Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Flender„Das verwackelte Handykamerabild ist die neue Ästhetik der Authentizität“
Thomas Hessel ist jung, skrupellos und ehrgeizig. Seinen Job als ehrlicher Journalist hat er an den Nagel gehängt, um für die Agentur Mars & Jung zu arbeiten. Sie sorgt dafür, dass ihre Klienten in der Öffentlichkeit gut dastehen, auch wenn sie ihre Shirts in Bangladesh von Kindern nähen lassen oder mit giftigem Elektromüll schmutzige Geschäfte machen. Thomas, der sich gegen seinen Konkurrenten Christoph profilieren will, um weiter nach oben zu kommen, beschreibt seine Tätigkeit so: „Wir machen Stakeholderanalyse, arbeiten Akten und Rechtslage durch, bereiten eine maßgeschneiderte Story vor, rekrutieren Testimonials, recherchieren Wissenschaftler, deren Erkenntnisse opportun sind. Faktenorientierte Krisenkommunikation ist das Stichwort.“ Und gefilmt wird mit der Handykamera für Youtube, weil den Hochglanzbildern keiner mehr glaubt. Unehrlichkeit siegt, und Thomas fühlt sich obenauf. Aber kann jemand, der einen Fake nach dem anderen produziert, noch an etwas Echtes glauben, an etwas Echtem festhalten? Hilflos muss er zuschauen, wie seine Beziehung den Bach runtergeht und seine beruflichen Träume sich zerschlagen. Denn wer anderen eine Grube gräbt, fällt manchmal in deren noch viel größere Grube …

Ich arbeite in der Werbung. Allerdings texte ich für Kunden, deren Produkte keine Lügen erfordern, Porsche, Skiny Underwear, Berger Schokolade, sondern nur gute Formulierungen und fetzige Ideen. Die Mechanismen hinter der fiktiven Agentur Mars & Jung sind mir aber freilich nicht fremd. Deshalb habe ich Greenwash, Inc. mit großem Amüsement bezüglich des Arbeitsalltags, der Eitelkeiten und der Machtspielchen gelesen. Aber auch mit ebenso großem Entsetzen angesichts der skrupellosen PR-Maschinerie, für die ein Menschenleben nichts zählt. Außer natürlich, es taugt für eine gute Geschichte. Der junge deutsche Autor Karl Wolfgang Flender hat nicht nur Literarisches Schreiben studiert, sondern auch Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation. Er hat also von beidem Ahnung: dem, worüber er in Greenwash, Inc. schreibt – und wie er es macht. Beides ist ihm gelungen, sein Roman hat mich sofort mitgerissen und ich konnte ihn – im Freibad, mit den Kindern! – nicht mehr weglegen. Abends hatte ich ihn fertig inhaliert.

Ich mag böse, zynische Geschichten. Und da ich generell an starkem Menschheitshass laboriere und uns für den schlimmsten Parasiten halte, den sich die Erde je eingefangen hat, hat diese hier mir besonders gut gefallen. Weil sie zeigt, wie unfassbar dumm, gierig und seelenlos der Mensch ist. Ebenso gut fand ich – wie passend – die dazugehörige PR-Aktion des Dumont Verlags, der Postkarten und einen Shoppingbeutel mit den krassesten Sagern des Buchs verschickt hat. Well done! Thomas ist als Protagonist eine ganz merkwürdige Mischung aus Held und Antiheld. Einerseits forsch und aufstrebend, ist er in anderen Belangen – vor allem bei seiner Freundin – ein totaler Waschlappen. Seine innere Unsicherheit kaschiert er durch ein arrogantes Auftreten – ein Klassiker. Wie ihm dann alles um die Ohren fliegt, ist nicht immer glaubwürdig, aber dennoch unterhaltsam. Er macht keine Entwicklung durch, bleibt am Ende so unwissend und statussymbolsüchtig wie zuvor, eine Marionette, die nichts begriffen hat. Und das erscheint mir durchaus realistisch. Ich habe von diesem Roman nicht erwartet, dass er die Welt bzw. meine Weltsicht verändert oder mir Lösungsansätze aufzeigt, sondern nur, dass er mir ein paar kurzweilige Stunden bereitet, und damit war ich hochauf zufrieden. Freilich kann man dem Buch ankreiden, dass es letztlich wahnsinnig flach bleibt, doch auch das scheint mir passend: Weil alles, worum es in Greenwash, Inc. geht, Schall und Rauch ist. Zu hoffen bliebe, die dargestellten Methoden seien nur Fiktion, doch das ist natürlich naives Denken. Bestimmt sind die heraufbeschworenen und beschriebenen Szenarien längst Realität. Ein Grund mehr, diesem Buch viele Leser zu wünschen.

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Greenwash, Inc. von Karl Wolfgang Flender ist erschienen im Dumont Verlag (ISBN 978-3-8321-9764-3, 392 Seiten, 19,99 Euro). Die Meinungen zum Buch gehen auseinander: Während es zum Teil große Kritik einstecken musste, gibt es auch begeisterte Stimmen. Buchrevier zeigte sich beispielsweise angetan, Brasch & Buch dagegen enttäuscht.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

BjorkAlle für einen
„Aus der Ferne war das Auerhaus ein Bauernhaus wie die anderen.“ Aber für sechs Freunde, die kurz vor dem Abi stehen, ist es mehr: Es ist das Haus, in dem sie gemeinsam wohnen, unbeaufsichtigt von Erwachsenen. Dazu kam es eigentlich nur, weil Frieder sich umbringen wollte und danach in der Klinik war. Um auf ihn achtzugeben, zieht sein bester Freund Höppner mit ihm zusammen und bringt seine Freundin Vera mit, die aber nur darf, wenn Cäcilia auch kommt. Für das Quartett beginnt eine gute Zeit, sie hören Musik und reden stundenlang, sie perfektionieren das Klauen, um immer was zu essen zu haben, sie lernen für die Schule. Später ziehen noch der schwule Harry und Pauline ein, die Frieder in der Klappse kennengelernt hat. Keiner ist im Auerhaus allein, und das ist am wichtigsten. Aber die Angst, dass Frieder sich das Leben nimmt, die bleibt, und die Freunde haben permanent das Gefühl, es könnte etwas Schlimmes geschehen. Sie alle haben noch nicht viel gelebt und sind dennoch schon so kaputt. Was wartet noch auf sie? Lohnt es sich, durchzuhalten?

Wenn ihr euch nochmal jung fühlen wollt, wenn ihr euch erinnern wollt, wie das war, als alles noch vor euch lag, als alles noch möglich war, dann solltet ihr Auerhaus von Bov Bjerg lesen. Der deutsche Autor hat sich dermaßen gut in eine Bande Jugendlicher eingefühlt, dass man glauben könnte, er sei selbst noch 18. Dabei ist er 1965 geboren und lässt eine Zeit aufleben, die die Jugend von heute nicht mehr kennt: ohne Internet, ohne Handy, mit der alten Art von Langeweile und Zusammenhalt, die den 18-Jährigen damals eigen war. Kultur- und musiktechnisch ist Auerhaus in den 1980er-Jahren angesiedelt – der Titel stammt vom Madness-Lied „Our house“, das ein vorbeikommender Bauer ins Deutsche umgemodelt hat –, in denen ich erst geboren bin. So ganz passe ich also nicht in die Zeit, in der Frieder und Höppner, Vera und Cäcilia das Erwachsenwerden üben. Aber ich fühle mich trotzdem zugehörig, denn diese adoleszente Verwirrtheit, dieses Schwanken zwischen Euphorie und Verzweiflung, ich glaube, die ist sowieso generationenübergreifend.

Auerhaus ist in einem wahnsinnig angenehmen Ton geschrieben, man sagt bei Büchern ja gern „es plätschert so dahin“. Das tut es wirklich. Und fängt dabei gekonnt die Stimmungen, Gefühle und Sehnsüchte junger Menschen ein, die sich einerseits auf den Aufbruch freuen und ihn andererseits fürchten. Was wird die Zukunft ihnen bringen, wo werden sie leben, lieben, arbeiten? Und wieso sieht einer von ihnen, mindestens einer, keinen Sinn in alldem, jetzt schon? Bov Bjergs Ich-Erzähler hat darauf freilich keine Antwort, er gibt nur Einblick in seine Unsicherheiten, seine Ängste, seine Wünsche. Und das zu lesen, ist ganz wunderbar: Die Worte haben den richtigen Klang, die Sätze bilden eine Melodie, die erinnert ein bisschen an damals, an das Lied beim ersten Tanz, wisst ihr noch, beim ersten Aufbegehren gegen die Eltern, beim ersten Mal Unabhängigsein.

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Auerhaus von Bov Bjerg ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3351050238, 240 Seiten, 18 Euro). Eine schöne Rezension zum Buch findet ihr Sophie von Literaturen.

Das hier ist nicht Pop. Aber in Wahrheit ist “Auerhaus” viel mehr Pop als die Literatur, die so heißt: Jedes Wort sitzt an der richtigen Stelle, alles, was falsch, überflüssig, bloßer Künstlerquatsch wäre, ist raus. http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article144132251/Zeig-mir-die-Achtzigerjahre-in-zaertlich.html

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

RuttmannEine unvergessliche Begegnung mitten im Krieg
„Immer habe ich gedacht, es kann nicht so schnell gehen zwischen Mann und Frau. Es braucht Zeit und Übereinstimmung und Abwägen und auch Mut.“ Aber als der junge Soldat Max im Dezember 1916 auf die schöne Adèle trifft, braucht es davon gar nichts – und es geht sehr schnell. Der 23-jährige Deutsche, der zuhaus als Drogist arbeitet, ist „Krankenträger des 177. Sächsischen Infanterieregiments in einer kurzen Ruhepause von der Hölle in der Etappe“ in einem besetzten Gebiet in Frankreich. In dieser Funktion sucht er nach Salbei für seine erkrankten Kameraden und sieht Adèle auf einer Holzbank sitzen in einer leuchtend roten Jacke. Es ist sofort um ihn geschehen. Sie hilft ihm, lacht ihn an, und obwohl sie sich kaum verständigen können, herrscht gleich ein tiefes Einverständnis zwischen ihnen. Die Hormone wirbeln, die Körper zieht es zueinander, und bald finden sie sich. Max zwackt Stunden ab, entfernt sich bei jeder Gelegenheit, um zu Adèle zu gehen, und einfach ist das nicht: „Keinen Wimpernschlag lang sollte man vergessen, dass der Soldat nicht Herr seiner Zeit ist, nicht Herr seiner selbst, Herr von gar nichts.“ Und so dauert es auch nicht lang, bis der Krieg Max wieder an sich reißt – aus Adèles Armen.

Die deutsche Autorin Irene Ruttmann, 1933 in Dresden geboren, hat sich mit zahlreichen Kinder- und Jugendbüchern einen Namen gemacht. In ihrem zweiten Roman Adèle beschwört sie den Ersten Weltkrieg herauf, und zwar durch das Tagebuch eines jungen deutschen Soldaten, das nach seinem Tod gefunden wird und Aufschluss gibt über seine Liebe zu einer Französin. Ungestüm ist er und naiv, überwältigt von all diesen Empfindungen, die er zum ersten Mal spürt. Will Adèle ihn nur benutzen, damit er ein wertvolles Gemälde der Familie in Sicherheit bringt? Was ist nach dem Krieg mit ihr geschehen? Und hat sie etwa ein Kind von ihm bekommen? Auf all diese Fragen hat Max nie Antwort erhalten – und ich auch nicht. Denn Adèle ist ein schmales Büchlein von nur 156 Seiten, auf denen kein Platz ist für lange Erklärungen und Auflösungen.

Vielmehr geht es um einen Moment. Um einen Begegnung, einen Kuss, eine rote Jacke. Es geht um die Erinnerung und um die Wehmut, um das Was wäre gewesen, wenn. Und es geht um den Krieg, der so endlos viele Möglichkeiten zerstört hat. Heute, 100 Jahre später, würden Max und Adèle wohl whatsappen oder sich auf Facebook wiedertreffen. Aber in Zeiten wie jenen war ein Abschied ein Abschied für immer. Dies ist eines jener Bücher, die man rasch liest, aber nicht so schnell vergisst. Sehr schön.

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Adèle von Irene Ruttmann ist erschienen im Zsolnay Verlag (ISBN 978-3-552-05738-8, 160 Seiten, 18,40 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Irene Ruttmann hat unbeschreibliche Empathie, die sie so wunderbar an ihren Hauptprotagonisten Max weitergibt und dabei gelingt es so raffiniert unaufgeregt die vollkommen unerwartete Begegnung zweier Menschen in Zeiten des Krieges vorsichtig und klar zu entwickeln, dass selbst die Kriegsszenerie für gewisse Momente so erleichternd unwichtig in den Hintergrund rückt“, schwärmt der Durchleser.
– „Die Stärke von Irene Ruttmann liegt in ihrer einfachen und zugleich eleganten Prosa, in der tiefen Menschlichkeit ihrer Erzählung“, zeigt sich literaturschock.de begeistert.
– „Die Autorin beschränkt sich auf Wesentliches. Die Handlung wird nicht besonders ausgeschmückt. Aber es sind gerade die nicht gesagten Worte, die die Tragik verdeutlichen“, sagt Heike Rau auf leselupe.de.

Gut und sättigend: 3 Sterne

9783832197971.jpg.23296„Wir lernen viel über die Menschen, indem wir uns anschauen, wovor sie Angst haben“
Als die Mutter nach dem Tod des Vaters vor Kummer in einen Wahn verfiel und in die Klinik musste, lebten ihre Söhne, die Zwillinge Jarik und Dima, ein Jahr lang bei ihrem Onkel. Ein Jahr, das den ganz besonderen Zusammenhalt zwischen den Brüdern festigte: „An Djadja Awjas Tisch hatten Dima und er von einem Teller gegessen. In der Badewanne hatten sie sich gegenseitig abgeschrubbt, sich gegenseitig Wasser übergeschüttet, um die Seife abzuspülen. Als sie im Dorf Rugby spielten, hatten sie füreinander geblockt. Und als sie ihre Mutter besuchten, nahmen sie sich gegenseitig an der Hand, drückten fest zu, gingen hinein.“ Damals gab es den einen nicht ohne den anderen, doch das ist lang her: Inzwischen arbeiten die Zwillinge in der Oranžeria, aber in unterschiedlichen Schichten, einer am Tag und einer in der Nacht oder dem, was man früher Nacht nannte, und sie sehen einander kaum. Die Oranžeria ist rund um die Uhr in Betrieb, seit es in Petroplawilsk nicht mehr dunkel wird, weil ein Milliardär Spiegel ins Weltall geschossen hat, die das Sonnenlicht reflektieren. Sie ist gigantisch, Hektar über Hektar, und sie wächst immer weiter. Während Dima all sein Geld spart, um eines Tages des Onkels Bauernhof kaufen zu können und dort mit Jarik zu leben, muss dieser Frau und Kinder ernähren – und gerät in die Fängen der Bärin, wie der skrupellose Milliardär genannt wird. Jarik lässt sich für dessen Zwecke einspannen, Dima wird der politischen Gegenseite zugespült – und die Brüder reiben sich auf zwischen Politik, drohender Gefahr und grenzenloser Sehnsucht nach den unbeschwerten Kindertagen …

Das gläserne Meer des amerikanischen Autors Josh Weil ist ein monumentales, wuchtiges Werk. Und das nicht nur, weil es mit seinen 670 Seiten so schwer wiegt. Es ist ein Wirbelsturm aus Emotionen und Vernunftentscheidungen, aus märchenhaften Sequenzen und der harten Realität, aus Machtlosigkeit und Gier. Er ist ein ausschweifender Erzähler, dessen Stil ein bisschen so wirkt, als würde jemand sprechen, der sich selbst gern reden hört. Mir ist in der Vorschau – Achtung, Sexismus! – das attraktive Gesicht von Josh Weil aufgefallen und ich dachte „Endlich mal ein gutaussehender Autor“, aber sein Buch war mir zu dick. Ich bin nach vielen Jahren mit fetten Schwarten zu der subjektiven Überzeugung gelangt, dass man fast jede Geschichte auf wesentlich weniger Seiten erzählen könnte. Aber dann hat mir der Verlag das Buch geschickt, und ich hab’s gelesen. Zu dick war es mir immer noch. Gekürzt um einige dröge Langeweilestellen, hätte der Roman mit beispielsweise 450 Seiten wesentlich mehr Drive gehabt. Aber gut, das ist so ein persönlicher Spleen von mir. Wenden wir uns lieber dem Inhalt zu.

Der hat es nämlich faustdick hinter den Ohren und ist ein wahrer Reigen an großen, bedeutsamen Themen. Josh Weil hat zwei Brüder genommen, die sich über die Maßen lieben, und hat sie an zwei ideologische Gegenpole gesetzt, hat sie zu Marionetten der Mächtigen gemacht. Dima tut alles, um bei Jarik zu sein, und Jarik tut alles, um ihn von sich fernzuhalten – weil das die einzige Möglichkeit ist, sie beide zu schützen und zu retten. Das Spiel, das der Autor mit seinen Figuren treibt, ist grausam und scheint ausweglos. Kapitalisten, Kommunisten, Hungerleidende und Milliardäre: Ein jeder von ihnen würde über Leichen gehen. Was sie im Showdown, der den Roman wieder aus seiner Lethargie reißt, auch tun. Ich finde Das gläserne Meer generell sehr einfallsreich, originell und mitreißend, auch wenn ich zwischendrin wegen einiger Längen fast die Nerven weggeschmissen hätte. Josh Weil mixt gekonnt Pathos und Kitsch mit der Wirklichkeit einer Gesellschaft, die das Maul nicht vollkriegen kann, die mehr will, mehr, mehr, bis sie platzen wird, ersticken wird an ihrer Gier.

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Das gläserne Meer von Josh Weil ist erschienen im Dumont Buchverlag (ISBN 978-3-8321-9797-1, 672 Seiten, 24,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Waldman„Manchmal fragte er sich, ob er nicht vielleicht ein klein wenig misogyn war“
„Nate und seine Schuldgefühle hatten eine lange und intime Beziehung.“ Kein Wunder, denn Nate ist wohl das, was man gemeinhin unter einem Arschloch versteht. Sein erstes Buch steht kurz vor der Veröffentlichung, und er bewegt sich in der New Yorker Schicht der Möchtegerns wie ein Fisch im Wasser. Die Frauen zeigen sich willig, weil er erfolgreich und attraktiv ist, und er bedient sich gern am Angebot, verachtet sie aber insgeheim alle. Als er Hanna kennenlernt, sieht es zunächst nicht so aus, als würden die beiden eine Beziehung eingehen – doch genau das tun sie. Und es ist natürlich ein Fehler. Weil in Nates Herz für niemanden Platz ist außer für ihn selbst.

Es ist garantiert nicht leicht, ein lesenswertes Buch mit einem überaus unsympathischen Protagonisten zu schreiben. Und ich habe nach reiflicher Überlegung auch nicht das Gefühl, dass es Adelle Waldman zu 100 Prozent gelungen ist. Die amerikanische Autorin hat 2013 mit ihrem Erstling Das Liebesleben des Nathaniel P. für Aufsehen in den USA gesorgt. Vor allem deshalb, weil sie als Frau aus der Sicht eines Mannes geschrieben hat. Nachdem ich dieses angeblich furiose Buch nun gelesen habe, kann ich nur hoffen, dass diese männliche Sicht der Dinge nicht der Wahrheit entspricht – denn sie ist überraschend langweilig. Nate redet wahnsinnig viel. Er führt lange Gespräche mit Frauen und denkt anschließend ausführlich über diese Frauen nach. Tun Männer das? Es erscheint mir zutiefst weiblich. In meinen Augen ist Nate auch nicht unbedingt ein Arschloch, sondern nur sehr egozentrisch, eingebildet und obendrein schlecht im Bett. Er ist einfach eine fade Person, ein wandelndes Klischee. Amüsant ist er durchaus, und das ist auch der vielleicht einzige Grund, dieses Buch zu lesen: Man kann sich lustig machen über Nate, sich daran erhöhen und schmunzeln über einen, der sich extrem geil findet, es aber gar nicht ist. Das wiederum ist ja etwas, das tatsächlich auf die meisten Männer zutrifft.

In den Gesprächen, die Nate und seine Freunde führen, ist es sehr wichtig, welches College jemand besucht hat, wie hoch sein Buchvorschuss ist, in welchem Viertel er wohnt und was seine Eltern machen. Aus diesem Grund sowie wegen der doppelmoralischen, vordergründigen Zurückhaltung wirkt dieses Buch sehr amerikanisch auf mich, sehr befremdlich. Adelle Waldman thematisiert typische Geschlechterrollen und Stereotype, spielt aber nicht damit – leider. Ihr Blick ist frei von Ironie, und das gibt dem Roman eine Ernsthaftigkeit, die ihm nicht steht, weil all das Flirten und Ficken doch letztlich nur ein Spiel ist. Alles an diesem Roman ist klassisch: die Beziehungsanbahnung, das Kommunizieren in Codes, das Verfliegen des Reizes, das Tauziehen um die Oberhand, das Jammern der Frau, das Auf-Abstand-Gehen des Mannes. Das hätte viel spielerisches Potenzial für ein ironisches Augenzwinkern geboten.

In Wahrheit ist Das Liebesleben des Nathaniel P. kein Buch aus der Sicht eines Mannes, es ist ein Buch darüber, was Frauen glauben, dass Männer denken. Denn natüüürlich ist Nate im Innersten einfach nur einsam und hat bloß noch nicht die Richtige gefunden. Was sonst! Und dass er gegen Ende plötzlich doch noch Beziehungsfähigkeit attestiert bekommt, hebelt alles, was davor war, aus, entzieht ihm die Grundlage. Das finde ich sehr schade. Am Ende bleibt zu sagen: Dies ist ein recht unterhaltsamer Roman, aber den Hype drumherum kann ich nicht ganz nachvollziehen.

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Das Liebesleben des Nathaniel P. ist erschienen bei Liebeskind (ISBN 978-3-95438-048-0, 304 Seiten, 19,90 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Selten hat man das Scheitern von Liebesangelegenheiten so konzentriert gelesen wie hier“, schreibt spiegel.de.
– „Nicht zuletzt durch den witzigen Ton der Autorin entpuppt sich diese Geschichte als äußerst mitreißendes und sehr interessantes Unterfangen, nach dem frau den großen Wunsch verspürt, sich unbedingt darüber zu unterhalten“, zeigt sich die Klappentexterin begeistert.
– „Adelle Waldman schreibt witzig, charmant, pointiert und bösartig. Dieser Schreibstil ist es auch, der über Durststrecken des Romans rettet, in denen man ernsthaft darüber nachdenkt, ob man seine Zeit gerade sinnvoller vertun könnte“, schreibt Literaturen.
– „Geschwätzig – das ist es, was mir als erstes einfallen würde, um dieses Buch zu beschreiben. Und hier sind wir wieder da, wo die Los Angeles Times in Ihrer Einschätzung zu diesem Roman grundlegend falsch liegt. Denn wenn es Frau Waldman tatsächlich gelungen wäre, sich so perfekt in einen Mann hinein zu versetzen, dann wäre diese Geschwätzigkeit zumindest zielführender gewesen“, sagt Buchrevier.

Bücherwurmloch

  1. 11781779_1192092407473040_7961144644467498247_nPlötzlich ist da jemand, der die Welt der Fantasie noch nicht kennt. Dem ich die Tür in diese Welt öffnen kann, den ich einladen kann, mir dorthin zu folgen, wo ich seit so vielen Jahren zuhause bin.
  2. Durch das Vorlesen erlebe ich das Lesen neu. Ich teile es. Die Worte sind nicht mehr nur in meinem Kopf, die Geschichte kommt aus dem Buch heraus, alle können sie hören, mitfühlen, an ihr teilhaben. Ich kann meinen Kindern Abenteuer schenken.
  3. Mein Sohn war von Anfang an ein Sitzenbleiber und Zuhörer, und es gibt kaum einen bezaubenderen Anblick als den seines konzentrierten Gesichts, wenn er mit staunenden Augen und offenem Mund einer Geschichte lauscht.
  4. Jeden Morgen, wenn wir alle vier hektisch durch die Wohnung sausen, ich die Kindergartenjause und das Frühstück mache und den Großen wieder und wieder bitte, zieh dich an, iss dein Brot, geh aufs Klo, zieh dich an, verdammt!, steckt seine Nase in einem Buch. Dabei kann er noch gar nicht lesen. Und ich kann nicht schimpfen, obwohl ich kurz vorm Ausflippen bin. Aber ich platze innerlich ganz leise vor Stolz und spüre ein ganz tiefes Gefühl der Verbundenheit.
  5. Durch meine Kinder treffe ich einige der besten Freunde wieder, die ich je hatte: Pipi Langstrumpf, Pumuckl und die kleine Hexe, Mio, meinen Mio, den Räuber Hotzenplotz, Tom Turbo, Michel und Ronja. Sie sind alle noch da, und ihre Abenteuer sind immer noch genauso spannend.
  6. Ich lerne neue Freunde kennen, den Drachen Kokosnuss und Tafiti, Käpt’n Sjarky und Hexe Lilli, Yakari und den kleinen Raben Socke. The more, the merrier!
  7. Ich fülle meine Kinder mit Geschichten ab, bis obenhin. Hier liegen überall Bücher, auf jeder Autofahrt hören wir eins unserer mindestens 50 Hörbücher. Und ich bin wahnsinnig gespannt, was dabei herauskommt. Ob sie später ebenso bibliophil sind wie ich – oder ob kein einziges Buch in ihrer Wohnung steht (Gott bewahre!).
  8. Ich erlebe jedes Buch intensiver. Weil ich ihm die Zeit widme, die ich mir abzwacken muss und die daher sehr wertvoll ist.
  9. Ich entdecke Neues, weil ich nicht mehr so viel Zeit zum Lesen habe. Für mich bedeutet das: Seit ich Kinder habe, lese ich Kurzgeschichten – die mir früher verhasst waren. Damals waren sie mir zu fragmentarisch, ich wollte versinken in einer langen, vielschichtigen Handlung. Jetzt passen sie zu meiner veränderten Lebenssituation, weil ich manchmal zwischendrin ein paar Minuten zum Lesen stehle und gar nicht so tief in einen Roman eintauchen kann und will.
  10. Ich wähle meine Lektüre besser aus, quäle mich nicht mehr durch Bücher, weil ich sie zwar nicht lesen will, aber das Gefühl habe, ich muss. Ich muss nämlich gar nicht.
  11. Ich habe einen anderen Zugang zu Inhalten und besonders zu Gefühlen. Ich verstehe Figuren, die aus Liebe zu ihren Kindern handeln oder einen großen Verlust erleiden, besser. Bücher berühren mich nun mehr.

P. S.: Diese Liste stellt quasi das Gegengewicht dar zur Liste 7 Gründe, warum es fast unmöglich ist, als Kleinkindmama zu bloggen. Und ja, es sind mehr Gründe! War aber nicht Absicht. Das kam einfach so. 🙂

High Five

imageWenn ich eine Figur aus einem Roman wäre, dann wäre ich am liebsten King Kong aus „King Kong – das Buch zum Film“. Nein, im Ernst: Ich mag zum Beispiel Nebenfiguren, die nur einen oder zwei Auftritte haben, aber damit einen starken Eindruck hinterlassen und einer Geschichte eine ganz neue Richtung geben können. So eine wär ich gern.

Ich ordne meine Bücher in fünf Kategorien, die meine Lektürepräferenzen spiegeln. Kategorie A umfasst Autoren, die belletristisch schreiben, noch leben, deutschsprachig sind und die ich persönlich kenne. Kategorie B erfüllt nur die ersten drei Kriterien, Kategorie C nur die ersten zwei und Kategorie D nur das erste Kriterium (das sind demnach vor allem Klassiker). In Kategorie E ist, was übrig bleibt (hauptsächlich Sach- und Fachliteratur). Ich lese jeweils abwechselnd aus jeder Kategorie ein Buch.

Das Cover meines aktuellen Buchs zeigt viel mehr als nur einen Wald, aber viele sehen das erst auf den zweiten Blick. Mit ähnlichen Überraschungen spielt der Roman.

Viel zu selten verwendet wird das Wort … Es fällt mir schwer, diesen Satz abzuschließen, weil er ein Verständnis von Sprache voraussetzt, das ich nicht teile; nämlich, dass Sprache etwas ist, was gepflegt und gesteuert werden sollte, oder sogar eine Sache, der man Gutes oder Schlechtes tun kann. Daran glaube ich nicht. Sprache ist, was sie ist, sie kommt gut allein zurecht und muss nicht in eine bestimmte Richtung geführt werden. Einige Wörter oder Regeln verschwinden, dafür kommen neue hinzu. Dieser Wandel ist hochspannend, und ihn einfach zu beobachten, lohnt sich mehr, als ihn werten zu wollen. Natürlich gibt es trotzdem Wörter, die ich mag. „Wankelmut“ wär so eines.

Das Buch meines Lebens ist ein zerfleddertes Vornamenbuch, das mich schon seit der Kindheit bei der Namensgebung meiner Figuren unterstützt.

IMG_8607Giuliano Musio, 1977 in der Nähe von Bern geboren, wurde schon früh mit Preisen für seine Texte bedacht. 2015 hat er seinen ersten Roman Scheinwerfen im Luftschacht Verlag veröffentlicht (ISBN 978-3-902844-51-4, 404 Seiten, 25,20 Euro). Foto von Affolter/Savolainen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_9066„Wenn man etwas sehr liebt, wird man gefährlich“
„Nie mehr will ich schlafen, wenn ich dafür das Geigen lern“, denkt der junge Ruven, und entgegen aller Widrigkeiten setzt er sich durch, da in seinem Dorf im deutschen Norden, wo das Leben hart ist und er als Sonderling gilt. Der Vater, der Stellmacher, prügelt ihn fast tot, bevor er ihm erlaubt, das Geigen zu lernen, und später entwickelt er sogar Stolz, weil der merkwürdige Sohn, den er nicht verstehen kann, so ein Talent hat: „Und er denkt sich die Töne, als liefen sie weiter, ohne zu verklingen, als hätten sie irgendwo im Weltall einen Platz, an dem sie nie aufhörten.“ Ruven findet Zuflucht in der Musik, findet ein Zuhause, das jedoch äußerst instabil ist: Die Zeiten sind dunkel, sie nehmen ihm den jüdischen Lehrer, und ehe er sich’s versieht, muss Ruven – frisch verheiratet mit seiner Jugendliebe und gerade erst Vater geworden – in den Krieg. Und „was soll das Violinspiel, wenn der Mensch vor Furcht schon nicht mehr singen kann“? Als das Kämpfen zu Ende ist, kann Ruven nicht mehr dort ansetzen, wo er aufgehört hat: Seine Familie ist zerstört, sein Leben liegt in Schutt und Asche, die Musik hat ihren Zauber verloren. Denn: „Der Krieg verdient keine Sprache, keine Geschichten. Er ist kein Stoff. Er ist das Ende aller Stoffe, denke ich. Man geht in ihn hinein. Und keiner kommt wirklich wieder heraus.“

In ihrem dritten Buch schreibt Svenja Leiber von einem Mann, der fein und zart ist, ein Musiker, ein Wunderkind – und den der Krieg erbarmungslos zermalmt. In einem anderen Land zu einer anderen Zeit hätte Protagonist Ruven ein Großer werden können, nicht aber im Deutschland der 1930er- und 1940er-Jahre. Das ist tragisch und traurig – und wundervoll erzählt. In ihrer Sprache vollbringt die deutsche Autorin einen beeindruckenden Spagat: Sie ist sowohl abgeklärt und hart als auch poetisch und gefühlvoll. Um den Vergleich zur Musik zu ziehen, der sich freilich anbietet: Svenja Leiber komponiert ein vielstimmiges Werk, mit leisen Melodien und lauten Paukenschlägen. Sie entspinnt ihre Geschichte langsam und geduldig, sie lässt sich Zeit, fängt alle Stimmungen und Gefühle perfekt ein. Zwischendrin, das muss ich gestehen, habe ich die eine oder andere inhaltliche Durststrecke durchgemacht, weil der Strom zu einem Rinnsal wurde und die Geschichte sich nicht so entwickelte, wie ich gedacht hätte: Ruven gerät mit der Zeit aus dem Fokus, seine Musik verstummt. Das Buch ist aber längst nicht zu Ende, sondern rückt Ruvens Tochter in den Mittelpunkt, womit ich mich letztlich versöhne und abfinde. Das letzte Land ist ein berührendes, intensives und überaus gut geschriebenes Buch, das von Liebe und Verrat erzählt, von dem Wunder der Musik, von verpassten Chancen und dem alles verschlingenden Krieg. Ein Buch, von dem ich sagen muss: Es sollte Pflichtlektüre sein.

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Das letzte Land von Svenja Leiber ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42414-8, 320 Seiten, 19,95 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Die 1975 in Hamburg geborene und in Berlin lebende Autorin Leiber erzählt mit dem an Johann Peter Hebels Kalendergeschichten geschulten Prinzip der epischen Zeitraffung von Krieg, Unheil, Tod und Holocaust, vom Feuersturm in Hamburg und der Terrorherrschaft der Nazis“, heißt es auf spiegel.de.
– „Vor allem aber ein Buch darüber, was es heißt, zu sehen, wie die eigenen Wünsche nicht erfüllt werden können“, erklärt welt.de.
– „Das letzte Land ist einer der Romane dieses Jahr, die in dem Wust an Neuerscheinungen etwas untergegangen zu sein scheinen, doch diese Geschichte hat es verdient, entdeckt und gelesen zu werden und zwar von möglichst vielen“, schwärmte Mara von buzzaldrins.de.
– Und hier könnt ihr euch den Trailer zum Buch anschauen.

Für Gourmets: 5 Sterne

Mazzantini„Der beste Teil des Lebens ist der, den wir nicht leben können“
„Zwei Schritte vom Paradies entfernt – und einen von der Hölle“: So fühlen sich Guido und Costantino ihr ganzes Leben lang. Weil sie so verliebt sind. Aber nicht in die Frauen, die sie geheiratet haben. Sondern ineinander. Dabei hätte das anfangs niemand ahnen können, als sie im gleichen Palazzo aufwuchsen, aber Welten voneinander entfernt lebten: Guido oben bei den Herrschaften, immer allein, krank vor Liebe für die stets abwesende Mutter, und Costantino ganz unten, als Sohn des Hausmeisters. Die beiden haben, obwohl sie in dieselbe Klasse gehen, nichts miteinander zu tun. Erst gegen Ende der Schulzeit, als sie damit anfangen, erwachsen zu werden, geschieht etwas, bricht etwas auf, sie küssen sich, klammern sich aneinander – und müssen sich doch viel zu schnell wieder gehen lassen. Ihre Wege trennen sich, Guido heiratet in London die schöne Japanerin Izumi und wird Professor, Guido gründet in Rom eine Familie und führt ein Restaurant. Doch etwas fehlt, etwas schmerzt, da ist ein Brennen, ein Sehnen: „Ich tanzte auf einem Seil, das irgendwo gerissen war, ohne dass ich hätte erkennen können, wo.“ Es dauert lange, viel zu lange, bis die beiden Männer sich wiedersehen, und sie haben diesen Traum, der einfach zu schön scheint, um wahr zu werden: „Ich stelle mir ein sanftes Leben vor, unseres, als Paar. Sich bei der Hand nehmen, anhalten, um ein paar Lebensmittel einzukaufen, auf die Nacht warten. Ich will mich nie wieder trennen müssen. Es ist absurd, das zu tun.“

Es tut weh, Herrlichkeit von Margaret Mazzantini zu lesen. Weil eine Liebe, die nicht sein kann, zu dem Traurigsten gehört, was es gibt auf dieser Welt. Die italienische Autorin, die zahlreiche Bücher geschrieben und viele Preise dafür bekommen hat, dirigiert mit erstaunlicher Leichtigkeit die großen Emotionen. Mit ihrem Roman Das Meer am Morgen, der heute aktueller ist denn je, hat sie mich zum Weinen gebracht. Und in Herrlichkeit entwirft sie mit so viel Feingefühl und Sinn für Dramatik eine Geschichte, die sich schwer auf meine Brust setzt und mir kleine Eiszapfen ins Herz treibt. Beim Erzählen lässt sie sich Zeit und beginnt in der Kindheit der beiden Figuren, wobei der Fokus auf Guido liegt und er unser Ich-Erzähler ist. Er ist ein ebenso einsames wie arrogantes Kind, und die Möglichkeit, sich mit Costantino anzufreunden, nimmt er nicht wahr. Das bereut er später, als die beiden nur gestohlene Stunden miteinander verbringen können, weil er all diese Zeit verschenkt hat. Als sie sich dann lieben und es wissen und sich eingestehen können, ist es einfach zu spät.

Margaret Mazzantini spielt Schicksal, und sie ist grausam. Sie gibt Guido und Costantino keine Chance, und deshalb leuchtet deren Liebe so hell, weil ihr Feuer nicht erlischt, nicht vom Alltag erstickt wird. Dabei geht es in Herrlichkeit gar nicht so sehr um Homosexualität an sich, sondern vielmehr darum, dass ein Mann einen Menschen liebt – der zufällig auch ein Mann ist. Es erstaunt mich immer wieder, wie leicht und virtuos die italienische Autorin mit derart schwermütigen und wuchtigen Themen umgeht. Sie hat keine Angst vor dem Schmerz, sie ergründet ihn, zeigt ihn in all seinen Farben und Tiefen. Wenn ich ihre Bücher lese, spüre ich, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

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Herrlichkeit von Margaret Mazzantini ist erschienen im Dumont Buchverlag (ISBN 978-3-8321-8853-5, 400 Seiten, 17,99 Euro).

Bücherwurmloch

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Kennt ihr das, dass ihr etwas sagen möchtet, aber ihr schweigt, weil es euch so nahegeht, und ihr schweigt immer länger und länger, bis sich all die Emotionen schon so angestaut haben, dass ihr sie kaum noch in Worte fassen könnt? Ich kenne das eigentlich nicht. Es kommt selten vor, dass ich nicht sage, was ich denke. Doch seit einigen Monaten sitzen mir diese drei Wörter auf der Brust, und sie drücken schwer: Ich schäme mich. Ich schäme mich entsetzlich. Für  alle, die ihre Herzen vernagelt haben, für Traiskirchen, für die beschissenen Zelte, in die es hineinregnet, für die mitleidslosen, handlungsunfähigen, schweigsamen Politiker, für jeden einzelnen Flüchtling, der in diesem reichen Land so menschenunwürdig behandelt wird. Erst haben wir sie alle im Mittelmeer ersaufen lassen, und jetzt geben wir denen, die es trotzdem geschafft haben, die den ganzen weiten Weg unter großen Gefahren hinter sich gebracht haben, nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Und dann dachte ich: Wenn du darüber bloggst, wen interessiert das? Es wird untergehen. Nur Leute, die eh schon sensibilisiert sind, werden es lesen. Es wird nichts nützen. Aber: Zu schweigen, nützt noch viel weniger. Denn wenn wir alle schweigen, sind die Stimmen der Rechten so viel lauter, und das ist inakzeptabel. Wir müssen dagegenhalten!

Im Jahr 1957 ist mein Opa, der in Slowenien aufgewachsen ist, vor Titos Regime geflohen. Als er durch die Mur geschwommen ist, haben sie ihm nachgeschossen. Er war in einem Auffanglager in Graz und wollte eigentlich nach Kanada – dass er in Österreich geblieben ist, war nur ein Zufall. Mein Opa ist ein Flüchtling. Meine Oma stammt aus Düsseldorf, sie wurde 1940 geboren während eines Fliegeralarms. Und meine Vorfahren väterlicherseits waren fahrende Handwerker aus Böhmen und Mären. Sie alle haben sich einst hier niedergelassen, und ich bin hier geboren. Aber macht mich das zum Österreicher? Gibt es mir das Recht, zu sagen, dies ist MEIN Land, mit einer völlig willkürlich im Lauf der Geschichte gezogenen Grenze, und sonst darf hier keiner rein? Warum denn, bitteschön? Wir sind alle Menschen und alle gleich. DEN Österreicher an sich, den gibt es doch gar nicht, weil all die Pavicics und Havels und Dvoraks Vorfahren aus anderen Ländern haben, aus der alten Monarchie, und gut ist das! Jeder hat einen Flüchtling in seiner Familiengeschichte, einen Einwanderer, einen, der mal ein Ausländer war. Wie STS einst sang: I bin die feine Mischung, special blend, soiche wie mi, waßt wie ma de nennt, i bin die wilde Sorte, do werd’n Braune bleich, i bin aus Österreich. Ich sehe deshalb nicht ein, warum auch nur einer von uns mehr Rechte haben sollte, hier zu leben, an diesem zufällig gewählten Ort, als einer aus Syrien, dem Irak, dem Kosovo. Wer hier geboren ist, hat einfach Glück gehabt, so viel Glück, dass er es leicht mit anderen teilen könnte.

Nur leider sind die Menschen scheiße. Sie sind verachtenswert. Sie sind gierig, egoistisch, neidisch und herzlos. Sie sind schlimmer als Tiere. In Griechenland wurde Tränengas gegen die Flüchtlinge eingesetzt. TRÄNENGAS! Gegen Menschen, die Tausende Kilometer vor Bomben und Terror geflohen sind! Als ich das gelesen habe, habe ich geheult. Das System Menschheit kollabiert. Wir bringen uns gegenseitig um, und vielleicht, so denke ich oft, ist das auch besser so, dann sind wir irgendwann endlich weg, und die Erde hat wieder ihre Ruhe. Seit ich 14 bin und ein bisschen was von der Welt verstehe, leide ich an Menschheitshass. Vor lauter Grausamkeit, Gewalt, Umweltverschmutzung und Tiermord möchte ich an manchen Tagen einfach gar nicht mehr hier sein. Weil mir vorkommt, dass niemand Mitgefühl, Anstand und Verstand hat. Weil wir alle, mich eingeschlossen, über unser Wohlstandsbäuchlein jammern und die drei Kilo zu viel, aber so tun, als hätten wir den Flüchtlingen nichts zu geben. Ich ertrage es nicht. Und ich fühle mich ohnmächtig.

Aber gut. Ich BIN nun mal hier. Und was tue ich? Wie kann ich helfen? Es vergeht kein Tag, an dem ich mich das nicht frage. Ich habe bereits alles Mögliche ins Flüchtlingsheim Thalgau getragen, Handtücher, Kleidung, Gläser, Schuhe, habe für die Männer dort Hygieneartikel gekauft und meinen Sohn seinen Ersatz-CD-Player zu den „Früchtlingen“ bringen lassen, damit sie Deutsch lernen können. Aber das reicht natürlich nicht. Wie könnte es! Ich bräuchte Zeit, um vielleicht jemandem beim Lernen der Sprache zu helfen, eine Patenschaft zu übernehmen, aber ich kann von Montag bis Samstag wegen meiner kleinen Kinder und unserer beider Arbeit kaum allein weg. Ich fühle mich sehr schuldig deswegen. Aber immerhin kann ich protestieren. Den Mund aufmachen. Nicht mehr schweigen. Euch auf die Spendenaktion von #BloggerfuerFluechtlinge aufmerksam machen, für die bereits in kürzester Zeit fast 10.000 Euro zusammengekommen sind, oder auf näherliegende Salzburger Initiativen, die z. B die gute Güte gesammelt hat. Ich kann euch bitten, das hier zu teilen oder selbst unter dem Hashtag zu bloggen, ich kann euch bitten, nicht wegzuschauen, sondern zu helfen. Keiner dieser Flüchtlinge hat freiwillig seine Heimat verlassen, um bei uns zu schmarotzen, sie würden viel lieber in Frieden leben, in ihrem Zuhause. Sie haben nichts, gar nichts. Aber sie bringen Mut und Andersartigkeit, viele Talente, neue Sichtweisen, sie bringen Kinder, von denen wir ohnehin zu wenig haben in unserer Wohlstandsfaulheit, sie bringen Vielfalt. Rücken wir zusammen, machen wir ein bisschen Platz. Es ist doch wohl wirklich genug für alle da. Wir müssen nur endlich lernen, zu teilen.

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Die Initiative #BloggerfuerFluechtlinge wurde ins Leben gerufen von Karla Paul, Paul Huizing, Nico Lumma und Stevan Paul. Hier gibt es die Website dazu. Beiträge findet ihr beispielsweise bei Literaturen, Lust auf Lesen, buchkolumne, PinkfischLummaland und vielen weiteren. Macht auch mit. Wir sind viele. Wir sind MEHR!