Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_8511„Bei uns ist man stolz darauf, das wildeste, böseste Volk der Welt zu sein“
„In Guerrero regierten Hitze, Leguane, Spinnen und Skorpione. Das Leben war so gut wie nichts wert.“ Das gilt besonders für das Leben eines Mädchens. Denn neben dem tödlichen Getier herrschen in diesem öden Dschungelgebiet Mexikos auch die Drogenbosse. Sobald sie hören, dass es irgendwo ein hübsches Mädchen gibt, kommen sie und holen es, verkaufen und benutzen es. Deshalb muss die junge Ladydi – benannt nach der britischen Prinzessin – möglichst hässlich aussehen. Und wenn ein SUV am Horizont auftaucht, rennen die Mädchen zu den Erdlöchern, die ihre Mütter für sie gegraben haben, und verstecken sich. Als Ladydis Freundin Paula eines Tages nicht schnell genug ist, wird sie verschleppt. Retten kann sie niemand, schon gar nicht ihr Vater, denn der ist ebenso verschwunden wie die meisten Männer von Guerrero. Auch Ladydis Vater ist über die Grenze in die USA gelangt und hat den Kontakt zu ihnen abgebrochen. Ihre Mutter, immer schon so rau und unzugänglich wie die unwirtliche Landschaft, ist seitdem noch härter geworden. Ladydi ist ein stilles, von all den Unmöglichkeiten und dem Schmerz erfülltes Mädchen: „Meine Haut war die Innenseite und all meine Adern und Knochen die Außenseite. Besser, ich stieß mit niemandem zusammen, dachte ich.“ Kaum hat sie die Schule beendet, will sie fort, und ihr Cousin Mike bietet ihr dazu die Chance in Form einer Stelle als Kindermädchen in der Stadt. Doch dann hält Ladydi plötzlich ein großes Paket Heroin in der Hand und zwei Menschen sind tot.

Die amerikanische Autorin Jennifer Clement wuchs in Mexiko-Stadt auf und hat für diesen Roman zehn Jahre lang vor Ort recherchiert. Durch die vielen Gespräche mit mexikanischen Frauen, die unter den kriminellen Machenschaften der Drogenbosse leiden, ist es ihr gelungen, in Gebete für die Vermissten ein sehr konkretes und authentisches Bild der Betroffenen zu zeichnen. Ihre Protagonistin Ladydi ist zwar introvertiert und nachdenklich, aber auch knallhart und gewieft. Die Art, wie sie zwischen Skorpionen und Vergewaltigern aufwächst, hat nicht das Geringste mit meiner eigenen behüteten Kindheit zu tun. Die Mädchen von Guerrero sind rund um die Uhr in Gefahr, und außer dieser Gefahr bietet ihnen ihr Heimatort nur Alkoholiker, Pflanzengift und Drogen. Jennifer Clement bedient sich für diese harte Geschichte einer harten Sprache, ihre Worte sind geschliffen wie die Machete von Ladydis Mutter. Sie kennt keine Gnade, sie erzählt vom Leben dort so ungeschönt und schroff, wie es eben ist. Diese Direktheit hat eine ganz eigene Eleganz und Eindringlichkeit, die ich sehr mag. Dies ist ein Buch, das einen unmittelbar an den Haarwurzeln packt und daran rüttelt. Dabei ruhig zu bleiben, ist schlicht unmöglich. Tagelang geht mir das Gelesene nicht aus dem Kopf. Und auch jetzt sind die Bilder noch überaus lebendig. Gebete für die Vermissten ist daher nichts für Leser mit schwachen Nerven – aber perfekt für alle, die eine gute Story und ausgezeichnete Bücher lieben.

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Gebete für die Vermissten von Jennifer Clement ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42452-0, 228 Seiten, 19,95 Euro). Hier könnt ihr auch einen Trailer zum Buch anschauen.

Für Gourmets: 5 Sterne

KnechtDie hohe Kunst des Scheiterns
„Man ist am Land anders befreundet als in der Stadt. Vor allem aber ist man anders verfeindet, konkreter, ernsthafter, konsequenter, körperlicher.“ Das bekommt Marian am eigenen Leib zu spüren, als sie in der kleine Häuschen am Waldrand zieht, das einst ihrer Tante gehörte. Marian, die eigentlich Marianne heißt, tut dies nicht aus nostalgischen Gründen, sie will nicht auf dem Land leben und kann es auch nicht, im ersten Winter geht sie fast ein, weil sie kein Essen und kein Holz hat, nur Schnaps. Sie muss aber, weil ihr nichts geblieben ist vom Luxusleben in Wien: Marian war Modedesignerin, erfolgreich, wohlhabend, mit einem Architektenfreund, einer Designerwohnung, unfassbar teuren Schuhen, tonnenweise Anti-Falten-Cremes und einer trendigen Laktoseintoleranz. Dann kamen falsche Anlagestrategien, falsche Investitionen und ein falscher Mann, Marian ist aus dem Federbett auf den nackten Asphalt gefallen, und deshalb bedeutet es ihr jetzt Luxus, dass sie gelernt hat, Brot zu backen. Und dass Großgrundbesitzer Franz ihr regelmäßig Mehl, Shampoo und Holz bringt. Das tut er freilich nicht umsonst, denn seit er Marian beim Wildern erwischt hat, bedient er sich an ihrem Körper. Daher auch die Feindschaft zu den Nachbarn und das „Hur“ auf Marians Tür. Aber die Frau, die früher in Seide schlief, hat einen eisernen Überlebenswillen bewiesen – und hat nicht vor, aufzugeben.

Die österreichische Autorin Doris Knecht hat mich mit ihrem bösen Roman Besser über die Maßen begeistert – so sehr, dass ich meine Nur-ein-Buch-pro-Autor-Regel gebrochen und ihr neuestes Werk gelesen habe. Zum Glück! Denn sie beweist auch darin eine messerscharfe Beobachtungsgabe und das Talent, menschliche Abgründe offenzulegen – mit einem herrlich ironischen Unterton. Ihre Protagonistin Marian ist sozusagen beim Leben selbst in Ungnade gefallen, sie hat zu hoch gepokert, war zu blind und zu leichtgläubig, hat jeglichen materiellen Besitz verloren. Doris Knecht hat dieser Frau alles genommen, hat ihr den Satin ausgezogen, die Manolos auch, hat ihr das Sushi vom Tisch gefegt und ihre Putzfrau entlassen, ihr Atelier zugesperrt und die Konten geleert, hat ihre Freundschaften enden lassen und ihr die Liebe genommen. Da ist nur noch dieses Haus irgendwo am Land, da sind die alten Strickjacken der Tante, ein paar Gartenbücher, ein Ofen, viel frische Luft. Kein Internet, keine Bars, keine Prominenten, kein Sojalatte. Wenn man so eine Prinzessin-auf-der-Erbse-Story liest, kann man schon ein bisschen schadenfroh sein. Marians eigene Schilderungen lassen das auch zu, weil sie auf sehr sarkastische Weise im Selbstmitleid badet, sich erinnert, alles bis ins kleinste Detail zerlegt, immer und immer wieder, um jenen Moment auszumachen, in dem ihr Schicksal zwischen Unkraut und Wollsocken besiegelt war.

Ich hätte gern, dass Doris Knecht im echten Leben meine Freundin wäre. Weil ich mir vorstelle, dass ich mit ihr so herrlich gemeine Lästergespräche führen könnte, nach denen wir uns den Mund mit Seife auswaschen müssten. Da Doris Knecht bestimmt schon genug Freundinnen hat – und ich zum Glück ja auch –, lese ich einfach ihre Bücher. Die erfreuen nämlich auch diesen kleinen Fiesling, der in mir wohnt. Denn Sarkasmus kann nur dann zünden, wenn er klug ist – genau wie in Wald. Doris Knecht ist so nah dran an der Wahrheit, dass sogar ich – die nicht das feine Leben einer Designerin führt – mich bei manchen Gedankengängen erkannt und ertappt fühle. Da darf jeder sich in der gescheiterten Anfangsvierzigerin erkennen und sich an die eigene Nase greifen. Außerdem liebe ich es, dass das Buch so österreichisch ist und sein darf, dass die Austriazismen nicht im Lektorat ausradiert wurden. Für mich macht dies den Roman noch authentischer, er trifft meinen Humor, meine Sprachwelt, meine Vorstellung vom puren Lesevergnügen zu 100 Prozent. Deshalb kann ich nur sagen: Schärft euren Intellekt mit Doris Knecht, durchleuchtet mit ihr eine Dorfgemeinschaft, in der jeder nur sich selbst der Nächste ist, überlegt euch, was ihr wirklich zum Leben braucht, und amüsiert euch nebenbei ganz prächtig.

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Wald von Doris Knecht ist erschienen im Rowohlt Verlag (ISBN 978-3-87134-769-6, 272 Seiten, 19,95 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Welchen Einfluss hat der Rückfall in nahezu primitive Lebensumstände auf das soziale Verhalten, auf Wertvorstellungen und Gefühle? Diese Überlegung hat sich Doris Knecht zum Ausgangspunkt ihres neuen Romans gemacht“, erläutert die wienerzeitung.
– „Knecht wiederholt Namen und Schlüsselworte, bis zu zwölf Mal auf einer Seite, so dass ein beschwörender Ton entsteht, ein unheimlicher Sound, der noch verstärkt wird durch die Verwendung herber Austriazismen. Wald liest sich wie eine 270 Seiten lange Gedankenschleife, ganz eigen, ganz eindringlich“, heißt es auf spiegel.de.
– „Da ist nix mit Idyll. Bei Doris Knecht gibt es kein nur gut oder nur schlecht, da haben alle Personen Risse, Unschärfen und Inkonsequenzen“, schreibt Sonja von lustzulesen.de.
– Auf standard.at könnt ihr ein Interview mit der Autorin lesen.

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_8339„Sie konnte hier nicht weg. Sie war ein Moos, das nur an diesen Mauern hielt“
„Sie schien ihr Haus nicht zu besitzen, es war wohl eher andersrum. Vera gehörte diesem Haus.“ Dabei ist die alte Frau hier gar nicht geboren, sondern durch ungewöhnliche Umstände zu dem Haus im Alten Land an der Elbe gekommen: Zusammen mit ihrer Mutter Hildegard stand sie 1945 im Alter von fünf Jahren als Flüchtling aus Ostpreußen vor der Tür – und war nicht im Geringsten willkommen. Hildegard heiratete kurzerhand Karl, den einzig übrig gebliebenen Sohn, schwer traumatisiert vom Krieg, doch sie hatte weder für ihn noch für das Leben auf dem Land Geduld. Sie lässt ihre Tochter bei ihm zurück, als sie weiterzieht, und so geht Vera eine Verbindung ein, kümmert sich um Karl, hält Wache in dem alten Haus, das voller Stimmen ist und sie nie schlafen lässt. Sie ist eigensinnig und störrisch, unbeliebt und zutiefst einsam. Da stehen viele Jahre später erneut zwei vor der Tür, die Zuflucht suchen: Veras Nichte Anne mit ihrem Sohn Leon. Sie kommen aus einem Hamburger Wohlstandsviertel, wo Anne soeben grandios an dem Versuch gescheitert ist, mit Christoph Vater, Mutter, Kind zu spielen. Sie steht ratlos vor den Scherben ihres Lebens, das nicht so verlaufen ist wie gedacht: Aus dem einstigen Musiktalent wurde eine Tischlerin. Nun zieht sie zu Vera aufs Land, wo viele Aussteiger sich in Manufactum-Jacken und mit selbstgekochter Marmelade von den Strapazen des Lebens in der Upper Class erholen, und macht sich daran, Veras Haus zu renovieren. Doch jede Veränderung an dem alten Gemäuer bewirkt auch eine Veränderung an den Menschen, die darin leben.

Da ich nicht weiß, ob ihr diese Rezension bis zum Ende lesen werdet, rufe ich jetzt sofort: LEST DIESES BUCH! Unbedingt! Es ist grandios, herrlich böse, schlau, witzig und verdammt gut – für mich sogar das bisher beste Buch in diesem Frühjahr. Für alle, die jetzt noch weiterlesen, kann ich meine Begeisterung noch ein wenig vertiefen und versprühen: Die Journalistin Dörte Hansen, selbst mit Plattdeutsch aufgewachsen, erzählt in ihrem ersten Roman auf erstaunlich schlichte Weise eine überaus vielschichtige Story: Wehmut und Sehnsucht schimmern darin, sie gehen einher mit dem Älterwerden und Zurückblicken, ihnen gegenüber stehen Durchbeißen und Hoffen, Weitermachen, Anpassen. Gewürzt wird diese höchst menschliche Zusammenstellung mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus – und so schmeckt es mir am besten. Dörte Hansen kann alle Töne: die leisen, fast lautlosen, die wütenden, die perfiden. Virtuos entspinnt sie ihre Fäden, wickelt mich darin ein, sodass ich schneller und schneller umblättere und ihre Sätze inhaliere.

Vera ist ein Kaliber von Frau, außen hart und unnahbar, innen schwer verwundet. Schicht für Schicht wird sie entblättert, der vergebliche Wunsch nach der Aufmerksamkeit der Mutter taucht auf, die einstige Liebe zu Heinrich, der seit Jahrzehnten ihr Nachbar ist, die Angst vor ihrem Haus, das sie dennoch nicht verlassen kann. Anne ist viel weicher, nachgiebig, orientierungslos und sehr, sehr wütend – aber nur nach innen. Sie verabscheut die Hamburger Supermamis – und wirkt in dem Dorf im Alten Land selbst wie eine dieser 08/15-Großstadtmütter. Voller Ironie zeichnet Dörte Hansen die Figuren, die sich dort an der Elbe tummeln: die ehemaligen Werber und Banker, die auf dem Land plötzlich das „echte Leben“ zu entdecken meinen, allen voran Burkhard Weißwerth, die Bauern, die mit Gift düngen und die alten Fachwerkhäuser kaputtrenovieren – und beide Gruppen machen sich mit Vorliebe über die jeweils andere lustig. Wie die Autorin mit ihrem Burkhard verfährt, ist schlichtweg genial. Genau wie dieses ganze Buch, das ich dermaßen gut fand, dass es mir vorkommt, als sei es nur für mich allein geschrieben worden. Stimmt natürlich nicht. Ihr dürft es auch lesen. Tut es!

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Altes Land von Dörte Hansen ist erschienen im Knaus Verlag (ISBN 978-3-8135-0647-1, 288 Seiten, 19,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Dieser Roman ist wohltuend anders. Keine Romantik. Klischeefrei. Starke, knorrige Charaktere. Eine Geschichte, die lange nachklingt, wie das Ächzen und Knarren in dem großen dunklen Bauernhaus“, zeigt sich ndr.de begeistert.
– „Alle Figuren in meinem Buch haben irgendwie mit dem Thema Heimat zu tun“, sagt Dörte Hansen im Autorentrailer.

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_8241Ein 4.-Juli-Feuerwerk an Geschichten
Sie sind keine Amerikaner, denn ihre Wurzeln liegen in Weißrussland oder Israel, aber sie leben in den Staaten, sind ausgewandert, geflüchtet, oder wollen dorthin reisen. Amerika ist der rote Faden, von dem die unamerikanischen Figuren in Molly Antopols Geschichten zusammengebunden werden. Da ist der israelische Soldat, dem ein Bein abgenommen wird und dessen Freundin die geplante USA-Reise mit seinem Bruder antreten will, da ist der alternde Mann mit weißrussischen Wurzeln, der eine jüngere Frau heiratet und auf der Hochzeitsreise nach Kiew verliert, und da ist der nachlässige Vater, der mit Frau und Kind aus Prag geflohen ist und Jahre später Angst vor dem hat, was die Tochter in einem Theaterstück über ihn auf die Bühne bringen wird. Das ist übrigens meine Lieblingsgeschichte. Oder doch die Story von Talia und Tomer, die sich zum falschen Zeitpunkt ineinander verlieben? Oder die Geschichte von Alexi, der nach einem Jahr Gefängnis seinen Sohn zum ersten Mal wiedersieht … Ich kann es nicht sagen, ich mochte sie alle, jede Story, jede Seite, jeden Satz – ein ganzes Lieblingsbuch ist das geworden, von vorn bis hinten. Ein neues Juwel in meiner Ich-entdecke-Kurzgeschichten-für-mich-Schatzkiste.

Aufgefallen ist mir Die Unamerikanischen von Molly Antopol in der Frühjahrs-Vorschau von Hanser Berlin, allerdings nicht wegen des (ja doch eher hässlichen) Covers, sondern weil die Autorin so hübsch ist. Da musste ich zweimal hinschauen, das wollte ich lesen, und als Hanser-Lektorin Tatjana Michaelis beim Bloggertag genauso von den Erzählungen schwärmte wie die Klappentexterin, war ich sowieso schon total angefixt. Und Molly Antopol kann all diese hohen Erwartungen erfüllen – mit Leichtigkeit und mit Verve. Sie schreibt klug und pointiert, beweist eine erstaunlich scharfe Beobachtungsgabe und ein feines Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen. Ihre Geschichten regen ebenso zum Nachdenken wie zum Schmunzeln an, denn sie scheinen mir bei aller Ernsthaftigkeit auch ein bisschen zuzuzwinkern. Was kann ich noch sagen, damit ihr dieses Buch lest? Denn ich will unbedingt, dass ihr es tut! Es ist großartig, schön, wehmütig, intelligent und einzigartig. Ihr werdet es nicht bereuen, ich verspreche es.

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Die Unamerikanischen von Molly Antopol ist erschienen bei Hanser Berlin (ISBN 978-3-446-24771-0, 320 Seiten, 20,50 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_8167„We call them feelings because we feel them. They don’t start in our minds, they arise in our bodies“
Dies ist die Geschichte von Rosemary und ihrer Schwester Fern, von ihrem Vater, dem Wissenschaftler, und von ihrem Bruder, dem Aktivisten, der vom FBI gesucht wird. Dies ist die Geschichte eines Experiments, wie es in den 1970er-Jahren beliebt war, und eines Vorfalls, der alles veränderte, als Rose fünf Jahre alt war. Dies ist eine Geschichte von Menschen und Tieren und all den unfassbaren Grausamkeiten, die die einen den anderen antun. Dies ist eine Geschichte, die euch das Herz brechen wird.

Ich habe mir sagen lassen, dass der deutsche Klappentext verrät, worum es in Karen Joy Fowlers siebtem Buch geht. Beim englischen Original ist das nicht der Fall. Theoretisch hätte ich es wissen können, aber vom Auf-die-Wunschliste-Legen über das Kaufen bis hin zum Lesen hab ich es längst vergessen. Umso größer war meine Überraschung nach dem ersten Drittel des Buchs, und das war ein so grandioser strategischer Zug der Autorin, dass ich mir wünschte, ihr könntet ihn ebenso erleben. Deshalb werde ich nicht spoilern. Trotzdem möchte ich euch meine absolute Begeisterung für dieses Buch näherbringen. Es ist ein Porträt der Menschlichkeit und dem, was wir dafür halten, ein schmerzhaftes Aufdecken all der Verbrechen, die wir an Tieren begehen. We are all completely beside ourselves ist ein aufwühlender, intensiver Roman, eine Anklage, versteckt in einer guten Story, die vor allem von ihrem perfekten Aufbau lebt – weil er die Geheimnisse lange wahrt.

Erzählt wird diese Story von der jungen Rosemary, die sich zu erinnern versucht an ihre Schwester und deren Verschwinden, an ihre eigene Schuld und die schrecklichen Folgen. Aber ist es wirklich so geschehen, wie sie glaubt? „An oft-told story is like a photograph in a family album, eventually it replaces the moment it was meant to capture.“ Doch dann setzt sich das Puzzle langsam zusammen, und auf der letzten Seite, ja, da hab ich tatsächlich angefangen zu weinen. Und ein Buch, das das schafft, ist etwas Besonderes, eines, das ich so schnell nicht vergessen werde. Dieser Roman ist wie ein Schlag ins Gesicht, zutiefst beschämend. We are all completely beside ourselves zeigt, wie anmaßend, dumm und skrupellos wir Menschen sind. Könnte jeder ihn lesen, würde die Welt vielleicht ein bisschen besser werden.

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Auf Deutsch erscheint das Buch im Mai im Manhattan Verlag unter dem Titel Die fabelhaften Schwestern der Familie Cooke. Bekannt wurde die Autorin vor allem durch ihr Buch Der Jane Austen Club.

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_7746Leben mit der Todesangst
Ada ist 25 Jahre alt, ausgebildete Schauspielerin, schön, eigenständig, klug. Und Ada hat Angst. Die Angst ist größer und stärker als Ada und hat die junge Frau so sehr im Griff, dass ihr zunehmend das Leben durch die Finger rutscht. Ada kann nicht schlafen, sie kann die Vorsprechen, zu denen sie eingeladen wird, nicht wahrnehmen, sie hat kein Geld, kaum Freunde, und die rosigen Aussichten werden auch immer weniger. Da Ada mit der Miete im Rückstand ist, bekommt sie völlig überraschend einen Mitbewohner in die Wohnung gesetzt: den jungen Goldschmied Juri, dessen Vater gestorben ist. Ada ist entsetzt und tut alles, um den Eindringling loszuwerden. Mit stoischer Geduld erträgt Juri ihre Kapriolen – bis es ihm reicht. Und erst da erkennt Ada, dass es so nicht weitergehen kann und dass es eigentlich die Angst ist, die sie endlich loswerden sollte …

Die Schweizer Autorin Simone Lappert nimmt mich in Wurfschatten mit auf eine ebenso unheimliche wie faszinierende Reise: in den Kopf eines Menschen, in dem ich Gedanken und Gefühle finde, die es in meinem eigenen Kopf nicht gibt. Das ist für mich extrem befremdlich und verstörend. Als Mensch, der sich überhaupt nix scheißt, möchte ich Ada am liebsten – ganz klischeehaft – schütteln und sagen: Mädel, was ist los mit dir? Andere haben Ebola, wo ist dein Problem? Aber mir ist natürlich klar, dass so eine Angst, wie Ada sie mit sich herumschleppt, genau das Gegenteil von rational ist und dass man sie nicht einfach so abschütteln kann. Genial finde ich die Idee der jungen Autorin, die bereits für ihre Lyrik ausgezeichnet wurde, ihrer ängstlichen Heldin einen fremden Mann in die Wohnung zu setzen und zu sagen: Na, Ada, was machst du jetzt? Das ist spannend, schafft Konfliktpotenzial und macht aus der Beschreibung eines von Angst gebeutelten Menschen eine echte Geschichte. Gekonnt weicht Simone Lappert dabei den Klippen der Klischees aus und schildert die Annäherung ihrer zwei Protagonisten so erfrischend, schön und unbedarft, dass ich ihr fast glaube, sie hätte das Ganze neu erfunden.

Wurfschatten ist ein kluges, kraftvolles und dabei doch leises Buch, das mit seinem ausgezeichneten Sprachstil aufhorchen lässt. Sehr elegant führt Simone Lappert ihr ängstliches Mädchen durch dieses Buch, sie hat Literarisches Schreiben studiert und weiß mit dem Werkzeug Sprache umzugehen. Ihre Sätze sind fein geschliffene Kunstwerke und übertreiben niemals, sehr klar und unbedarft kommen sie des Weges. Ein wunderbarer, lebensbejahender, grandioser Roman, den ich euch dringend empfehlen möchte.

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Wurfschatten von Simone Lappert ist erschienen im Metrolit Verlag (ISBN 978-3-8493-0095-1, 207 Seiten, 20 Euro).

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Noch mehr Futter:
– „Simone Lappert kann mit Worten jonglieren, sie nähert sich Ada auf behutsame Weise, kleidet in sprachliche Bilder, was sonst schwer zu erklären ist“, schreibt Sophie von Literaturen.
– „Wurfschatten ist ein wunderbar poetischer Roman. Eine Liebesgeschichte, die ganz zögerlich beginnt. Mit einem Flair für komische Situationen erzählt Simone Lappert leicht und beschwingt, wie die Heldin wieder langsam beginnt ins Leben zurückzufinden“, heißt es auf srf.ch.
– „Simone Lappert erzählt in ihrem Debütroman eine ungewöhnliche Girl-meets-boy-Story, durchaus morbide, doch dabei seltsam zärtlich“, erklärt Spiegel Online.
Hier könnt ihr der Autorin beim Lesen zusehen.
– Und hier könnt ihr den Roman bei ocelot.de bestellen.

Für Gourmets: 5 Sterne

Haas„So zufrieden waren die Leute früher auch nicht. Aber sie sind gestorben, bevor sie es bemerkt haben“
Eigentlich ist der Brenner ja selber schuld. Weil er schon gewusst hat, dass das in die Hose geht, wenn er sich im Internet eine Russin anlacht. Aber er ist halt auch nur ein Mann. Und die Nadeshda unglaublich schön. Model Hilfsausdruck. Da kann der Brenner nicht aus, der Kriminalpolizist i. R., und so fährt er nach Nischni Nowgorod, wo er von einem Kind bewusstlos geschlagen wird. Und dann auch noch die Schwester von der Nadeshda. Die soll er suchen. Weil die vielleicht in Wien zwangsverprostituiert wird. Jetzt könnte dem Brenner die Herta, seine neue alte Lebensgefährtin, die er wiedergetroffen hat, das eigentlich ausreden. Aber interessant. Die wandert neuerdings gern durch Marrakesch oder sucht in der Mongolei ihr Krafttier und ist eh angetan davon, dass der Brenner eine Aufgabe hat. Der ist ja auch prädestiniert für den Fall: „Weil nach neunzehn Jahren Polizei erkennst du natürlich nicht jeden Kriminellen auf den ersten Blick, aber es gibt eindeutige Fälle. Wenn die fiese Visage zusammenkommt mit dem speziellen Muskelaufbau, den du nur von den Klimmzügen an einer Zellentür kriegst, dann weißt du als erfahrener Kripomann, dass du nicht den Radwegebeauftragten der Stadt Wien vor dir hast.“ Weswegen der Brenner sich jetzt mit abgehackten Händen und der Fremdenpolizei beschäftigen muss. Das macht ihn saugrantig. Weil: „Wenn du im Internet einen Riesensex ohne Verantwortung gesucht und als Ergebnis eine Riesenverantwortung ohne Sex gekriegt hast, dann bist du vielleicht bei den Kleinigkeiten überempfindlich.“ Aber wie gesagt, selber schuld. Nur: „Zum Glück waren ausweglose Situationen immer schon das, wo der Brenner erst auf Betriebstemperatur gekommen ist.“

Der Wolf Haas ist mir ein bisserl passiert. Ich bin nämlich eigentlich kein Brenner-Fan, weil nur den ersten und den bisher letzten Teil gelesen. Aber Das Wetter vor 15 Jahren – absolut genial. Und ein bisserl Verbundenheit zum Wolf Haas, weil am selben Institut studiert. Und mein Professor mir immer vorgeschwärmt von ihm. Außerdem noch: der Josef Hader. Also der ist ja eigentlich der bessere Brenner als der Brenner selber. Und ich mir – ganz untypisch als Bücherwurm – alle Filme angeschaut. Und mich ein bisserl verliebt. In den Hader halt, obwohl der alt ist, aber mein Humor. Und somit in den Brenner. Indirekt also in den Haas. Und somit in seinen Sprachstil, weil wenn du einen Brenner-Roman liest, kommst du um die eigenwillige Sprache nicht herum. Wo der Haas jetzt schuld ist, dass alle Deutschen denken, die Österreicher reden so. Also Bloßstellung nix dagegen. Dabei ist das ein Schmarrn. Weil ich zum Beispiel könnt das gar nicht.

Aber das Buch. Das solltet ihr lesen. Allerdings nur, wenn ihr den Brenner schon kennt. Wenn nicht, ist das eigentlich noch besser: Dann könnt ihr alle anderen Brenner-Bücher noch vorher lesen. Und euch dann beschäftigen mit dieser höchst amüsanten Geschichte rund um Tätowierungen in fremden Sprachen, einen Streit zwischen Schwestern und einen schamanischen Ochsen. Der Haas, der hat nämlich ein ganz merkwürdiges Talent: Der schreibt komplett haarsträubende Geschichten, und ich glaub sie ihm trotzdem. Und lachen muss ich auch noch dabei. Deswegen passiert jetzt Folgendes: Ich warte auf den nächsten Roman. Weil angefixt. Und ihr lest diesen hier. Pflichtlektüre! Ob ihr es glaubt oder nicht. Gutes Buch quasi Hilfsausdruck.

BannerBrennerova von Wolf Haas ist erschienen bei Hoffmann und Campe (ISBN 978-3-455-40499-9, 240 Seiten, 20 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Der Journalist, der in Brennerova eine Rotlichtzeitung betreibt, war ursprünglich als Hauptfigur konzipiert. Nach und nach ist aber der Tätowierer, der bloß eine Nebenfigur war, immer interessanter geworden. Also musste ich den Journalisten entsorgen“, erklärt Wolf Haas in diesem sehr amüsanten Interview auf welt.de.
– „Aber so ein Haas langweilt nie, auch nicht sich selbst, auf jeder Seite bietet er wie stets Überraschungen und Spannung, sodass man beim Lesen immer gieriger wird“, heißt es in dieser Rezension auf kurier.at, in die auch Videos vom Haas beim Lesen eingebaut sind.
– „Auch die oft abgründigen Doppeldeutigkeiten gehören seit dem ersten Fall zum festen Repertoire. Das Meiste im mittlerweile achten Brenner-Roman ist nicht neu, funktioniert aber noch immer“, zeigt sich auch die sueddeutsche angetan.
– Und hier solltet ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Für Gourmets: 5 Sterne

Hartwell„Ich werde dir ein Schiff schicken und einen Ritter“
Marie ist eine junge Studentin ohne Freunde, ohne Sozialleben, ohne großes Ziel, ohne Arbeit, die offiziell an ihrer Doktorarbeit schreibt, in Wahrheit aber nichts tut. Bis zu dem Tag, an dem ihr Jan auf den Kopf fällt. Denn dann fängt sie an, ihn zu lieben. Jan ist Fotograf und ein verschlossener Mensch, dem der Vater abhandengekommen ist, der nicht viel redet und dennoch eine intensive Präsenz hat. Die beiden lieben sich, stumm und innig, und als das Leben ihnen ein Bein stellt, splittet sich ihre Geschichte auf, erzählt sich auf dieselbe Weise immer neu, als hätten Jan und Marie viele Leben, in denen sie stets aufeinanderträfen: Sie sind Moira und Jonas in der verschwindenden Wechselstadt, in der Häuser sich auflösen und Menschen in ihre Atome zerlegt werden. Sie sind Augustine und Jacques in der berühmten Salpêtrière, der Pariser Nervenheilanstalt, hysterisch, ausgeliefert, in Gefahr. Sie sind ein Prinz und ein Ritter, sie sind ein Mädchen und ein Junge auf zwei Inseln, zwischen denen das Meer liegt, sie sind eine Spiritographin und ein Toter. All diese Geschichten sind anders, und doch haben sie vieles gemeinsam: den Schnee, den Verfolger, den nahenden Tod. Und immer ist es Marie, die Jan retten muss.

Von Katharina Hartwells Roman Das fremde Meer hatte ich im Vorfeld viel gehört, denn er hat ein lautes Echo in der Presse erklingen lassen. Das setzt die Erwartungen natürlich sehr hoch. Als ich den Roman schließlich zu lesen beginne, habe ich sofort jenes untrügliche, prickelnde Gefühl, dass ich auf ein Juwel gestoßen bin. Ich weiß wie ein alter Schatzsucher, dass mich goldene Worte und glitzernde Geschichten erwarten. Und ich behalte Recht. Die junge deutsche Autorin, die 1984 geboren wurde und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert, zeichnet vor mir ein rätselhaftes Bild, setzt ein Mosaik zusammen, aus Splittern, das erst nach und nach Sinn ergibt und immer klarer sichtbar wird. Sie entblättert eine Rose, und jedes Blütenblatt ist eine eigene Geschichte, steht für sich – und gehört doch zur selben Blume. Im Romankomplex ist jede Story eine Metapher, und zusammengehalten werden sie von vielen kleinen Metaphern, vielen roten Fäden: Wasser, Krankheit und Bedrohung kommen immer vor, ebenso wie eine geradezu unheimliche Anziehungskraft, ein Wiedererkennen, ein Band, das sich nicht kappen lässt, in keinem einzigen Leben.

Hätte Katharina Hartwell die Geschichte von Jan und Marie einfach so erzählt, wäre sie bestimmt sprachlich eloquent, vermutlich aber auch banal gewesen. Sie aber als Hauptmotiv an den verschiedensten Orten und zu unterschiedlichen Zeiten zu spiegeln, angesiedelt zwischen Traum und Wirklichkeit, lässt ein wahres Feuerwerk der Fantasie explodieren, ein Rätsel, ein Märchen. Das ist originell, klug, sehr durchdacht, gut konstruiert und vor allem wahnsinnig toll zu lesen. Jeder Satz sitzt, jeder Vergleich ist stimmig, jede zugefügte Wunde brennt. Die Autorin tobt sich aus, scheut nicht vor Legenden und Klischees zurück, um sie neu zu interpretieren und noch besser zu erzählen. Geister wandern durch dieses Buch, die Toten haben eine Stimme, das Lebendigsein ist nicht den Regeln unterworfen, die wir kennen. Und obwohl alles transparent ist, bleibt es bis zum Schluss spannend und lesenswert. Eine alltägliche Liebe, die in Wahrheit ebenso groß ist wie jede Liebe aus der Literatur, aus den Märchen, den alten Überlieferungen.

„Ich wünschte, du wärst kleiner. Nicht größer als ein Daumennagel. Ich wünschte, du wärst leichter. Ganz aus Aluminium gefertigt. Ich wünschte, du wärest so klein und leicht, dass ich dich zusammenfalten und bei mir tragen könnte. Ich wüsste sicher, dass du gut verwahrt bist und geschützt vor der Welt. Den Schlag deines stecknadelgroßen Herzens, ich hätte ihn immer im Ohr. Wir wären nie getrennt.“ Dies ist ein besonders wertvolles Buch – ein Schatz. Und für mich schon jetzt mit absoluter Sicherheit das beste Buch, das ich in diesem Jahr gelesen haben werde.

BannerDas fremde Meer von Katharina Hartwell ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1137-4, 576 Seiten, 22,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– Wie ihre Protagonistin leidet auch die Autorin an unbegründeten Ängsten.
– „Dass Katharina Hartwell schreiben kann, lernt man schon auf den ersten Seiten ihres Debütromans Das Fremde Meer – wie klug sie eine Dramaturgie aufbaut, lernt man spätestens auf den letzten, traurigen Seiten ihres Romans“, heißt es auf spiegel.de.
– „Katharina Hartwells Sprache ist packend, trifft punktgenau das Herz des Lesers und schickt ihn auf eine Reise durch ein fremdes Meer“, schreibt Sophie von Literaturen in ihrer Besprechung.
– „Kein Buch hat mich dieses Jahr so sehr bewegt und beeindruckt wie dieses“, sagt Caterina von SchöneSeiten.
– „Katharina Hartwell erzählt ihren Roman mit ganz leisen und zarten Tönen und schreibt sich mit ihren Worten direkt hinein in das Herz des Lesers“, schwärmt Mara von Buzzaldrins Bücher.
– Hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Für Gourmets: 5 Sterne

StrickerVon einer, die alles konnte – außer zu lieben
„Als die Liebe dann endlich doch zuschlug, und diesmal richtig, mit voller Kraft, dabei so gut getarnt, dass sie mit bloßem Verstand nicht zu sehen war, traf sie meine Mutter völlig unvorbereitet. Das ist wie mit den Windpocken. Wenn man die nicht beizeiten hinter sich bringt, geht man fast daran ein.“ Und in Sachen Liebe hat die Mutter rein gar nichts hinter sich gebracht: Sie ist unfassbar hässlich. Alles andere, so heißt es, hätte ihr Vater auch nie erlaubt. Der ist Kriegsveteran und Kaufmann, zieht nach dem Krieg einen erfolgreichen Modeladen hoch und steckt all seine Energie in die kluge, talentierte Wundertochter. Und Energie hat er viel, er sitzt nie still: „Er ging nicht, er rannte. Er fuhr nicht, er raste. Er überlegte nicht, er wusste. Vor allem: es besser.“ Dieser Urgewalt hat die Mutter der Erzählerin nichts entgegenzusetzen, sie lässt sich biegen und formen, schlurft durch eine einsame Kindheit, schleppt sich durch eine fürchterliche Pubertät und stabilisiert sich als junge Erwachsene halbwegs: Sie studiert Medizin, arbeitet in des Vaters Bekleidungsgeschäft und zieht mit dem zukünftigen Vater der Erzählerin zusammen, der sie trotz ihrer Hässlichkeit und ihrer unterkühlten Art liebt. Ziemlich einengend liebt. Und ziemlich einseitig liebt. Dann begegnet die Mutter einem dunkelhaarigen Fremden, lässt sich von ihm in einem Häuschen auf dem Spielplatz vögeln – und verfällt ihm komplett. Sie verliebt sich so sehr, dass sie ihr ganzes Leben, alles, was sie zu wissen glaubt, vergisst. „So viel Sorgfalt mein Großvater auch darauf verwendet hatte, meine Mutter auf Begabungen abzuklopfen, ihr größtes Talent war ihm entgangen: das Lügen.“ Viele Jahre später, als sie im Sterben liegt, erzählt die Mutter der Tochter, was damals geschah.

Sarah Stricker gilt, wie ihre Protagonistin, selbst ein bisschen als Wunderkind: Die deutsche Autorin, die in Tel Aviv lebt, ist 1980 geboren und schrieb unter anderen für die SZ, die FAZ und Neon. Für dieses Debüt ist sie bereits mit einem Auszug preisgekrönt und mit vielen lobenden Worten bedacht worden. Ich kann nur sagen: völlig zu Recht. „Nie war Hässlichkeit schöner, Liebe nie gemeiner und Sprache selten so ein Fest wie in Sarah Strickers fulminantem Debütroman“, sagt der Klappentext, und ich stimme absolut zu. Die Geschichte ist originell, sehr bissig, überaus amüsant und vor allem ausgezeichnet erzählt. In klugen, klaren und oft vor Ironie triefenden Sätzen lässt Sarah Stricker eine namenlose Erzählerin das Leben ihrer Mutter abbilden: Eine Tochter berichtet, aber die Gefühle und Erlebnisse sind ausschließlich jene der Mutter. Das ist in meinen Augen ein genialer Schachzug, weil er dem Buch einen schrägen Dreh gibt, wirkt stellenweise aber auch befremdlich – vor allem bei den Sexszenen. Wenn „meine Mutter“ gestoßen wird und stöhnt und seufzt, bin ich doch ein wenig abgeschreckt. Die Ich-Erzählerin selbst geht im Roman völlig unter, was ich schade finde, weil ich sie gern kennengelernt hätte.

Trotzdem habe ich mich in dieses Buch verknallt. Weil es mich genau da erwischt hat, wo ich anfällig bin: im Kopf. Ich stehe auf Sarah Strickers Sarkasmus, schwelge in der bitteren Boshaftigkeit, die sich von den Kriegserlebnissen des Großvaters über die Kundinnen und Verkäuferinnen im Modegeschäft bis hin zu den diversen Liebesszenen zieht und alles einfärbt. Herrlich ist, wie sich die Mutter in einen unattraktiven, uninteressanten Mann mit gelben Zähnen verliebt und sich abstrampelt für ein Fünkchen seiner Aufmerksamkeit. Selten habe ich mich mit einem Buch derart amüsiert. Es ist rasant geschrieben, optimal konstruiert und immer angenehm zu lesen. Ein witziger, intelligenter Roman, der mich perfekt unterhalten hat. Lesen, lesen, unbedingt!

BannerFünf Kopeken von Sarah Stricker ist erschienen im Eichborn Verlag (ISBN 9783847905356, 512 Seiten, 19,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Fünf Kopeken ist ein herrlich vielschichtiger Roman, der seine Figuren trotz ihrer gelegentlichen Überzeichnung ernst genug nimmt, um sie authentisch wirken zu lassen“, schreibt Sophie von Literaturen.
– „Der Ton, der hier angeschlagen wird, heiter, bissig, ironisch, wird, was die Geschichte der Familie Schneider und ihrer größeren und kleineren Tragödien angeht, mit leichter Hand durchgehalten“, heißt es in der Rezension der FAZ.
– In einem Kriegstagebuch berichtet Sarah Stricker aus ihrem Leben in Tel Aviv.
– Hier könnt ihr ihren Roman bei ocelot.de bestellen.

Für Gourmets: 5 Sterne

SonnenbergWenn einer fehlt, dann fehlt er auf der ganzen Welt
Eine Familie: Elise, Chris, Leah und Sophie. Elise, die der Erinnerung an die sexuellen Übergriffe ihres Großvaters entkommen will und sich einen Mann aussucht, der die ganze Welt bereist, um so weit wie möglich wegzukommen. Chris, der Schulsportler, der beruflich erfolgreich ist, ein stolzer, zurückhaltender Mann. Leah, die in Deutschland geboren wird, in London, Amerika, China und Singapur aufwächst, voller Neid auf die kleine Schwester davor und voll unendlicher Trauer danach. Denn Sophie stirbt im Alter von 13 Jahren überraschend. Die anderen drei Familienmitglieder versuchen in Folge, mit ihrem Fehlen zurechtzukommen – an verschiedenen Orten, mit einer Therapie, mit all ihrer Kraft. Doch auch nach vielen Jahren ist ihnen klar, dass es ihnen niemals gelingen wird.

Brittani Sonnenbergs Buch Heimflug ist unglaublich kraftvoll, emotional und intensiv. Die 1981 in Hamburg geborene Autorin mit amerikanischen Wurzeln hat wie ihre Figuren in Asien, Europa und den USA gelebt und unterrichtet momentan an der Universität in Hongkong. Vermutlich kennt sie sich deshalb so gut aus mit dem Gefühl der Heimatlosigkeit und mit dem Vagabundendasein. Gleich zu Beginn fesselt sie mich mit ihrer trittsicheren, stimmigen Sprache und der einzigartigen Perspektive: Im ersten Kapitel erzählt ein Haus. Die Perspektiven wechseln oft, von Ich-Einblicken über fast theaterstückartige Szenen bis hin zu klassisch auktorialen Teilen, und das macht den Roman sehr facettenreich, wenn auch ein wenig unrund. Aber da ich mich ja gerade mit Kurzgeschichten anfreunde, hat mich das nicht gestört. Heimflug ist freilich keine Short Story, sondern ein in sich geschlossener Roman, zusammengestellt aus Fragmenten, aus Flicken, aus Scherben, wodurch sich der Inhalt im Stil spiegelt – und im Gesamtbild ergibt dies das Porträt einer Familie von Expats, die durch den Tod eines Kindes zerbricht und nur noch lose zusammengehalten wird. Das ist in erster Linie beschissen traurig. Die einzelnen Figuren beleuchtet Brittani Sonnenberg von mehreren Seiten, lässt sie selbst zu Wort kommen und zeigt, wie sie durch die Augen der anderen erscheinen. Sie sind verletzt und verletzlich, voll widersprüchlicher Gefühle und dabei vor allem eins: sehr menschlich.

Heimflug ist ein Buch, das funkelt. Es ist liebevoll, zärtlich, brutal und abgeklärt, es duftet nach exotischen Pflanzen, schwitzt vor Hitze, fühlt sich manchmal fremd und manchmal vertraut an. Hier ist eine Autorin am Werk, die es glänzend versteht, das Fremde einzufangen und zu beschreiben, und die genau weiß, was sie mit ihrer Geschichte sagen will. Es geht um die Suche nach der Möglichkeit, sich heimisch zu fühlen, wenn man keine Heimat hat, und um die Frage, was einen auffangen kann, wenn es keinen Boden unter den Füßen gibt. Der Roman hat keinen durchgängigen Erzählstil, aber einen gut erkennbaren roten Faden. Und auch wenn er zum Ende hin ein bisschen abflaut und an Kraft verliert, habe ich jedes Kapitel, jede Seite sehr genossen, ich war emotional beteiligt an der Geschichte und begeistert von der Sprache. Ein Buch, das ich euch ans Herz legen will, denn dort gehört es hin.

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Heimflug von Brittani Sonnenberg ist erschienen im Arche Verlag (ISBN 978-3-7160-2709-7, 336 Seiten, 19,95 Euro).

Was ihr tun könnt:
Brittani Sonnenbergs Website besuchen.
Der Autorin auf Twitter folgen.
Eine Besprechung auf zeit.de lesen.
Erfahren, was Mara von Buzzaldrins Bücher über das Buch denkt.
Euch eine Leseprobe des Romans zu Gemüte führen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.