Gut und sättigend: 3 Sterne

JeissingAuf der Suche nach den eigenen Wurzeln
Gustava weiß nicht, wer ihr Vater ist, weil sie ihrer Mutter dieses Geheimnis nie entlocken konnte. Schon gar nicht am Ende, als die Mutter zusehends den Verstand verlor – und angewiesen war auf die Pflege ihrer Tochter, die gerade dabei gewesen wäre, am Theater als Schauspielerin Karriere zu machen. Nach dem Tod der Mutter kann Gustava wegen der jahrelangen Pause nicht mehr an ihre ersten Erfolge anknüpfen und zieht erst einmal von Wien nach Berlin, wo sie sich um eine Agentin bemüht. Zudem lernt sie den Psychiater Donald Gliese kennen – ebenso dick wie merkwürdig –, der viel mehr Raum in ihrem Leben einnimmt, als es für einen Therapeuten üblich ist. Und um den Gärtner Nello entspinnt sich eine reichlich komplizierte Familiengeschichte, die Gustava fasziniert und von ihrer Einsamkeit ablenkt.

Die österreichische Autorin Ivana Jeissing hat ihrem Roman Wintersonnen ein sehr klassisches Setting zugrundegelegt: Eine junge Frau, die ihren Vater nicht kennt, lüftet nach dem Tod der Mutter endlich das Familiengeheimnis. So weit, so bekannt. Wer der Vater ist, ist eigentlich irrelevant – und birgt auch in diesem Fall keine großen Überraschungen. Was ich an Wintersonnen sehr mag, das sind der angenehme, leicht lakonische Ton und die zeitweise recht eleganten Metaphern. Was ich jedoch nicht sehr mag, ist das Ausgefranste, Verrückte und Undurchsichtige, das vor allem durch die beiden Nebenfiguren Gliese und Nello in die Geschichte kommt. Der Therapeut hat, vereinfacht gesagt, offenbar einen an der Waffel, drängt Gustava einen Pudel auf, der ihm gar nicht gehört, steht unangemeldet vor ihrer Tür – reißt sie mit seinen ungewöhnlichen Methoden aber auch aus ihrer Lethargie und sorgt für amüsante Lesemomente.

Bei der Story rund um Nello dagegen verliere ich, ich gestehe es, zwischendrin ganz einfach den Überblick. Und was hat das alles eigentlich miteinander zu tun? Irgendwie nichts, aber dank der Macht des Zufalls auch wieder alles. Gustava ist eine ebenso sympathische wie blasse Protagonistin, die zwar den Hauptteil der Geschichte trägt, sie aber dennoch kaum vorantreibt, weil sie so fremdbestimmt lebt. Am Ende fügt sich alles derart gut, wie es im echten Leben nie möglich wäre. Über die Maßen begeistert hat Wintersonnen mit nicht, dazu ist es zu weich und zu lasch und zu lieb. Aber es ist das, was man im Englischen „a good read“ nennt.

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Wintersonnen von Ivana Jeissing ist erschienen im Metrolit Verlag (ISBN 978-3-8493-0371-6, 234 Seiten, 22 Euro).

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Gut und sättigend: 3 Sterne

NadlerJüdische Familiengeschichten
Da ist der Geschäftsmann, der seine Frau betrügt – und zwar mit der Tochter seines langjährigen Kompagnons. Und die haut ihn so kräftig übers Ohr, dass allein die Schmach Schande genug ist. Catherine hat es auch mit einem Seitensprung zu tun, aber auf ganz andere Weise: Sie lässt sich von ihrer Freundin dazu überreden, die Treue ihres Liebsten auf die Probe zu stellen – und er geht fremd. Als sie ihn zwei Jahre später besucht, bereut sie das immer noch. Auch Horrowitz schläft mit einer Frau, die für ihn tabu sein sollte – Susan, Ehefrau seines Freundes und Mutter von dessen Kindern. Und so zieht sich ein munterer Sexreigen durch diesen kleinen jüdischen Kosmos mit seinen einsamen, unehrlichen und zutiefst menschlichen Gestalten.

Stuart Nadler ist in der literarischen Welt kein Unbekannter – er hat einige Preise erhalten und wurde von der National Book Foundation unter die besten „5 unter 35“ gewählt. Ich muss jedoch gestehen: Ich kannte ihn nicht. Von deinem Debütroman Ein verhängnisvoller Sommer hatte ich nie gehört, doch da ich mich seit einiger Zeit an Kurzgeschichten versuche, wollte ich seine Storys gern lesen. Allerdings fällt es mir bei Short-Story-Sammlungen nicht leicht, das Buch in seiner Substanz zu beschreiben, das hab ich bereits festgestellt. Ich kann sagen, dass ich mich in seinen kleinen, feinen Geschichten sehr wohlgefühlt habe, weil der jüdische Humor gut spürbar und seit jeher sehr intelligent ist. Ich kann auch sagen, dass Das Buch des Lebens mich gut unterhalten hat. Wirklich anregenden und anrührenden Stoff darf man sich davon jedoch nicht erwarten. Die Begebenheiten sind gut erzählt, im Endeffekt aber Allerweltsgeschichten ohne besonderen Impact, die keine Begeisterungsstürme und auch keine Wellen der Emotion auslösen. Dieses Buch gehört zu jenen, die durchaus gut sind – aber leider überhaupt keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.

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Das Buch des Lebens von Stuart Nadler ist erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04656-4, 272 Seiten, 19,99 Euro).

Netter Versuch: 2 Sterne

Delacourt„Ich werde dafür bezahlt, weder Herz noch Mitgefühl zu haben“
„Manchmal war ich wie berauscht von der Vorstellung, das Leben der anderen verändern zu können“, sagt Antoine, der als Gutachter für eine Versicherung arbeitet. Er muss im Schadensfall bewerten, ob jemand Geld bekommt – und wie viel. Er entscheidet über Existenzen. Als er einmal seinem Herzen statt seinem Verstand folgt, ist er prompt seinen Job los. Seine Frau verlässt ihn auch, und seinen Kindern war er nie ein guter Vater. Antoine muss erkennen, dass er am Boden ist. Kann er überhaupt noch tiefer sinken? Ohja, er kann. Denn in seiner Verzweiflung lässt er sich zu einer unfassbar grausamen, egozentrischen Tat hinreißen, für die er ins Gefängnis muss. Als er Jahre später freikommt, beginnt er ein neues Leben. Doch wie das eben oft so ist mit der Vergangenheit – sie lässt ihn nicht los …

Grégoire Delacourt ist ein erfolgreicher französischer Schriftsteller, und dies ist bereits sein fünftes Buch. Mit Alle meine Wünsche hat er mich völlig verzaubert, ich denke noch heute gern an diese Geschichte zurück. Dann kam sein neues Werk – und da habe ich von jenem Zauber leider nichts gespürt. Nicht mal ein winziges Fünklein. Das ist in erster Linie natürlich reichlich schade. Und bestärkt mich erneut in meiner Ein-Buch-pro-Autor-Philosophie, um solche Enttäuschungen zu vermeiden. Protagonist Antoine ist ein zutiefst langweiliger Held, der zugleich einen an der Waffel hat, und zwar so richtig. Er ergeht sich in einem langen inneren Monolog, er lamentiert vor sich hin, leidet an sich selbst, erzählt von seiner lieblosen Kindheit und seinem eigenen Versagen als Vater. Das ist … nun ja, nicht allzu aufregend, sagen wir es so. Es folgt ein spektakulärer, krasser und überraschender Vorfall, der das Buch zweiteilt – und der Rest ist dann ebenso langatmig und dröge wie der Beginn. Denn jetzt hat Antoine wirklich einen Grund, sich schlecht zu fühlen und sich Vorwürfe zu machen. Das tut er auch ausgiebig.

Es widerstrebt mir, schlecht über ein Buch zu sprechen. Weil viel Arbeit drinsteckt. Weil es anderen Lesern vielleicht durchaus gefällt. Ahahahaber: Ich habe mich mit Wir sahen nur das Glück schrecklich fadisiert. Die Story hat mich nicht gepackt, nicht einmal ein bisschen, der Protagonist war mir zutiefst unsympathisch und über die Maßen egal. Und natürlich waren meine Erwartungen nach „Alle meine Wünsche“ reichlich hoch, was fast immer problematisch ist. So kann ich nur hoffen, dass irgendjemand da draußen den Roman mehr mag als ich. Auch wenn es mich sehr wundern würde.

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Wir sahen nur das Glück von Grégoire Delacourt ist erschienen im Atlantik Verlag (ISBN 978-3-455-60021-6, 272 Seiten, 20 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Horiot„Wer das Gleichgewicht verliert, verliert sein Königreich“
„Ich bin vier Jahre alt und möchte wieder zu Sternenstaub werden, um ganz von vorne anzufangen.“ Dazu, so hat es sich der kleine Julien überlegt, muss er zurück in den Bauch seiner Mutter. Er will deshalb nicht wachsen. Er schaut niemandem in die Augen. Und er spricht nicht: „Ich bin der Gefangene meines Körpers, und wenn ich sprechen würde, würde ich auch euer Gefangener.“ Julien beobachtet, und er leidet. Das Klassenzimmer ist sein Gefängnis, alle Menschen sind ihm eine Qual. „Ich verbringe mein Leben mit kleinen, wuselnden, grölenden und gestikulierenden Wesen, die ich weder sehen noch hören möchte.“ Seine Familie geht sehr liebevoll mit ihm um, auch wenn seine Eltern und Schwestern dabei täglich an ihre Grenzen stoßen. Und das Kind, das nicht zu den anderen passt, unternimmt einen waghalsigen Versuch, aus dem inneren Käfig auszubrechen: Es lässt Julien sterben und nennt sich fortan Hugo. Hugo schleppt sich durch die Schulbildung, passt sich an, gibt sich Mühe, verstellt sich. Doch erst als er die Schauspielerei entdeckt, findet er seine Rettung.

Hugo Horiot, 1982 geboren, ist ein französischer Schauspieler, der am Asperger-Syndrom leidet. In Der König bin ich erzählt er seine Geschichte, die voll ist von puren, ungeschliffenen Emotionen. Schon sehr früh war der ganzen Familie klar, dass dieses Kind anders ist, dass es nicht kommunizieren will, Tics hat, dass es in einer eigenen Welt, einem eigenen Universum lebt. Es scheint, als habe Julien zum Glück in seinem direkten Umfeld viel Verständnis und Unterstützung erfahren – doch die reichten nur bis zur eigenen Haustür, dahinter lauerte das System, das für Andersartigkeit keinen Platz vorgesehen hat. In sehr eindrücklichen Worten schildert der Autor, der diesen Text innerhalb eines Monats zu Papier gebracht hat, die Gefühlswelt eines Kindes, das nicht am Leben sein möchte. Nicht so. Nicht hier. Jede Seite ist gefüllt mit Schmerz und Selbsthass und unfassbar großem Zorn. Wie muss es sein, mit so einem Kind zu leben, im Alltag?

Davon erzählt Hugo Horiots Mutter Françoise Levèfre auf den letzten Seiten des schmalen Bändchens. Sie sagt sehr ehrlich, wie anstrengend es war, Juliens Mutter zu sein, wie sehr sie es aber auch schätzt und liebt, ein so besonderes Kind zu haben. Diesen kurzen abschließenden Blick aus ihren Augen finde ich sehr gut und interessant, er rückt das, was an Hugos Worten vielleicht zu fantasievoll und unverständlich war, in einen annehmbaren Bezug zur Realität. Denn natürlich ist ein Buch aus der Sicht eines autistischen Menschen stellenweise sehr verwirrend, das lässt sich nicht beschönigen. Es ist intensiv und emotional, anstrengend und merkwürdig. Viele Gedanken sind nachvollziehbar, andere völlig befremdlich. Ich war sehr gespannt darauf, mich in den Kopf eines Kindes zu begeben, das die Welt nicht so erlebt wie ich. Und ich war sehr froh, ihn dann wieder verlassen zu können.

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Der König bin ich von Hugo Horiot ist erschienen in den Hanser Literaturverlagen (ISBN 978-3-446-24718-5, 168 Seiten, 19,50 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Seethaler„Das Leben, Baby, ist eine Fahrt in den Himmel!“
„Und das kennt man ja: Wenn sich der Stolz erst einmal verabschiedet hat, dann nimmt er die Würde gleich mit!“ Und der Kurt, der kennt das wirklich gut. Der tritt nämlich immer noch nicht in Las Vegas auf, sondern tingelt mit seinem Heartbreakin’-Mobil und seinem Keyboard im Glitzeranzug durch die deutsche Provinz. Er tritt bei Truthahnbauern und in abgefuckten Kneipen auf, und an einem dieser trostlosen Orte trifft er auf die Biene: 16 Jahre alt, stummelig und pummelig, mit verstrubbelten blonden Haaren und Brillengläsern so dick wie Bierflaschenböden. Biene ist gerade aus dem katholischen Mädchenheim abgehauen, und Kurt nimmt sie mit. So ein kleiner weißer Glitzeranzug steht nämlich auch der Biene ganz gut, und das Duo würde ordentlich was hermachen – wären da nicht einerseits die hartnäckigen Alkoholprobleme vom Kurt und andererseits das äußerst ungnädige Schicksal …

Robert Seethaler gehört inzwischen zu den bekannteren österreichischen Autoren. Sein Buch Die Biene und der Kurt stand aber nicht so sehr im Fokus der Öffentlichkeit wie beispielsweise Der Trafikant. Ich hab vor Jahren Die weiteren Aussichten gelesen und mich bestens amüsiert. Nicht ganz so witzig, aber durchaus unterhaltsam ist auch dieser Roman über zwei Menschen, die der Zufall zusammenbringt und die auf den ersten Blick so dermaßen gar nicht zusammenpassen: ein alternder Schlagerstar, der von der großen Karriere träumt, die er nie haben wird, und ein Mädchen, dessen Herkunft ebenso schleierhaft ist wie seine Ziele. Der eine ist alt, die andere jung, beide sind enttäuscht vom Leben. „Aber so ist das eben manchmal im Leben: Da hat dir die Überraschung eine rein, dass du dich nicht mehr auskennst mit allem Möglichen!“ Weil dass es so kommen würde, das hätten sich die Biene und der Kurt nicht gedacht. Und ich auch nicht.

Was ich an Robert Seethalers Romanen so mag, ist ihre Österreichischheit. Die hört man quasi aus jedem Satz heraus, und da hüpft mir das patriotische Herzerl in der Brust. Außerdem erzählt er mit feiner Ironie, macht sich lustig über seine Figuren – aber auf liebevolle und verständnisvolle Weise. Die Biene und der Kurt ist ein Buch über zwei Gescheiterte, zwei Außenseiter, die sich zusammentun, weil sich das Leben Seite an Seite leichter ertragen lässt. Erheiternd, menschlich, schön.

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Die Biene und der Kurt von Robert Seethaler ist erschienen im Kein & Aber Verlag (ISBN 978-3-0369-5915-3, 288 Seiten, 10,20 Euro als Taschenbuch).

Prost Mahlzeit: 1 Stern

RehaDie Geschichte einer einseitigen Liebe
Am College war Charlie Blakeman schrecklich verliebt in Sophie Wilder, das Mädchen mit den kurzen schwarzen Haaren aus seinem Schreibkurs, das ihm die richtigen Bücher zu lesen gab und ihn formte. Sie führten eine anstrengende On-off-Beziehung, schlossen sich tage- und nächtelang in Sophies Zimmer ein – unterbrochen von Phasen, in denen Sophie mit anderen Männern schlief. Charlie spielte den Coolen, kam aber nicht darüber hinweg – vor allem, weil Sophie plötzlich mit einem der anderen zusammen war und ihn sogar heiratete. Das war ihr ein Anliegen, weil sie aufgrund eines erleuchtenden Erlebnisses Christin geworden war. Jahre später lebt Charlie mit seinem Cousin, der Sophies Reizen einst ebenfalls erlag, in einem Haus in New York, in dem jeden Abend eine Party gefeiert wird. Und an einem dieser Abende befindet sich Sophie unter den Gästen. Nun erfährt Charlie, warum Sophie nach dem großen Erfolg ihres ersten Buchs nie wieder schreiben will, weshalb das mit der Hochzeit doch keine so gute Idee war und was mit dem Vater ihres Ehemanns geschehen ist.

What happened to Sophie Wilder ist die Geschichte eines Mannes, der verrückt ist nach einer Frau – und nicht weiterkommt im Leben, nachdem sie ihn zurückgelassen hat. Und es ist leider eine sehr schlechte Geschichte. Ich hab mir den Roman aufgrund einer Empfehlung in der New York Times gekauft – und hätte das mal besser bleiben lassen. Denn es ist durchaus wahr, dass Christopher B. Reha gut schreiben kann. Nur ist sein Buch inhaltlich Bullshit. Es hat Figuren, deren Handlungen absolut nicht nachvollziehbar sind. Es ist dröge, merkwürdig und inkonsequent. Und es hat ein Ende, das viel zu viele Fragen offen lässt. Das ist schade, weil: Die Ansätze sind gut. Eine Frau, die der Protagonist am College geliebt hat – und die unvermittelt auftaucht. Das Geheimnis des Vaters, den Sophie nie kennenlernen durfte und der plötzlich im Sterben liegt. Das hätte eine interessante Story ergeben können. Tut es aber nicht. Sophie ist unsympathisch und eine Heuchlerin, einerseits hochgläubig, andererseits überraschend berechnend. Sie rennt jeden Morgen in die Kirche, verhält sich aber wie ein Arschloch und tut am Ende etwas, das alles, wirklich alles infrage stellt und zudem überhaupt keinen Sinn ergibt. Und Charlie? Der ist ein wahnsinnig blasser Langweiler, dessen einzig guter Charakterzug darin besteht, dass er gern liest. Das Beste an diesem Buch waren allein seine schönen, dicken, aufgerauten Seiten. Nun gehe ich davon aus, dass niemand von euch What happened to Sophie Wilder kennt. Und glaubt mir: Das müsst ihr auch nicht.

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What happened to Sophie Wilder von Christopher B. Reha ist erschienen bei Tin House (ISBN 978-1-935639-31-2, 256 Seiten, 12,75 Dollar).

High Five

imagesWenn ich eine Figur aus einem Roman wäre, dann würde ich mich ein Leben lang umschreiben; nur singen könnte ich in allen Versionen.

Ich ordne meine Bücher danach, ob sie sich was zu sagen haben.

Das Cover meines aktuellen Buchs hat meine Lektorin im Morgengrauen gefunden. Mich hat die Mischung aus Hingabe und Hinterrücks sofort verführt.

Viel zu selten verwendet wird das Wort Kanteki kanteki. So hieß ein Kapitel meines Romans „Durch den Wind“. Ich dachte, das wäre japanisch für „Der Wechsel der Jahreszeiten“. Kurz vor Drucklegung stellte sich heraus: Das Wort gibt es nicht, auch nicht zweimal hintereinander.

Das Buch meines Lebens werde ich nie schreiben und trotzdem weiter davon ausgehen.

Reich2Annika Reich, 1973 in München geboren, hat bereits fünf Bücher veröffentlicht, darunter 34 Meter über dem Meer sowie aktuell Die Nächte auf ihrer Seite. Sie ist Mitarbeiterin der Malerin Katharina Grosse und lehrt an verschiedenen Akademien sowie Hochschulen, außerdem gehört sie zum Team des ZEIT-Blogs 10 nach 8.

Gut und sättigend: 3 Sterne

ODonnell„Lügen machen die Leute glücklich, glaube ich, und deshalb lügen alle andauernd“
„Ich lausche jetzt an Türen. Nur so erfahre ich überhaupt irgendwas. Mir erzählt ja keiner was.“ Michael Murray ist elf Jahre alt, und seiner Ma ist abends im Park etwas Schreckliches passiert. Zuerst weiß Michael nicht genau, was, aber selbst wenn man erst elf ist, kann man sich das dann doch zusammenreimen. Seine Ma hat Angst, dass die Leute schlecht über sie reden, und geht deshalb nicht zur Polizei. Jetzt reden die Leute schlecht über Michaels Pa, weil sie denken, er habe seine Frau so übel zugerichtet. „Pa wird Granny den bösesten Blick zu, den ich je gesehen habe, und rennt wie üblich raus. Er ist hier sowieso nicht willkommen. Ma und Granny haben die Nase voll von ihm, und ich auch. Dauernd ist er wütend oder traurig, zu laut oder ganz still.“ Michael tut seine Ma ganz furchtbar leid, und er ist überfordert von den Erwachsenenproblemen. Er hat ohnehin selbst genug um die Ohren, er muss Ballhochhalten üben für Mariannes Talentshow und sich mit Dirty Alice prügeln. „Man darf sich nicht zu sehr für Mädchen interessieren. Ich meine, es ist okay, wenn man irgendwohin geht, weil sie dort vielleicht sind, aber man kann nicht bei ihnen zu Hause an der Tür klingeln und fragen, ob sie für eine Weile rauskommen, das geht einfach nicht.“ Man könnte also sagen: Michael hat genug eigene Sorgen. Doch da seine Ma den Vergewaltiger nicht angezeigt hat, kann er jederzeit wieder zuschlagen – und das sind die wirklichen Sorgen, die die Familie umtreiben.

Lisa O’Donnell ist eine Autorin, die mit ihren Büchern zuschlägt, als stünde sie im Ring. Sie hat eine freche Schnauze, einen harten Faustschlag und die Sturheit derer, denen alles egal ist. In ihrem Erstling Bienensterben war sie derart rotzig, fies und sarkastisch, dass sie mich tatsächlich umgehauen hat. Nun hab ich mir, das muss ich gestehen, für das zweite Buch eine Steigerung erwartet. In Wahrheit aber hat die schottische Schriftstellerin einen Schritt zurück gemacht. Die Geheimnisse der Welt ist ein guter, solide geschriebener Roman, aber im Vergleich zum Vorgänger viel schwächer. Die Schreibe ist zurückhaltender, nicht so abgefuckt und direkt, die Story ist weniger krass – was zynisch klingt, schließlich geht es um eine Vergewaltigung, aber in Bienensterben mussten die Kinder die verwesenden Leichen der Eltern im Garten vergraben. Gut, vielleicht kann man sowas auch einfach nicht toppen. Schade finde ich jedoch, dass Lisa O’Donnell sich in ihrem zweiten Buch am Offensichtlichen nicht gestört hat: Alles ist erwartbar. Dass der Mann der häuslichen Gewalt verdächtigt wird. Dass Michael in das Mädchen, mit dem er dauernd streitet, am Ende dann verliebt ist. Dass der Täter erneut zuschlägt. Und dass die Frauen sich schließlich dazu überwinden, ihn anzuklagen. Alles davon ist schlüssig und gut lesbar, aber nichts davon ist überraschend und originell. Michael ist ein ganz normaler, lieber, elfjähriger Protagonist, dem sehr daran gelegen ist, cool zu sein und als stärkster Junge der Siedlung zu gelten. Was seiner Ma zustößt, zündet eine Bombe in der ganzen Familie – und ihr ganzes Leben fliegt ihnen um die Ohren. Ein Buch mit kleinen Schockeffekten, aber ohne die erwartete abgrundtiefe Schlangengrube.

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Die Geheimnisse der Welt von Lisa O’Donnell ist erschienen im Dumont Buchverlag (ISBN 978-3-8321-9779-7, 256 Seiten, 18,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Badge„Man blättert im Leben immer wieder Seiten um. Aber alle bleiben im Buch, unabänderlich“
Im Sommer 2000 bekam Peter Badge den Auftrag, Nobelpreisträger in aller Welt zu fotografieren. 15 Jahre und 400 Begegnungen später ist aus diesen interessanten Reisen – mithilfe von Autorin Sandra Zarrinbal – ein Buch entstanden, das einige der wichtigsten Menschen unserer Zeit porträtiert. Der Biochemiker Eddy Fischer spielt für Peter Badge Wagner am Klavier, Gabriel García Márquez öffnet ihm in Lederpantoffeln die Tür und erzählt von seinem Großvater, einem Oberst der kolumbianischen Armee, der ihm sein erstes Buch schenkte, Nelson Mandela verträgt als Folge seiner Lebensgeschichte kein helles Licht und kann nicht mit Blitz fotografiert werden. Was hat all diese Menschen bewegt und angetrieben, was hat sie zu den Höchstleistungen bewogen, für die sie mit dem wohl berühmtesten Preis der Welt ausgezeichnet wurden? Was für Eigenheiten haben sie, wie leben und arbeiten sie? Peter Badge beantwortet diese Fragen. Er war in aller Welt unterwegs, hat Frauen und (natürlich vor allem) Männer getroffen, Mediziner und Physiker, Schriftsteller und Staatspräsidenten, Biologen und Mathematiker, die ihn empfangen haben, um sich ablichten zu lassen – und die dabei immer etwas sehr Persönliches preisgegeben haben.

Was ich an Geniale Begegnungen sehr mag, ist Peter Badges angenehme Art. Ich habe das Gefühl, das ist ein Typ wie du und ich. Er hat von den Formeln, Erfindungen und Errungenschaften, für die die Preise vergeben wurden, auch nicht unbedingt mehr Ahnung als ein Normalsterblicher. Er nähert sich den berühmten Persönlichkeiten durchaus respektvoll, aber auch unbedarft – und das macht ihn sehr sympathisch. Er schildert auf absolut natürliche und entspannte Weise, wie die Treffen sich gestalteten, wie die Ehefrau sich verhielt, wie der Garten aussah. Das vermittelt mir den Eindruck, diese Preisträger kennenlernen zu können … wenigstens für einen Moment. Das macht dieses Buch so besonders: Es entzaubert jene, an deren Leistungen wir nie heranreichen können, macht sie menschlich und nahbar. Gut gelungen ist auch die Dramaturgie des Buchs, das tatsächlich so etwas wie einen roten Faden hat, das geschichtliche Hintergründe und politische Begebenheiten miteinbezieht. Einziger Grund zur Klage: Mir fehlen die Fotos. Da das Ganze eigentlich ein Fotoprojekt ist, wäre es schön gewesen, die Porträts in Farbe oder zumindest größer zu sehen. Ansonsten: ein interessantes Buch, das vielleicht ein bisschen klüger macht – und viel Stoff für intelligenten Smalltalk bietet. Weil man dann beispielsweise sagen kann: „Wussten Sie, dass Obama Honigbier braut?“

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Geniale Begegnungen von Peter Badge und Sandra Zarrinbal ist erschienen bei daab (ISBN 978-3-942597-27-2, 576 Seiten, 29,95 Euro). Die Bücherliebhaberin hat das Buch auf We read Indie besprochen, auch Maike von Herzpotenzial zeigt sich angetan.

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Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

HartwellEin rätselhaftes Buch
Der Tag, an dem Felix verschwand, war sehr heiß. „In jenem Spätsommer waren alle Geräusche gedämpft, und alle Farben waren es auch.“ Felix, 19 Jahre alt, Sohn von Agnes, Bruder von Louise, bester Freund von Paul, ging an die Tanke, um Cola zu kaufen, und kam nicht mehr zurück. Nie mehr. Seither fragen sich die, die zurückgeblieben sind, was mit ihm geschehen ist, und finden keine Antwort. Felix war der Dreh- und Angelpunkt des Beziehungsgeflechts, ohne ihn können sie nicht einmal mehr sie selbst sein: „Paul, der Geist, der Schatten, erkannte, dass er sich als Mensch vor allem durch sein Verhältnis zu einem anderen Menschen definiert hatte. Wenn er nicht Felix’ bester Freund war, vermutete er, war er niemand.“ Zehn Jahre später begegnet Paul in Prag einem Fremden, den er einen Moment lang für Felix hält. Er sieht ihm nicht ähnlich, hat die falsche Stimme, die falsche Haar- und Augenfarbe, aber das gleiche Muttermal – und er wurde vor zehn Jahren aus der Moldau gefischt. Der Mann, der sich Ira Blixen nennt und als Künstler arbeitet, leidet an Amnesie und weiß nicht, wer er ist. Könnte er Felix sein? Paul ist elektrisiert und ratlos zugleich. Blixen folgt ihm nach Berlin, nistet sich bei ihm ein, und bald stößt auch Louise dazu. Louise, die zunächst nicht glaubt, dass Blixen ihr Bruder ist, die sich dann aber auch unbedingt an die Hoffnung klammern will, er sei es doch. Und Blixen? Der spielt ein undurchschaubares Spiel mit beiden – und auch mit Agnes …

In Katharina Hartwells erstes Buch Das fremde Meer hab ich mich Hals über Kopf verliebt, wir hatten eine intensive Romanze, und ich bin stolz, auf dem Klappentext der Taschenbuchausgabe vertreten zu sein. Der Nachfolger hat mir nicht ganz so den Kopf verdreht. Es ist allerdings müßig, die beiden Romane vergleichen zu wollen, weil sie so unterschiedlich sind wie ein Quadrat und eine Wurst, womit die junge Autorin großen Facettenreichtum beweist. Wahnsinnig spannend fand ich die Idee hinter dem Buch, die Ausgangslage: der Junge, der verschwindet, der Mann, der vielleicht er sein könnte. Von Anfang an legt Katharina Hartwell einen nebulösen Schleier über Der Dieb in der Nacht, webt eine eigenartig bedrohliche Atmosphäre, zeigt sich geheimnisvoll und verschwiegen. Da dachte ich mir schon, dass ich am Ende nicht erfahren werde, was Felix zugestoßen ist. Gehofft habe ich freilich trotzdem darauf. Blixen ist eine düstere, unangenehme Gestalt, er hat etwas Vampirartiges, Leeres, Unheimliches. Es ist, als müsse er den anderen das Leben aussaugen, weil er selbst keines hat. Eine klassische „Die Geister, die ich rief“-Situation: Paul wird den manipulativen Blixen nicht mehr los, fängt an, ihn zu fürchten, ihm zu misstrauen: „Ohne sagen zu können, ob Blixens Züge zu angespannt oder im Gegenteil zu entspannt sind, ist er sicher: Dies ist nicht das Gesicht von jemandem, der schläft. Es ist das Gesicht von jemandem, der sich schlafend stellt.“

Nun ist es so, dass lethargische Menschen mich wahnsinnig machen. In der Realität ebenso wie in Büchern. Und in Der Dieb in der Nacht gibt es gleich zwei davon: Paul und Louise. Schon vor der Sache mit Blixen kriegen die beiden nichts auf die Reihe, jobben am Existenzlimit dahin, haben halbgare Freundschaften, gehen keine Beziehungen ein. Mag sein, dass Felix’ Verschwinden sie immer noch lähmt. Mag auch sein, dass das eine gemütliche Ausrede ist. So oder so ertrage ich derart viel Apathie und Gleichgültigkeit dem eigenen Leben gegenüber nur schwer. „Paul träumt. In seinem Traum passiert wenig: niemand spricht, niemand tut etwas, auch Paul bewegt sich nicht.“ Das bringt es auf den Punkt. Und während dem Buch langsam die Seiten ausgehen, trinken Paul und Louise Weinflasche für Weinflasche mit Blixen, fragen ihn nicht aus, verlangen keinen DNA-Test von ihm, sprechen kaum über Felix, stellen ihn wegen seiner Spielchen nicht zur Rede. Ich flippe schier aus vor Ungeduld – und muss mich letztlich natürlich damit abfinden, dass das Rätsel nicht gelöst werden kann, dass die Ketten der Vergangenheit nicht gebrochen werden. Der Dieb in der Nacht ist ein sehr trauriges, anrührendes, schicksalhaftes Buch mit einem eigentümlichen, starken Sog. Es ist unerklärlich, verwirrend, beklemmend – und genau dadurch schlussendlich wieder besonders.

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Der Dieb in der Nacht von Katharina Hartwell ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1279-1, 320 Seiten, 20 Euro). Schöne Rezensionen zum Buch findet ihr beispielsweise bei Sophie und Flattersatz.