Bücherwurmloch

„We don’t look like anybody in these books. And nobody looks like us“

Ich mag Bücher, die in der ersten Person Singular geschrieben sind. Dieses eingeschworene „Wir“ macht so einen angenehm gespensterhaften Eindruck – wir im Kollektiv, wir die Toten, die alles wissen – und scheint mich gleichzeitig miteinzuschließen. Daphne Palasi Andreades erzählt in ihrem wohl autofiktional gefärbten Buch vom Aufwachsen in Queens, New York. Die brown girls gehen dort zur Schule, werden ermahnt von ihren Müttern, probieren Klamotten in Umkleiden an, singen Mariah Carey und schwören einander ewige Freundschaft. Sie machen alles richtig, sie halten sich an die Regeln – damit sie ein gutes Leben haben, später. Sie gehen an die Uni und finden Jobs und ermordet wird nur eine von ihnen, sie bekommen Töchter und geben an sie weiter, was sie selbst gelernt haben.

„Brown Gils“ ist ein sprachmelodisches Buch mit kurzen Kapiteln, das in seinem eigenen Beat sehr straight geradeaus läuft. Abzweigungen gibt es keine, Überraschungen ebenfalls nicht. Und ehrlich gesagt auch kaum Handlung. Das ist aber nicht weiter dramatisch, weil Daphne Palasi Andreades uns einen Einblick verschafft in die Gefühlswelt und die erlebte Realität von Mädchen, die in den USA geboren sind und trotzdem dort nicht hinzugehören scheinen, die Rassismus erleben und Mikroaggression, die von weißen Jungs träumen und sich gleichzeitig dafür schämen. Es ist ein überbordendes, lebhaftes, rhythmisches Buch, sehr besonders.

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„Wenn man euch nur in Frieden leben und sterben lassen würde“

„Wale kümmern sich weder um Hoffnung noch um Hoffnungslosigkeit, und auch nicht um Stress. Sie kümmern sich darum zu leben, jeden Atemzug zu nehmen, wie er kommt. Sie bleiben in Bewegung.“

Als ihr Sohn Max zwei Jahre alt war, lebte Doreen Cunningham nach einem Sorgerechtsstreit mit ihm in einer Schutzunterkunft für Frauen. Sie versuchte, sich als freie Journalistin für Umweltthemen über Wasser zu halten, und dann tat sie plötzlich etwas Unerwartetes: Sie nahm einen Kredit auf, räumte das Zimmer im Frauenhaus und ging – in zwei Etappen – mit ihrem Sohn auf eine weite und durchaus gefährliche Reise. Sie wollte mit ihm die Wale sehen, den Walen folgen, sie singen hören.

„Wir haben dem Meer gelauscht. Dieses Buch ist das, was ich gehört habe.“

Doreens Bericht ist nicht unbedingt chronologisch, immer wieder dazwischen erzählt sie davon, wie sie bereits Jahre früher, als sie noch kinderlos und jung war, auf Reisen war und die Wale getroffen hat. Nicht nur sie, auch verschiedene Menschen, darunter einen Mann, mit dem sie nicht zusammensein konnte oder wollte, Angehörige der Inupiat, die seit jeher vom Walfang leben. Dies ist ein Buch über das Gleichgewicht der Natur, das vom Menschen zerstört wird, über Mutterschaft, über Scheitern und Hoffnung und dass wir alle nicht so genau wissen, wie wir es machen sollen, dass wir es aber versuchen, wieder und wieder. Ich fand „Der Gesang in den Wellen“ sehr schön und manchmal sehr langweilig, aber gerade das hat mir irgendwie gutgetan, es braucht nicht immer Action, Spannung und schnelle Schnitte. Vielmehr ist es ruhig und friedlich und klug wie die Wale selbst. Auf jeden Fall lesenswert.

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„niemand steht über den Dingen
wir stehen alle mittendrin“

Sirka war eine der Ersten, denen ich jemals auf Instagram gefolgt bin, ich mag seit Jahren ihren kreativen, ernsten, ehrlichen Content, die Postkarten, die sie macht, ihre Offenheit zu mental health, und wie das immer so ist bei virtuellen „Beziehungen“: Man hat irgendwie das Gefühl, der Person nahe zu sein, sie zu kennen. Das ist natürlich Blödsinn, und dennoch hab ich mich sehr auf Silkas Gedichtband gefreut. An ihrer Lyrik liebe ich, dass sie klar ist und konzentriert und gleichzeitig gewitzt: Wer glaubt, zu wissen, was in der nächsten Zeile steht, wird garantiert überrascht. Die Gedichte sind nicht rührselig und trotzdem emotional, können ein winziges Gefühl so gut in Worte fassen, dass ich vor Ehrfurcht staune. Sie sind bitter und hoffnungsfroh, unvorhersehbar und logisch. Ein Tanz mit Silben, bei dem Bilder entstehen und sich kleine Schmerzpunkte melden, von denen man längst vergessen hat, dass sie existieren. Ein schönes, schmales, liebenswertes Buch.

„wenn der apfel die umarmung ist
bin ich der wurm der ihn zerfrisst“

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Ich hab dieses Buch nach meiner Lesung in Innsbruck von einer Zuhörerin geschenkt bekommen und gedacht: Matriarchale Märchen, aha? Herausgegeben hat es die Burschenschaft Furia, die aus Frauen besteht – und sich aufgemacht hat, das Patriarchat zu stürzen. Als ich dann beschlossen habe, die Märchen gemeinsam mit meinen Kindern zu lesen, hat für uns eine wirklich lustige und interessante Schlafenszeit begonnen: Jeden Abend haben wir uns zwei der Märchen gegönnt, und jedes Mal hatten wir dabei richtig viel zu bereden. Während meine Tochter viel gelacht hat, hatte mein Sohn sehr zu kämpfen, denn in „Die lodernde Lotte“ wird mit allem gebrochen, was wir kennen: Da gibt es Königinnenreiche und mutige Kämpferinnen, schwache Jünglinge und zarte Buben, die nur zum Gemahl genommen werden, wenn sie häusliches Geschick beweisen. Mehr als einmal hat mein Sohn gerufen: „Aber warum sollen die Männer denn immer nur heiraten und Gold spinnen und folgsam sein?“ Das war ein guter Anlass, um darüber zu sprechen, dass genau das (nicht nur im Märchen) von den Mädchen erwartet wird. Gestritten haben wir dabei auch, keine Sorge – und das ist okay. Wie patriarchal unsere altbekannten Märchen tatsächlich sind, fällt erst dann so richtig auf, wenn alles daran umgedreht wird – und wie hervorragend haben die Autorinnen das gemacht! Allein die erste Geschichte, angelehnt an das Sterntaler, hat mir sehr gefallen: Es ist nur drei Seiten lang, schließt aber ganz raffiniert den Gedanken der Selfcare ein und hält ein Augenzwinkern in Richtung Fettphobie bereit. Ich hatte großen Spaß, zum Beispiel mit dem Frosch, der Menstruationsneid hat, oder mit dem Titel „Gretel und ihr Bruder“. Dazu haben wir über die Medien gesprochen, die sehr oft „Herr xy und seine Frau“ schreiben – was meinen Kindern bis dahin gar nicht so bewusst war. In diesem Sinne bin ich der Burschenschaft Furia doppelt dankbar: zum einen für das wunderbare Lesevergnügen, zum anderen für die vielen Gesprächsanregungen. 

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„Es war kein beklemmendes Nichtssagen, sondern vielmehr ein zartes Denken im Duett“

Ich möchte eines gleich vorwegschicken: Die in diesem Band versammelten Erzählungen gehören zu den besten, die ich seit langer Zeit gelesen habe. Sie sind wundervoll, lustig, anrührend und einfach großartig. Ich mag es, wenn gute Short Storys für sich stehen, mit einer Verwirrung aufhören und mich verblüfft stehenlassen, genauso mag ich es aber auch, wenn ich in einem Buch mit Kurzgeschichten immer mal wieder zu den Figuren zurückkehren und erfahren darf, was weiter mit ihnen geschieht – das ist hier teilweise der Fall, und die subtile Verstrickung ist absolut gelungen. Da gibt es beispielsweise Barbara, die den Kühlschrank putzt und über ihren Sauhund von Ehmann nachdenkt, Kirsten, die es bereut, Kinder bekommen zu haben, Maxi, die sich die Haare blau färbt und ihrem Freund was sagen muss, und Paula, die einen Schrank vom Balkon wirft, während vielleicht jemand drunter steht. Verschiedene Frauenperspektiven, Frauenstimmen, Frauenblicke auf die Welt – die manchmal aneinander vorbeigehen und sich manchmal treffen. Es geht um Trennungen, Abschiede und das Älterwerden, es geht um Mutterschaft und das Alleinsein, um Hoffnung und das Schwimmen in kaltem Wasser. Es ist eines dieser Bücher, das so nah an den Frauen bleibt, dass ich mehrmals gedacht habe: Danke dafür. Danke, dass das geschrieben und verlegt wurde, denn das sind exakt die weiblichen Storys, die sonst so oft fehlen. Ich war begeistert, weil ich so einen Spaß beim Lesen hatte, oft geschmunzelt habe und die Geschichten auf angenehmste Weise nett, aber auch herrlich ironisch fand. Etwas Sarkastisches blitzt immer durch, und sprachlich sind sie fein ausbalanciert. Ich möchte jetzt auch unbedingt Sybil Schreibers ersten Erzählband „Sophie hat die Gruppe verlassen“ lesen und hoffe, er ist genauso gut. Große Empfehlung meinerseits!

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„Das Frausein verschmolz mit dem weiblichen Geschlecht und wird darauf reduziert“

Als ich dieses Buch das erste Mal in der Hand hielt, dachte ich: Oha, ganz schön dick. Als ich anfing, es zu lesen, dachte ich: Ja, natürlich ist das dick. Denn Elinor Cleghorn – promovierte Kulturhistorikerin und Feministin – beginnt ganz am Anfang, und die Geschichte der sexistischen Medizin geht genauso weit zurück wie die Geschichte der Medizin an sich. Die Autorin hat selbst ein Autoimmunerkrankung und beschäftigt sich aus dieser persönlichen Motivation heraus mit dem Leidensweg kranker Frauen, die von Ärzt:innen nicht ernstgenommen, falsch diagnostiziert oder gar nicht behandelt werden. Die Reise ins Innere der misogynen menschlichen Medizin beginnt im antiken Griechenland, geht durch das Mittelalter und das 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit, in der sich manches geändert hat, aber so viel dann auch wieder nicht. Von Anfang an wurde der weibliche Körper auf das einzige Organ reduziert, das ihn für die Gesellschaft „interessant“ machte: den Uterus. Was Frauen durch die Jahrhunderte Schreckliches zugeschrieben und Furchtbares angetan wurde, ist kaum zu ertragen.

„Wenn die Bevölkerung wieder wachsen sollte, galt es, Frauen – deren Körper ein „schwaches Werkzeug“ für Empfängnis, Geburt und neues Leben war – zu prüfen, zu regulieren und zu kontrollieren.“

Dies ist ein umfassendes, wichtiges Werk, das zeigt, dass wir nicht irgendwo falsch abgebogen sind, sondern von Anfang an in die falsche Richtung unterwegs waren. Das zu lesen, ist heftig, schmerzhaft, nervenaufreibend und macht wütend. Es ist aber auch ganz simpel ein Beweis für alle Frauen, ein schriftlicher Beweis, dass wir nicht verrückt sind, dass die Ungleichbehandlung, die wir erleben, real ist. Sich zu wünschen, es könnte ein Standardwerk in der Ausbildung von medizinischem Personal werden, ist natürlich müßig, aber ich denke, dass alle diese Bücher, die nun erscheinen, zumindest an den patriarchalen Strukturen nagen. Sie legen schriftlich Zeugnis ab, schreiben die Geschichte so, wie sie wirklich war – und geben uns vor, was wir ändern müssen. Sehr lesenswert!

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„Einem Verständnis dafür, wie es sich anfühlt, ein anderes Tier zu sein, sind wir heute näher als je zuvor …“

„… aber wir haben es anderen Tieren auch schwerer als je zuvor gemacht, überhaupt zu existieren.“

Habt ihr gewusst, dass Schlangen mit der Zunge riechen und ein Wels mit dem ganzen Körper schmecken kann? Dass die Arme eines Kraken teilweise ohne Anweisung vom Gehirn selbstständig auf Erkundungstour gehen können und dass die Rufe der Wale in ruhigeren Zeiten über ganze Ozeane hinweg zu hören waren? Ed Yong erzählt von einer Welt, die unsere ist – und gleichzeitig nicht: Der Wissenschaftsjournalist hat sich der tierischen Sinnesorgane angenommen und zeigt, wie Hummeln Blüten wahrnehmen, dass Vögel sehr wohl riechen können und dass Manatis sich mit den Lippen begrüßen. Dabei berichtet er in der Ich-Form, wie er diese Informationen zusammengetragen und mit welchen Expert:innen er gesprochen hat. Für meine Kinder, mit denen ich dieses Buch teilweise gemeinsam gelesen habe, war es immer wieder erstaunlich, zu erfahren, welche Berufe Menschen haben können: Die einen beschäftigen sich mit Elefantendung, die anderen machen Experimente mit Jakobsmuscheln, um deren Hunderte Augen zu testen. Als Gute-Nacht-Geschichte musste ich filtern, weil das Buch für Kinder freilich zu kompliziert ist – aber sie fanden es so spannend, dass sie trotzdem weiterlesen wollten. Das Fazit ist rasend traurig, denn um die vom Menschen verursachte Umweltzerstörung kommt Ed Yong nicht umhin: Da wir den Lebensraum vieler Tiere verschmutzen und verändern, sind sie bedroht. An viele dieser Veränderungen kann eine Art sich nicht gewöhnen, weil sie zum Beispiel rein organisch nicht in der Lage sind, gewisse Signale zu hören oder zu sehen. Bei über 500 Seiten über die Vielfalt des Tierreichs ist es besonders schmerzhaft, darüber nachzudenken, dass wir Menschen Lebewesen umbringen, die sich über Jahrmillionen entwickelt haben. Ein hochinteressantes, sehr informatives Buch – das euch vieles über Tiere verrät, was ihr garantiert noch nicht wusstet.

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„Da ist noch viel Luft nach oben“

Dies ist ein Buch über Femizide. Das sind Mordfälle, bei denen Frauen getötet werden, weil sie Frauen sind. Fast immer wird die Tat vom (Ex)Partner verübt, nicht von irgendwelchen zufälligen Kerlen im dunklen Park – die wahre Gefahr für Frauen geht von den Männern aus, mit denen sie zusammenleben oder zusammengelebt haben. Österreich führt traurigerweise einige dieser Statistiken an: Weltweit werden Frauen von Männern ermordet, und in Österreich sind wir in Sachen Femizide ganz vorn dabei. Die Journalistin Yvonne Widler wollte herausfinden, warum das so ist. Wann sind wir so dermaßen falsch abgebogen, eine Zeitlang hat es doch ganz gut ausgesehen? Was wurde geändert und wieso wird den Frauen nicht oder viel zu wenig geholfen? Welche Rolle spielen dabei der Staat und die Polizei? Was könnte man besser machen, was müssen wir unbedingt besser machen? Sehr verständlich hat sie das Thema aufbereitet und von der Basis erklärt, sie erzählt von Gesprächen, die sie geführt hat mit denen, die es wissen müssen, mit denen, die zu helfen versuchen, von Recherchen und Besuchen am Gericht. Dazwischen bringt sie wahre Fallbeispiele und berichtet anhand von Tatsachen, was genau Männer Frauen angetan haben – da dreht sich einem beim Lesen der Magen um. Diese Szenen haben mich sehr an den Roman „Gestapelte Frauen“ von Patrícia Melo erinnert, der ebenfalls mit echten, extrem grausigen Berichten arbeitet. So ergänzen sich diese beiden Bücher, ein Sachbuch und ein Roman, auf sinnvolle Weise – beide muss man aushalten können. Aber das ist wichtig, denn wir dürfen uns nicht abwenden, wir dürfen nicht wegschauen, wir haben schließlich selbst dieses System geschaffen, in dem wir leben und in dem so viele, viele Frauen ge- und erschlagen werden, erwürgt und angezündet werden, vergewaltigt und verscharrt werden. Das ist hart, es ist schmerzhaft und bitter, es macht unheimlich wütend. Das soll es auch – wütend genug, dass wir endlich etwas ändern.

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„All die Jahre, in denen ich hätte schreiben sollen, waren meine Hände, mein Selbst mit anderen unentrinnbaren Aufgaben beschäftigt“

Oft wird die Frage gestellt, WARUM denn die Stimmen der Frauen seit Jahrhunderten in der männlich dominierten Literatur fehlen. Wer nach Antworten sucht, stößt auf Tillie Olsen. Wer sich aber nicht mit dieser Thematik beschäftigt, hat wahrscheinlich noch nie von ihr gehört. Und da fängt die Ironie schon an: Diese Autorin, die sich mit dem Verschwinden weiblicher Schreibender beschäftigt hat, ist selbst verschwunden. Jetzt hat der Aufbau Verlag dankenswerterweise ihre Story-Sammlung „Ich steh hier und bügle“ sowie den Essay-Band „Was fehlt“ auf Deutsch herausgebracht (übersetzt von Adelheid und Jürgen Dormagen sowie von Nina Frey und Hans-Christian Oeser). Ich möchte euch beide Bücher dringend ans Herz legen. Vor allem in der Kombination ergeben sie ein stimmiges Bild, ergänzt werden sie von einem Nachwort von Jürgen Dormagen und einem Vorwort von Julia Wolf. Darin enthalten: Informationen zu Tillie Olsens Leben und eine Einordnung ihres vermeintlich schmalen Werks. Warum es bei „nur“ vier Geschichten geblieben ist, die erschienen sind, als Olsen beinahe 50 war, erklärt sich, wenn man ihren Erläuterungen in ihren Essays folgt, von selbst: Care-Arbeit, Lohnarbeit und aktivistische Arbeit (sie war Marxistin und eine Größe der Frauenbewegung) haben ihr die Zeit zum Schreiben genommen, regelrecht geraubt. Dabei hätte sie Erfolg gehabt und später hatte sie auch den Raum dafür, dank verschiedener Stipendien. „Das Schweigen, von dem ich spreche, ist unnatürlich“, schreibt sie 1962, und ja, vielleicht war ihre literarische Stimme tatsächlich verstummt, aber Tillie Olsen hat gelesen. Sie hat recherchiert und geforscht, sie hat gelehrt, unterrichtet und Vorträge gehalten. Flammende, feministische, intersektionale Reden, die ihr nun lesen könnt. Und ich denke nicht, dass das weniger wert ist als Dutzende Romane: Sie, die keinen Schulabschluss hatte, beweist in ihren Schriften Scharfsinn und Weitblick, kann in drei Sätzen brillant erklären, woran das deutsche Feuilleton immer noch scheitert, wenn es „es zählt die Qualität“ murmelt. Do the work!

„Die Wahrheit sagen über die eigenen Erfahrungen als Körper: verboten, unmöglich, jahrhundertelang.“

Lest Tillie Olsen. Lest die Bücher der Frauen, die sie zitiert. Hört hin, schaut hin, seid aufmerksam und offen für einen neuen Blick auf die Literaturgeschichte. Man hat uns nämlich immer nur die halbe Wahrheit erzählt.

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„Ist noch nie ein Vater bei draufgegangen“, sagte der Arzt

Die Familie braucht ein neues Zuhause, weil sie aus der alten Wohnung geworfen wird: So fängt alles an. Also ziehen die Ich-Erzählerin, ihr Mann und die zwei Kinder – später werden es mehr – aus der Stadt in ein günstiges, architektonisch eigenartiges Haus mit Säulen, in dem sie sich bald heimisch fühlen. Mit seltsamen Häusern kennt die Autorin Shirley Jackson sich freilich gut aus: Sie ist eigentlich bekannt für ihre Spuk-Romane. Aber die 1916 geborene Schriftstellerin, die auch für den New Yorker gearbeitet hat, hat eben nicht nur für das Horrorgenre geschrieben – sondern auch für Zeitschriften wie „Good Housekeeping“ und „Mademoiselle“. Sie selbst hat sich abfällig über diese Texte geäußert, so erzählt es die Übersetzerin Nicole Seifert im Nachwort, aber sie wurde dafür gut bezahlt. Alle, die sich mit schreibenden Frauen durch die Jahrhunderte beschäftigt haben, dürfte es überraschen, dass Shirley Jackson den Großteil des Familieneinkommens verdiente, vier Kinder hatte, sich um Haushalt und Ehemann kümmerte – und trotzdem erfolgreich war. Das war (und ist) in dieser Kombination selten, und den hier vorliegenden Geschichten merkt man deutlich an, dass die Autorin weiß, wovon sie spricht.

Es geht um Kindergeschrei und Care-Arbeit, um irrwitzige Dialoge mit dem Ehegatten oder anderen Müttern, um Streiche, zu flickende Hosen und dieses ganze große, liebenswerte Chaos eines Familienlebens. Ich habe gegrinst und genickt, mich an manchen Stellen gelangweilt, und auch das gehört wohl dazu: das Normale, das Alltägliche. Das, wovon kaum erzählt werden durfte und konnte, weil die erlebte Realität von Frauen fast nie Gegenstand von Literatur war. Auch diese Texte galten ja nicht als „Literatur“, und doch: Sie sind es. Sie sind unverblümt und witzig, sie zeigen eine erstaunliche Stilsicherheit, und es ist ein Glück, dass wir sie heute wiederentdecken können, dass sie anders eingeordnet und neu bewertet werden. Ich verstehe gut, warum Shirley Jackson damit eine große Leserinnenschaft für sich gewonnen hat, denn als Frau und Mütter erkennt man sich wieder, hat das Gefühl, eine Verbündete gefunden zu haben in all dem Wahnsinn, nicht so allein zu sein.