Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein Junge im Land der Männer
Suleiman ist 9 Jahre alt. Er lebt in Libyen, und wir schreiben das Jahr 1979. Muammar el-Gaddafi, “Führer der libyschen Volksrevolution”, ergreift die Macht. Und das ist für alle, die anderer Gesinnung sind, gefährlich – darunter Suleimans Vater. Ihrer beider Beziehung ist jedoch nicht so eng wie Suleimans Bindung an seine Mutter. Sie wurde mit nur 14 Jahren an einen wesentlich älteren Mann verheiratet, ihre Wünsche zählen nichts in Libyen. Der Titel des Buchs bringt ihre Lage auf den Punkt. Und während sie sich diesem Schicksal tagsüber fügen muss, gibt es viele Nächte – wenn Suleimans Vater auf Geschäftsreise ist -, in denen sie nicht schweigen kann. Dann nimmt sie ihre “Medizin” und erzählt Suleiman Geheimnisse, die ihm auf der Seele liegen und die er für sich behalten muss. Doch Suleiman ist zu jung für das, was rund um ihn geschieht: Er versteht es nicht. Die Erwachsenen erklären ihm nichts, und so verhält sich Suleiman naiv und bringt seine Familie unbeabsichtigt in Gefahr.

Im Land der Männer ist ein politisch angehauchter Roman, der die Hilflosigkeit der Frauen und die potenzielle Gefahr für Andersdenkende im Libyen der 1980er-Jahre beschreibt. Schwierig daran ist, dass man sich ein wenig in der hiesigen Geschichte auskennen muss, um der Handlung folgen zu können: Denn der Leser folgt der Hauptperson Suleiman, und der ist nicht informiert. Vielmehr stolpert er orientierungslos durch die Ereignisse – und ich rätsle mit ihm mit. Das ist stellenweise anstrengend und verwirrend. Zumindest aber ist es glaubwürdig – denn Hisham Matar hat sich nun einmal für die Erzählperspektive eines kleinen Jungen entschieden und bleibt konsequent. In manchen Einschüben erkennt man aber, dass Suleiman die Geschichte viele Jahre später erzählt und hier eigentlich kein Kind spricht. Da hätte er vielleicht doch aus der Ferne eingreifen und ab und zu etwas erklären können. Grundsätzlich aber trifft Hisham Matar den Ton, den ein solcher Roman braucht: kindlich, erschrocken, traurig und voller Angst. Das Ende ist schlüssig, allerdings nicht herausragend. Alles in allem angenehm zu lesen, informativ, stilistisch solide und eine leise Anklage gegen ein totalitäres System.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Die Geschichte einer Frau, die nichts verpasst hat
Mit The Private Lives of Pippa Lee ist Rebecca Miller in den USA ein Bestseller gelungen, der 2009 verfilmt wurde und heuer in unsere Kinos kommt. In diesem Roman erzählt sie von Pippa, einer Frau, die mit dem 30 Jahre älteren Schriftsteller Herb verheiratet ist und ein beschauliches, kultiviertes Leben führt. Die beiden sind gerade in eine Wohnanlage für Senioren gezogen, Pippa bekocht gern Gäste, ihre Kinder, die Zwillinge Grace und Ben, sind längst erwachsen. So beginnt das Buch – und dann wechselt die Perspektive: Als Ich-Erzählerin berichtet Pippa von ihrer Kindheit und Jugend, von allem, was passiert ist, ehe sie Herb traf. Pippas Mutter kämpfte mit depressiven Stimmungen und Tabletten, ihre Beziehung zu Pippa war sehr eng, aber instabil. Und so wurde aus Pippa eine wilde Jugendliche, die sich schon mit 16 allein durch New York schlug. Sex, Drogen, wilde Partys und Alkohol bestimmten ihren Alltag. Erst als sie Herb begegnete, kehrte Ruhe in ihrem Leben ein. Zwar war Herb zu Beginn noch verheiratet, aber – nun ja – nicht mehr lange …

Spannung bekommt dieser Roman durch den starken Kontrast zwischen Pippas Jugend und ihrem späteren Leben, der durch den Wechsel der Erzählperspektive noch verstärkt wird. Am Ende stellt sich jedoch heraus, dass Pippas Leben bei Weitem nicht so ruhig ist wie gedacht – auf sie und den Leser wartet noch eine deftige Überraschung. Die unerwarteten Wendungen sind es auch, die dem Buch Aufwind geben – denn ansonsten ist die Geschichte eher unspektakulär. Zwar ist Pippas Geschichte alles andere als langweilig – dafür sorgen lesbischer Sex, Selbstmord und Kindererziehung. Aber weder der Stil noch die Handlung an sich sind ungewöhnlich genug, um den Roman zum eye-catcher in der Flut der täglich erscheinenden Bücher zu machen. Pippa erlebt alles sehr bewusst, die Erzählung bleibt nah an ihren Gefühlen und Eindrücken. Sie ist eine manipulative Frau mit vielen Gesichtern, eine schillernde Figur. The Private Lives of Pippa Lee ist angenehm und flüssig zu lesen, es ist ein gutes Buch – aber kein herausragendes.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Über einen, der keinen Platz findet im Leben
Lewis ist als Einziger dabei, als seine lebenslustige, unkonventionelle Mutter ertrinkt. Das Trauma wirft ihn völlig aus der Bahn – und es ist niemand da, der ihm beisteht. Sein Vater Gilbert steht dem Verlust seiner Frau hilflos gegenüber und kann nicht umhin, Lewis die Schuld daran zu geben. Er schiebt ihn ab ins Internat, die beiden sprechen kaum miteinander. Und so wundert es nicht, dass Lewis in eine Abwärtsspirale aus Selbsthass und Selbstverletzung gerät, dass er keinen Zugang mehr findet zu Gleichaltrigen und dass er, um seinen Schmerz zu dämmen, gewalttätig wird und seine Zerstörungswut auslebt. Als Lewis mit der jungen, hübschen Alice eine Stiefmutter präsentiert bekommt, gerät er endgültig aus dem Gleichgewicht.

Der Außenseiter ist das Porträt eines heranwachsenden Jungen, der leidet und dem niemand hilft. Er kann den Tod seiner Mutter nicht verwinden, er wird abgeschoben und kommt nicht zurecht. Es liegt nahe, dass er sich in Alkohol flüchtet und einer von denen wird, die sich alles erlauben, weil sie jegliche Grenze längst überschritten haben. Leider steckt dahinter aber auch nicht mehr: Es ist ein sehr klassisches Schicksal, das Sadie Jones hier skizziert. Lewis fährt auf einer vorgefertigten Schiene und verlässt sie nicht, er tut vorhersehbare Dinge und so wird aus diesem – teilweise recht eindrucksvollen – Roman schlussendlich doch nur ein 08/15-Buch. Mit ihrem Stil überzeugt die Autorin nur bedingt, abgeschmackte und blutleere Formulierungen wie “Er wusste selbst nicht, was es war, aber irgendetwas war da” entlocken mir eher einen Seufzer als ein zufriedenes Lächeln. Für mich war es schwer, über 400 Seiten lang ununterbrochen Mitgefühl aufzubringen, ich fand es stellenweise anstrengend, den Figuren auf ihrem Weg, der nur nach unten führt, zu folgen. Der Außenseiter ist ein deprimierendes, bedrückendes Buch, das sich nicht von Stereotypen befreien kann. Und wenn ein Vater seine Tochter schlägt, kann ich nicht anders als zu denken: Nicht DAS schon wieder. Mag sein, dass ich abgestumpft und sattgelesen bin. Aber ein Meisterwerk ist dieses Buch für mich nicht. Wer sich jedoch einlassen will auf diesen Strudel aus Verzweiflung und Gewalt, sei herzlich dazu eingeladen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Schwierigkeiten einer jungen Ehe
Gerade erst haben Hans und Ina geheiratet, wenig später sucht er in Frankfurt eine neue Bleibe für das junge Paar. Das Richtige zu finden, ist nicht einfach, und so geht er immer mehr Kompromisse ein – bis er eine Dachgeschoßwohnung in einer lauten und unfeinen Gegend mietet. Zuerst scheint es, als würde es Ina nichts ausmachen, dass der Start in das gemeinsame Leben nicht in einer Wohlfühlumgebung stattfindet. Schnell aber zehrt das ungemütliche Umfeld an den Nerven der beiden. Hans muss viel arbeiten, Ina ist allein – aber auch ungesellig, denn zu den Nachbarn, ebenfalls ein Paar, will sie nicht mitkommen, auch nicht zu den abendlichen Trinkrunden im Innenhof, bei denen der zwielichtige Hausmeister Souad aus Äthiopien federführend ist. Nicht unbedingt hilfreich für die Harmonie in der Beziehung zwischen Ina und Hans ist Inas nervtötende Mutter Frau von Klein. So entgleitet den beiden sehr schnell das, was sie für eine gute Ehe halten.

Die antiquierte Sprache des mehrfach preisgekrönten Schriftstellers Martin Mosebach und das Cover erwecken den Eindruck, die Geschichte von Der Mond und das Mädchen spiele in einer längst vergangenen Zeit, doch sie ist in der Gegenwart angesiedelt. Geradezu verblüffend ist, wie der Autor sich in winzige Details verbeißen kann, wie er Autoabgase als “gewürzhafte Fülle” beschreibt und wie er die “enterotisierende Wirkung von Eheringen” schildert. Inhaltlich gibt die Handlung nicht viel her: Hans und Ina entfremden sich mit einer Geschwindigkeit, die fast schon absurd wirkt. Dabei wundert es mich, wie das möglich ist, denn die beiden sind bereits seit fünf Jahren zusammen – über ihre Beziehung vor der Hochzeit erfahren wir allerdings nichts. Es entsteht der Eindruck, als hätten sie einander erst vor dem Altar kennengelernt – und stellten jetzt fest, dass sie überhaupt nicht zueinander passen. Sie sind übersensibel und empfindlich, sie schieben der hässlichen Wohnung die Schuld an ihrem Unglücklichsein zu, wobei ich diese Mängel der ehelichen Unterkunft kaum ernst nehmen kann. Sollte es bei wahrer Liebe nicht – zumindest ein wenig – egal sein, wo man haust, überhaupt, wenn es nur auf Zeit ist?

Die Story ist ein wenig aufgeblasen, aber: Die Sprache ist schön, exaltiert, detailgenau, herausragend und einzigartig. Martin Mosebach findet elegante Metaphern, er lässt seinen Stil schillern und beleuchtet ein junges, uninteressantes Paar und die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung für einen Moment. Das sind 180 Seiten voller ungewöhnlicher Beschreibungen, wie man sie selten findet.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Rasant und komisch
Alex ist verliebt in Esther. Wie sich diese Beziehung entwickelt, wer sich einmischt und wie es eigentlich ist, erwachsen zu werden, davon handelt Selim Özdogans Roman aus dem Jahr 1995 mit dem herrlichen Titel Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist. In diesem Buch gibt es keine großen Überraschungen, weder inhaltlich noch stilistisch. Es ist gut und flott geschrieben, der Autor fühlt sich ein in die Welt eines jungen Mannes, der sich treiben lässt und sich nicht festlegen will auf einen endgültigen Lebensentwurf. An die Uni geht er kaum, das Jobben nimmt er auch nicht ernst. Er feiert gern, betrinkt sich bei jeder Gelegenheit und hängt mit seinen zwei besten Freunden ab. Zwischendurch schreibt er Gedichte. Die Liebe zu Esther ist ihm allerdings ernst – ernster als ihr. Und wie weh das tut, ob beim ersten oder beim wiederholten Mal, davon erzählt Selim Özdogan in diesem Roman.

“Fröhliche Musik muss man laut hören, es dürfen keine Nebengeräusche überleben, jede Faser des Körpers muss erfasst werden, der Brustkorb muss vibrieren, man muss erfüllt werden von der ganzen Kraft, man muss sie verinnerlichen man muss sich ganz auf die Magie einlassen.” Mit solchen Sätzen weckt das Buch mit dem langen Titel die Erinnerung daran, wie es ist, jung und frei zu sein, das Leben vor sich zu haben, zu träumen. Das zu lesen, ist keine Offenbarung, aber unterhaltsam. Die Sprache ist betont rotzig, das muss man natürlich mögen. Mir liegt es nicht unbedingt, trotzdem finde ich das tote Pferd okay – als entspannende Literatur für zwischendurch.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Leise sein, hinschauen, nachdenken
Es ist ein ungewöhnlicher Job, den der Ich-Erzähler in Wilhelm Genazinos Ein Regenschirm für diesen Tag ausübt: Er testet Herrenschuhe, spaziert mit ihnen durch die Stadt und schreibt dann Gutachten über seine Eindrücke. Deshalb muss er viel spazierengehen, deshalb kann er den ganzen Tag Leute beobachten: eine Frau im Supermarkt, ein Kind im Auto, ein Liebespaar. Und er macht sich so seine Gedanken über diese Menschen, über sich selbst, über das Leben, von dem er nicht weiß, ob er ihm seine “nachträgliche Genehmigung” erteilen würde. Er leidet an “Verschwindsucht” und ist immer ganz bei sich, obwohl er sich so viel im Außen bewegt, agiert er kaum mit anderen bzw. nur dann, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Er trifft verschiedene Frauen auf seinen Spaziergängen, die er kennt und mit denen er manchmal reden muss, aber sein Herz hängt noch an Lisa, die ihn verlassen hat. Er steht außerhalb des Trotts, der sich der meisten Menschen bemächtigt hat, aber ganz entziehen kann er sich der Anforderung, Geld verdienen zu müssen zum Überleben, und der Sehnsucht, mit einer Frau zusammen zu sein, nicht.

“Literatur muss besser gemacht sein als das Leben”, soll John Irving einmal gesagt haben. Davon hält Wilhelm Genazino nichts. Es ist das Leben, das er abbildet – und zwar so, wie es ist: manchmal spannend, meistens monoton. Ein Regenschirm für diesen Tag ist gleichzeitig ungewöhnlich und unspektakulär. Dieser Roman gewinnt nicht mit seiner Handlung, sondern vielmehr mit dem Blick durch ein subjektives Fernrohr, das auf die Welt gerichtet ist. Dieses Buch zeigt, wie es ist, wenn man nicht hetzen muss, wie es ist, wenn man nichts braucht und nichts sucht und einfach mit sich selbst durch eine Stadt spaziert, die Augen weit offen, das Hirn auch, wenn einem Gedanken kommen, die klug sind, und solche, die absurd sind. Dabei steht der Roman für mich immer ganz nah am Abgrund zum Belanglosen: “Ich lege meine Jacke ab und schneide mir eine Scheibe Brot ab”, heißt es beispielsweise, “Das Brot schmeckt mir sehr gut. Ich nehme die Brille ab und reibe mir mit der Hand die Augen.” Aber die treffenden Beobachtungen retten die Erzählung immer wieder vor dem Absturz. Besonders die Sexszene finde ich sehr amüsant. Was den Erlebnisfaktor betrifft: Während andere Bücher wie Disneyland sind, ist dieser hier der Stadtpark. Und es ist manchmal ganz schön, in den Stadtpark zu gehen und einfach seine Ruhe zu haben.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Angenehm zu lesen, aber kein Highlight
Hanif Kureishi wurde mit Der Buddha der Vorstadt in unseren Breiten bekannt. In Something to tell you porträtiert er den Psychiater Jamal, der pakistanische Wurzeln hat und in London lebt. Der Vater hat sich früh nach Pakistan abgesetzt, die Mutter war mit Jamal und seiner Schwester Miriam überfordert. Miriam hat das spezielle Talent, sich ständig in Schwierigkeiten zu bringen. Sie wohnt in einer gefährlichen Gegend mit mehreren Kindern von verschiedenen Männern und raucht gern mal einen Joint. Als Miriam und Jamals bester Freund Henry, ein Theaterstück-schreiber, sich ineinander verlieben, ist Jamal überrascht und vielleicht auch ein wenig eifersüchtig – klappt es doch mit ihm und der Liebe nicht so recht. Das liegt daran, dass er immer noch an Ajita denkt, ein indisches Mädchen und seine erste große Liebe. Seit vielen Jahren schleppt Jamal ein Geheimnis mit sich herum. Aber wie im Leben sieht man sich auch in der Literatur immer zwei Mal …

Something to tell you ist ein “netter Schmöker” über einen Londoner Psychologen, der in seiner Arbeit und in seinem Privatleben mit den Neurosen der anderen Menschen konfrontiert ist – und mit seinen eigenen. Dabei geht es natürlich in erster Linie um die klassischen Auslöser für vermeintlich ungewöhnliches Verhalten: die Beziehung zu den Eltern, Liebe und Sex, sehr viel Sex. Das Buch liest sich flüssig , wartet mit schlagfertigen Dialogen und einigermaßen interessanten Charakteren auf, ist aber insgesamt gesehen kein Highlight, weder sprachlich noch inhaltlich. Am Stil gibt es wenig auszusetzen, es fehlt zwar an der Finesse, das Niveau ist aber in Ordnung, Entgleisungen oder abgelutschte Formulierungen gibt es keine, zumindest nicht in der englischen Originalversion. Hanif Kureishi weiß, wie man eine Geschichte konstruiert, und er füllt diese Konstruktion mit den entsprechenden Elementen und Figuren. Und so wirkt der Roman auch auf mich: konstruiert. Da fließt nichts von selbst, die Handlung reißt mich nicht mit, sie bleibt eher platt und ziemlich 08/15. Es ist von Anfang an klar, dass Jamal und Ajita einander wiedersehen werden und dass Jamals Geheimnis ans Tageslicht kommen wird – die Spannung bleibt in der Hinsicht auch insofern auf der Strecke, als dass der Leser dieses Geheimnis bereits recht früh erzählt bekommt. 520 Seiten hätte es dazu auch nicht unbedingt gebraucht. So bleibt Something to tell you eine angenehm lesbare, aber unspektakuläre Studie über einen Psychiater in einer Großstadt, der sich mit auf den ersten Blick ungewöhnlichen, bei genauerem Hinsehen aber ganz normalen Dingen beschäftigt: mit dem Verlassenwerden, der Suche nach den eigenen Wurzeln und nach dem Glück. Leser mit einem geringeren Suchtpotenzial als meinem können dieser Geschichte vermutlich mehr abgewinnen, ich habe aber wieder einmal das Gefühl, das alles schon zu kennen, und ein gutes Buch ist für mich immer eins, das mich überrascht. Das ist hier nicht der Fall.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Grandiose Sprache, weniger grandioser Inhalt
Stilistisch ist Die Krokodilfärberei ein wahres Fest, ein Augenschmaus: Fantasievolle Beschreibungen und herrlich verquere Metaphern machen diesen Roman zu etwas Besonderem. Ihr Hals roch nach Birnenobst, ihre Stirn nach Fieber”, heißt es beispielsweise, “ihre Augenlider nach Löwenzahn, ihre Schulterblätter nach Wind …” Die verzauberte und verzaubernde Sprache von Rainer Braune ist vermutlich der Grund für die hymnischen Kritiken, “Es muss ihr gut gehen, der deutschen Literatur, wenn sie noch Bücher wie dieses hervorbringt”, schrieb etwa Die Zeit. Ich schwelge in dieser ausladenden Sprache, sie ist wie eine Zeichnung, die man erstaunt betrachtet.

Nur leider ist die Sprache nicht alles, was ein gutes Buch ausmacht – auch der Inhalt muss fesseln und interessieren. In Die Krokodilfärberei hinkt die Geschichte ihrer Form jedoch hinterher. Worum es überhaupt geht? Zeichner Gilles fährt in das abgelegene Haus des alten Cembalisten Quitzow, das Tulpische Wildnis heißt und auch so aussieht. Er soll dort zwei Zimmer renovieren, damit Quitzow einziehen kann. In der Tulpischen Wildnis trifft Gilles die 17-jährige Adolphine, die ihm gefällt, ihre Schwester, die nur die Wusterwitz genannt wird, deren Tochter, die kleine Capaldi, und den niederträchtigen Geiger Möbius. All diese sperrigen Gestalten sind eigenwillig und (bis auf Möbius) auf ihre Weise liebenswert. Gilles denkt schon nach seiner Ankunft nicht mehr daran, die Tulpische Wildnis zu verlassen, hier fühlt er sich wohl. Doch auch diese Idylle ist nicht vor Gewalt und Bosheit gefeit, die sich in diesem Fall gegen Adolphine richtet. Gemeinsam mit Gilles verübt sie Rache.

Thematisch ist an dieser Geschichte wenig neu: Einer klinkt sich aus seinem Alltag aus, fährt an einen anderen Ort, wo es ihm gefällt, er verliebt sich neu und bleibt dann einfach dort, er schert sich nicht mehr um sein altes Leben. So etwas habe ich schon oft gelesen, zuletzt etwa in Der Geschmack von Apfelkernen. Zwar kann ich solchen Geschichten durchaus etwas abgewinnen, sie erscheinen mir aber oft sehr starr, angepasst an ein Schema, das nicht durchbrochen wird. Das gilt auch zum Großteil für Die Krokodilfärberei, die Erzählung plätschert wie ein Bach vor sich hin, mit Ausnahme eines Bruchs in der Mitte, ein kleiner Wasserfall sozusagen. Originell ist die Handlung rund um Bösewicht Möbius und Adolphines Racheakt, damit rechnet man als Leser nicht. Erfrischend sind die Charaktere, besonders die kleine Capaldi gibt dem Buch viel Lebendigkeit. Ansonsten gibt der Roman für mich inhaltlich aber nicht viel her. Er erscheint mir vielmehr wie ein einziger verworrener Traum, der in einer genialen Sprache erzählt wird, aber dennoch fern der Realität und seltsam unbegreiflich bleibt. Das Buch ist in der Gegenwart angesiedelt, wirkt aber durch den ausufernden Erzählstil, die altertümlichen Namen und die oft skurrilen Dialoge wie aus einer anderen, vergangenen Zeit. Als modern-märchenhaftes Werk lässt sich Die Krokodilfärberei wohl am ehesten beschreiben. Das ist nicht im Geringsten schlecht, aber am Ende ergeht es mir, als erinnerte ich mich an nächtliches, verstörendes Traumgeschehen: Ein paar Bildfetzen sind noch da, aber bald werde ich sie vergessen haben. Fazit: Sprachlich wunderbar, inhaltlich weniger.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ein italienischer Klassiker
Il Gattopardo ist Pflichtlektüre für Italienischstudierende. An der Uni hab ich mich erfolgreich davor gedrückt, nun habe ich es doch gelesen: Es hat allerdings 6 Monate gedauert. Dabei wurde das Buch in meiner Wohnung schon fast zum Möbelstück – es lag immer irgendwo herum und wartete geduldig, dass ich es wieder in die Hand nehmen und ein paar Seiten lesen würde. Erster Eindruck: Für eine Pflichtlektüre nicht so übel. Zwar hatte ich mit der altertümlichen Sprache und einigen Wörtern, die ich nicht kannte, zu kämpfen, der Sinn erschloss sich mir aber dennoch: Tomasi di Lampedusa porträtiert eine Fürstenfamilie in Sizilien zwischen 1860 und 1910. Protagonist ist Don Fabrizio, der Herzog von Salina, der mit Frau und Kindern ins Sommerschloss in Donnafugata zieht, wo sich sein Neffe Tancredi in die schöne Angelina verliebt, deren Vater zwar reich, aber neureich ist. Verliebt in Tancredi wiederum ist seine Cousine Concetta. Zu dieser Zeit ist Italien im Umbruch, Tancredi nimmt teil an Garibaldis Aufstand 1860, die Gesellschaft wandelt sich, das Bürgertum mausert sich, der Adel verliert an Macht.

Il Gattopardo gibt Einblick in das herrschaftliche Leben der Salinas, die angeblich nach dem Vorbild von Tomaso di Lampedusas eigener Familie geschaffen wurden. Dabei stellt der Autor dieses edle Geschlecht so vor, wie man sich das denkt: Es gibt rauschende Bälle, festliche Abendeinladungen, allerhand Schnickschnack, viele Regeln, viel Politik. Dennoch fasst er seine Charaktere nicht mit Samthandschuhen an, er präsentiert sie mit all ihren Fehlern und Eitelkeiten und gibt seiner Erzählung einen sehr ironischen Unterton. Zudem greift er stellenweise innerhalb der (Menschheits-)Geschichte vor, was irritierende, aber interessante Stilbrüche ergibt. So heißt es beispielsweise, als Tancredi und Angelina einander näher kommen und gemeinsam den Palast durchstreifen auf der Suche nach Gelegenheiten für gestohlene Küsse, dass das die schönste Zeit der beiden bleiben wird, denn ihre Ehe wird diese verliebten Versprechen nicht halten können, auch nicht im Bett. “Certo, l’amore”, denkt Don Fabrizio, “Fioco e fiamme per un anno, cener per trenta.” Ja, die Liebe – Feuer und Flamme für ein Jahr, Asche für dreißig. Das bringt auch das zentrale Thema des Romans auf den Punkt: das Vergängliche. Die aristokratische Familie ist – gesellschaftlich gesehen – dem “Untergang” geweiht, genau wie die Liebe.

Warum Il Gattopardo so eine wichtige Rolle spielt in der italienischen Literatur, ist mir nun klar: Dieser Roman handelt einen Teil der italienischen Geschichte ab und zeigt eine Familie, wie es viele gab im Sizilien des 19. Jahrhunderts. Zudem können die Italienischprofessoren an der Uni die Studierenden mit vielen schwierigen Wörtern und interessanten Interpretationen quälen. Aber für alle Interessierten: Das Buch gibt’s selbstverständlich auch auf Deutsch!

Gut und sättigend: 3 Sterne

Wer wagt, verliert
Inga ist im Nachkriegsdeutschland 1948 als Civilian Employee bei den englischen Besatzern angestellt und tippt dort Briefe und Listen. All ihre Tage sind gleich und quälen sie in ihrer Eintönigkeit. Als sie einen verletzten Leutnant kennenlernt, erwacht ihr Interesse: aber nicht an dem Mann, sondern am Spiel, denn der Leutnant ist ein leidenschaftlicher Kartenspieler. Er bewegt sich in hohen Kreisen, Funktionäre sitzen mit ihm am Tisch, englische wie deutsche. Dabei wird schnell klar, dass der Leutnant nicht immer vom Glück verfolgt wird – genau wie Inga. Sie verfällt der Spielleidenschaft und setzt alles daran, an den geheimen Treffen teilhaben zu können. Dazu braucht sie jedoch natürlich vor allem eins: Geld. Und dafür tut sie, was Spielsüchtige eben tun, sie lügt und betrügt.

Wer sich – wie ich – vom Klappentext ein wenig in die Irre führen lässt und in Zwischen den Gezeiten eine Liebesgeschichte erwartet, ist schief gewickelt (wobei der Klappentext das gar nicht direkt behauptet, es war eher meine eigene Fehlinterpretation der Formulierung, Inga bedeute dem Leutnant etwas). Inga und der Leutnant sind einander recht egal, vielmehr geht es um das Spielen und die Sucht, um das Aufräumen nach dem Krieg, um die “Nichteinwandfreien” wie Ingas Vater. Ein bisschen missverständlich ist der Text auch dahingehend, dass er suggeriert, der Leutnant sei ein Spieler und Inga fühle sich von ihm angezogen – sie wirkt auf mich süchtiger als er. Ich habe das anders erwartet. Inga ist einfach langweilig und sie will etwas erleben – einerlei, ob gut oder schlecht. Sie verhält sich dabei teilweise außerordentlich dumm und bringt ihre Familie in Gefahr, aber dadurch wird die Geschichte wenigstens interessant. Ich versuche also, zusammenzufassen, was ich an dem Buch mag: den entrückten Stil, die merkwürdig zähe Story, das raffinierte und logische Ende. Was ich dagegen nicht mag, ist, dass die Perspektive eigentlich immer Ingas ist, der Leser aber ein, zwei Mal für wenige Absätze nur zu einer anderen Person wechselt – ich halte es da mit “ganz oder gar nicht”. Zudem vermisse ich die Aussage hinter dem Buch, den tieferen Sinn. Drei Prämissen lassen sich festmachen: 1. Das Leben nach dem Krieg war in Deutschland nicht einfach, 2. Viele vermeintliche Opfer waren in Wirklichkeit begeisterte Täter und 3. Wer spielt, kann süchtig werden. So weit, so gut, nichts davon ist mir neu. Dennoch ist Zwischen den Gezeiten eine solide, mittelgute Geschichte, die man ruhig lesen kann, wenn man mag.