J. M. Coetzee zu den “besten Schriftstellern der Welt”, 2003 hat er den Nobelpreis für Literatur bekommen. In Zeitlupe erzählt er von einem Mann, der am Ende seines Lebens erkennt, was er alles versäumt hat – und der in seiner Verzweiflung versucht, Zugang zu einer fremden Familie zu bekommen, um nicht so allein zu sein. Doch mit der Familie Jokic hat er sich nicht unbedingt die Richtigen ausgesucht: Die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander sind kompliziert, Paul hat keinen guten Stand. Und dass die merkwürdige und lästige Elizabeth Costello ihn auf Schritt und Tritt verfolgt, erleichtert sein Leben auch nicht gerade. Gekonnt gibt Coetzee Einblick in das Seelenleben eines Mannes, der mit seinem Bein auch die Zufriedenheit mit seinem Lebensentwurf verliert.

Während ich in der ersten Hälfte des Buchs sehr angetan bin von Inhalt, Stil und Ausrichtung, taucht dann der Schwachpunkt des Romans auf: Elizabeth Costello. Sie geht nicht nur Paul auf die Nerven, sondern auch mir. Ihre Rolle bleibt leider bis zum Schluss unklar – und das ist wirklich schade. Im Gegensatz zu anderen Lesern, die vielleicht gern Rätsel mögen, kann ich es einfach nicht leiden, wenn Verwicklungen am Ende ungelöst bleiben. Zeitlupe ist eine eher schwache Erzählung, die sich zwar rasant entwickelt und einen schönen Spannungsbogen enthält, die aber kein klares Ende findet, was mir nicht behagt. Von der Schreibweise her jedoch ausgezeichnet, Coetzee versteht auf jeden Fall etwas von seinem Fach.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ist gemeinsamer Selbstmord der Gipfel der Liebe?
Johanna Adorjáns Großeltern waren ungarische Juden, die den Holocaust überlebten – und sich gemeinsam im hohen Alter das Leben nahmen. Über ihre Erlebnisse im Krieg haben sie nie gesprochen. Jahrzehnte später macht sich die Enkelin auf die Suche nach Spuren ihrer Großeltern, um Einblick zu gewinnen in das Leben der beiden Menschen, die ihre Vorfahren sind und von denen sie so wenig weiß: Dass die Großmutter Kette geraucht hat und ausgesprochen elegant war, daran erinnert sie sich, dass der Großvater in Mauthausen gefangen war, das hat sie erzählt bekommen. Bei dem Versuch, die Geschichte ihrer Großeltern zu rekonstruieren, reist Johanna Adorján nach Paris und Israel, nach München und Kopenhagen, wo die beiden am Ende gelebt haben und wo sie gestorben sind. Sie spricht mit Weggefährten ihrer Großeltern und fragt sich: Was bedeutet es, die Enkelin jüdischer Holocaust-Überlebender zu sein? Und: Ist es wirklich der Beweis einer großen Liebe, wenn man sich zusammen umbringt? Sie findet vielleicht keine allgemeingültigen Antworten. Aber das, was sie findet, ist zumindest lesenswert.

Ich bin überrascht, wie gut in Eine exklusive Liebe Fiktion und Realität miteinander harmonieren. Für gewöhnlich sind mir echte Ich-Erzähler mit ihren Ansichten ja ziemlich wurscht. Aber Johanna Adorján schafft es, mich zu faszinieren: weil sie es gar nicht versucht. Sie erzählt völlig ohne Pathos davon, was die Tat ihrer Großeltern in ihr selbst und in den anderen Familienmitgliedern ausgelöst hat. Sie ist ehrlich und beschönigt nichts. Die Beziehung ihrer Großeltern, die sie fiktiv beschreibt, ist nicht im Übermaß liebevoll, die beiden siezen einander ihr ganzes Leben lang, sie sind genervt voneinander und streiten sich. Und doch gehen sie gemeinsam in den Tod. Sehr klar zeigt die Autorin auf, dass es dazu nicht unbedingt (nur) Liebe braucht, sondern auch eine gehörige Portion Egoismus. Ich mag das Buch wegen seines unaufgeregten Tons und auch deshalb, weil hier auf das große Drama verzichtet wird. Die kleinen Dramen sind im Endeffekt schon groß genug.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein wilder Mix aus Charakteren und Geschichten
Zum einen wäre da mal der kleine Ismael, ein Flüchtling aus Afrika, der aus einem Flugzeug fällt. Dann gibt es Paul Mahlow, einen Studenten, der ihn findet. Und Gonzo, den Demonstranten und Querulanten. Sowie Alp, der ins Koma fällt. Er ist der Ich-Erzähler. So weit zu den Charakteren (oder einigen davon). Nun zu den Zeitebenen: Wichtig ist das Jahr 1985, weil zu dieser Zeit Alp bei einer Westberliner Demonstration verletzt wird und sein Koma beginnt. Ebenfalls eine große Rolle spielt der Zweite Weltkrieg, als einem grausamen KZ-Arzt die Flucht gelingt und ein gewisser Joseph Hutzinger, Koch der deutschen Armee, nach Amerika gelangt. Was das alles miteinander zu tun hat? Gute Frage.

Norbert Zähringer schert sich nicht um herkömmliche Erzählperspektiven. Zwar lässt er einen Ich-Erzähler auftreten, von allen anderen Ereignissen und Personen berichtet er aber auf auktoriale Art und Weise – eigentlich besteht das Buch fast ausschließlich aus Geschichten, von denen Ich-Person Alp gar keine Ahnung haben kann. Sie spielen an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten. Und Alp liegt ja noch dazu im Koma. Wir springen also gemeinsam mit dem Autor wild hin und her, werden von unvorhersehbaren Wendungen überrascht und genießen die Spannung.

Jetzt kommt das Aber. Die Protagonisten bleiben mir herzlich egal, weil sie wenig Tiefe entwickeln. Durch die schiere Flut an Hauptpersonen kann ich mich auf niemanden konzentrieren – und auch Zähringer hat scheinbar nicht das Bedürfnis gehabt, dem Leser einen oder zwei Charaktere näher zu bringen. Von Anfang an wird suggeriert, dass die einzelnen Plots in einem größeren Zusammenhang stehen werden. Eine Verbindung gibt es am Ende zwar, sie erscheint mir jedoch recht lose. Nichtsdestotrotz ein rasantes und originelles Buch. Wer sich also auf jede Menge Verwirrung einstellt, wird durchaus zufrieden sein.

Lieblingszitat: Damals brach die Welt auf wie backendes Brot, aber niemand merkte es.

Gut und sättigend: 3 Sterne

WinklerLiteratur aus Österreich
Der Georg-Büchner-Preisträger Josef Winkler stammt aus einem Dorf in Kärnten, das aus nicht viel mehr als ein paar Misthaufen besteht. Er ist ein Bauernkind, und von seiner Kindheit handelt dieser dünne Erzählband ebenso wie von seiner Leidenschaft für das Kino, von seinen Reisen nach Indien und von  den Büchern, die er liest. Immer wieder funken dabei Todesfälle dazwischen, Kinder, die überfahren werden, Menschen, die sich umbringen. Dieses Buch hat keinen Anfang und kein Ende, es kennt keinen roten Faden oder eine Handlung, vielmehr besteht es aus herausgerissenen Erlebnissen und Gedanken von Josef Winkler. Er zitiert andere Schriftsteller, die ihn auf seinen Reisen begleiten, Terezia Mora ist dabei, Annemarie Schwarzenbach, Joseph Conrad, Alfred Döblin.

Fantasievoll sind die Metaphern, die Bilder, die Josef Winkler findet, sie wirken auf mich oft wie Insider, die nur er selbst verstehen kann. Das ist es, was diese Literatur ausmacht: Sie will sich nur ausdrücken, ohne sich verständlich machen zu müssen. “Die Lufthoheit der Totenkissenschlacht” und “Der Tod ist ein Schiff, und ich bin sein Wrack” heißen seine Kapitel, oder “Knochenstillleben auf dem Asphalt mit Ovomaltine”. Das ist schräg und verwirrend, hat aber seinen ganz eigenen – und in diesen Erzählungen recht morbiden – Reiz. Über allem schwebt der Herrgott, verbunden mit der streng katholischen Erziehung. “Jeden Tag einmal hat Mutter gesagt, daß ich den Herrgott nicht bei den Füßen herunterziehen und ihm auch nicht die Fersen abschneiden soll. Und jeden Tag einmal habe ich zur Mutter gesagt, daß ich mir eine Wimper ausreißen und ihr meine Wimper ins Herz stechen werde.”

Dieser schmale Surhkamp-Band gibt Einblick in das Innenleben eines österreichischen Schriftstellers. Man liest, was ihn beschäftigt – seien es Unfalltod und Selbstmord, seien es Kinofilme oder Bücher – und gewinnt dabei auch Wissen über die österreichische Seele. Ein Roman von Josef Winkler würde mir unter Umständen besser gefallen, da ich ja immer sehr auf eine sinnvolle und zusammenhängende Handlung aus bin. Dennoch hat Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot mich interessiert und fasziniert.