Bücherwurmloch

Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert

„Der Begriff arbeitende Frau ist eine Tautologie. Frauen, die nicht arbeiten, gibt es nicht. Es gibt nur Frauen, die für ihre Arbeit nicht bezahlt werden“
Gleich zu Beginn ein Beispiel, eines der vielen, die dieses Buch so anschaulich machen. Im 20. Jahrhundert waren keine Musikerinnen bei den New Yorker Philharmonikern. Sie wurden nicht eingestellt, obwohl, wie es hieß, die Qualität des Spiels ausschlaggebend sei. Dann änderte sich etwas: Mehr und mehr Musikerinnen wurden aufgenommen. Aber wieso? Weil das „blinde Vorspielen“ eingeführt wurde. Es zeigte Wirkung, die Zahl der weiblichen Mitglieder stieg sofort an. Die Frauen wurden ausgewählt, weil niemand mehr sehen konnte, dass sie Frauen waren. Das zeigt, dass wir alle viel stärker von unserem auf Männer fixierten Blick beeinflusst werden, als uns bewusst ist. Wir glauben, wir handeln gleichberechtigt. Aber wir tun es nicht. Dass diese Welt auf Männer ausgerichtet ist, wissen wir. Nur nicht, wie sehr. Deshalb hat Caroline Criado-Perez dieses Buch geschrieben. Sie hat eine Unmenge an Informationen gesammelt und aufbereitet, sie hat Daten erhoben, die nie zuvor erhoben wurden, weil niemand sich dafür interessiert hat.

„Die Menschheitsgeschichte. Die Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte. Die Geschichte der Evolution selbst. Sie alle wurden uns als objektive Fakten präsentiert. In Wahrheit haben diese Fakten uns belogen. Sie alle wurden verzerrt, weil sie die Hälfte der Menschheit nicht berücksichtigen.“

Ob Autounfälle oder Gefahr am Arbeitsplatz, ob Handygrößen oder öffentliche Sportanlagen: Überall werden die Frauen, ihre Bedürfnisse, ihre Körper missachtet. Sie kommen ganz einfach in der Planung nicht vor. Deshalb sterben sie mit höherer Wahrscheinlichkeit in einem Auto, das nicht für sie konstruiert ist. Sie können Sportplätze nicht benutzen, weil sie unbeleuchtet und ungeschützt sind, und das wirkt sich auf ihre Gesundheit aus. Sie sterben an Herzinfarkten, die niemand erkennt, weil die Medizin sich nicht mit der weiblichen Anatomie beschäftigt. Sie haben nicht dieselben Karrierechancen. Sie verdienen weniger. Sie stehen ihr ganzes Leben lang in ewig langen Schlangen vor Toiletten, während die Männer einfach reingehen und pissen – dabei ist die Toilettenfläche für Männer und Frauen gleich groß und somit vermeintlich gerecht. In Wahrheit aber stehen auf derselben Fläche mehrere Pissoirs, es gibt also mehr Pinkelmöglichkeiten, und die Frauen müssen a) sich um Kinder kümmern b) sich um Großmütter kümmern c) während der Periode ihre Tampons wechseln und so weiter.

„Wenn Stadtplaner das Thema Gender nicht berücksichtigen, werden öffentliche Räume im Normalfall zu Räumen für Männer. Doch die Hälfte der Weltbevölkerung hat weibliche Körper.“

Dieses Buch öffnet einem nicht nur die Augen. Es sorgt dafür, dass man sie während der gesamten Lektüre weit aufreißt: vor Überraschung, vor Schreck, vor Jetzt-wird-mir-alles-klar. Am schönsten finde ich, dass die Autorin sich nicht mit Schuldzuweisungen aufhält. Sie betont oft, dass keine böse Absicht dahintersteckt, sondern dass wir vielmehr so sozialisiert sind. Niemand denkt: Oh, wir lassen die Frauen weg, weil wir sie hassen. Sondern sie werden einfach vergessen. Außerdem beweist sie eindrücklich, dass wir alle davon profitieren, wenn die weibliche Bevölkerung in die Planung einbezogen wird, vor allem, weil die vielen Verletzungen und Unfälle ein wirtschaftlicher Faktor sind. Dass die Frauen gleich wichtig sein sollten wie die Männer, ist demnach nicht nur ein emotionales Thema, sondern eine ganz einfache Rechnung.

„Die gesamte Weltbevölkerung bedarf der Fürsorge, die momentan hauptsächlich von Frauen entgeltlos erledigt wird.“

Wann immer ich übrigens von diesem Buch spreche, reagieren die Männer so: „Das ist aber nicht gut recherchiert“, sagen sie und lehnen sich zufrieden zurück. Sie glauben, dass es genügt, wenn sie, die keine Ahnung von dem Thema haben, die sich NOCH NIE damit beschäftigt haben, alle diese eindeutig belegten Beweise von sich schieben. In ihr selbstgefälliges Grinsen möchte ich inzwischen nur noch eines sagen: Go fuck yourself.

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