Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Overath.jpg„Das Mögen und die Lust und die Freude werden zurückkommen“
„Hoffnung ist so ein großes Wort. Es ist eins von den Wörtern, die ich gerne hassen würde. Ich finde es aber leider sehr schön. Auch weil es keine wirkliche Alternative gibt.“ Mit Alternativen ist es überhaupt so eine Sache für Mona: Die gehen ihr langsam aus. In allen großen deutschsprachigen Städten hat sie sich schon beworben und vorgestellt. Mona will Schauspielerin werden und wünscht sich nichts sehnlicher als einen Platz an einer Schauspielschule. Doch sie wird nirgends angenommen, und wenn es auch in der letzten Stadt nicht klappt, wird Mona ihre Träume begraben und ein Studium beginnen. Ihre Mutter unterstützt sie zwar, wünscht sich aber einen anderen Beruf für Mona, etwas Sicheres, das bald Geld bringt. Der Vater ist Seemann und war Monas ganzes Leben lang jener Mann, auf den vorwiegend gewartet wurde, weil er stets abwesend war. Bei ihrem letzten Vorsprechen steht Mona enorm unter Druck. Sie beobachtet alle Konkurrenten genau, vergleicht sich, analysiert, zerdenkt, schwankt zwischen Hoffnung und Resignation. Sie spielt das Gretchen und kommt eine Runde weiter. Doch nur die wenigen, die in allen drei Runden überzeugen, darf auf die Schauspielschule …

Die junge deutsche Autorin Silvia Overath, geboren 1986, macht in ihrem ersten Roman Robbe schwimmt rückwärts einen Traum und seine Konfrontation mit der Realität zum Thema. Das schmale Buch mit knapp 150 Seiten widmet sich einfühlsam und klug einem 19-jährigen Mädchen, das eine klare Vorstellung von seiner Zukunft hat – aber wieder und wieder an den Hürden scheitert, die es auf dem Weg in diese Zukunft meistern müsste. Der zeitliche Rahmen des Romans erstreckt sich auf wenige Tage und umfasst Monas letzte Versuche, Schauspielerin zu werden. Sie spielt und singt, sie macht Stimmübungen und wandert durch Räume, sie küsst unsichtbare Frösche und müht sich mit jeder Aufgabe ab, gibt sich formbar, aber mit Persönlichkeit. Was wollen sie sehen? Wie kann Mona überzeugen? Ist sie der richtige Typ oder ist sie zu klein, zu blass, zu hässlich? Und immer ist da der Neid: auf die Konkurrenten, die einen Tick besser zu sein scheinen, denen alles leichter fällt, die spontaner sind und textsicherer. Ebenso groß wie der Neid ist die Angst vor dem Scheitern, vor dem Abgelehntwerden und dem Aufgebenmüssen.

Die Zeit, die Mona in Robbe schwimmt rückwärts erlebt, ist extrem emotional, belastend und aufwühlend. Minutiös und detailreich legt Silvia Overath den Aufnahmeprozess dar, diesen Seelenstriptease, den Kampf gegen die eigenen Schwächen und Unsicherheiten. Und das macht sie richtig gut. Sie hat sich derart vollständig in ihre Protagonistin eingefühlt, dass ich ihr jedes Wort glaube – und mit Mona mitleide. Wie kann ein junger Mensch so etwas ertragen? Es ist unmöglich, eine Ablehnung – nachdem man drei Tage lang vor lauter Fremden sein Innerstes nach außen gekehrt hat – nicht persönlich zu nehmen. Jede Kritik, jedes Ignoriertwerden schmerzt, und da es für Mona die allerletzte Chance ist, schmerzt es noch mehr. Dieser Debütroman birgt Momentaufnahmen im Wechselspiel zwischen Hoffen und Scheitern, und zwar auf sehr kluge, gefühlvolle Weise. Ich habe ihn sehr gern gelesen.

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Robbe schwimmt rückwärts von Silvia Overath ist erschienen im Rotpunktverlag (ISBN 9783858696601, 160 Seiten, 18 Euro).

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Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Guelfenbein„Um nicht zu erlöschen, muss die Liebe unentwegt mit Hindernissen konfrontiert sein, die sie unmöglich machen“
Chile im Jahr 1972: Der Putsch des Militärs steht kurz bevor. In dieser aufgeheizten Zeit werden aus den beiden ungleichen Nachbarinnen Sophie und Morgana Freundinnen. Sophie geht noch zur Schule und ist sehr eigen, schon jetzt zeigt sich das Talent, das sie später zu einer bekannten Künstlerin machen wird. Morgana ist Anfang zwanzig und beginnt eine Affäre mit Sophies Vater, der für den Präsidenten arbeitet. Er ist attraktiv, redegewandt und kommt bei Frauen gut an. Sophie soll von der Affäre, die sich direkt vor ihrer Nase abspielt, nichts wissen – doch als Morgana schwanger wird, fliegt alles auf. Und genau zur selben Zeit bricht in Chile das Chaos aus: Das Militär reißt die Macht an sich, Sophies Vater muss untertauchen – und Morgana ist in großer Gefahr …

Carla Guelfenbein, 1959 in Santiago de Chile geboren, ist eine ausgezeichnete Schriftstellerin. Sie thematisiert in ihren Romanen die Geschichte ihrer Heimat – auch in ihrem hier vorliegenden vierten Buch – auf eine sehr direkte und aufwühlende Weise. Carla Guelfenbein nennt die Dinge beim Namen. Sie erzählt von der Angst, die damals herrschte, von Willkür, Mord und Folter. Menschen verschwinden, werden getötet und verscharrt. Zwei der drei Protagonisten geraten mitten hinein in diesen Wahnsinn, müssen sich verstecken, können sich wochenlang nicht sehen, dürfen niemandem ihren Aufenthaltsort verraten. Und doch ist all diese Mühe letztlich umsonst. Das ist fesselnd, spannend und tragisch, sehr gut geschrieben und dramaturgisch perfekt umgesetzt. Diese chilenische Schriftstellerin versteht ihr Handwerk.

Ich habe von Carla Guelfenbein bereits Der Rest ist Schweigen gelesen, ein wahnsinnig trauriges Buch, das mich unheimlich berührt hat. Derart intensiv ist Nackt schwimmen nicht, aber auf jeden Fall auch außerordentlich emotional. Der Verrat, der unverzeihlich schien, wird im Licht der späteren Ereignisse zu einem fiesen Trick des Schicksals, das sich wieder einmal als Einziges ins Fäustchen lacht. Dass in einer Dreiecksbeziehung niemand gewinnen kann, ist klar. Doch die politische Situation jener Zeit führt dazu, dass nur einer der drei überlebt. Die Entscheidungen, die Sophie, ihr Vater und Morgana treffen, haben Jahrzehnte später noch Auswirkungen – auf die nächsten Generationen. Ein ebenso wichtiges wie lesenswertes Buch!

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Nackt schwimmen von Carla Guelfenbein ist erschienen bei S. Fischer (ISBN 978-3100278265, 304 Seiten, als Taschenbuch erhältlich).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Mengestu„Isaac und ich wurden Freunde wie zwei streunende Hunde“
„Was Isaac und ich nie hatten, war ein richtig guter Anfang für unsere Beziehung. Uns entgingen die traditionellen Rituale des Liebeswerbens und die angespannten gemeinsamen Restaurantbesuche, anhand derer die meisten Paare rückblickend die Distanz abmessen, die sie vom ersten Kennenlernen zum Schlafzimmer zurückgelegt haben.“ Den ersten Kuss drückt Isaac Helen auf die Lippen, da ist er kaum zwei Wochen in der amerikanischen Stadt im Mittleren Westen. Sie ist Sozialarbeiterin und soll sich um den jungen Afrikaner kümmern. Seine Akte gibt nichts über ihn preis, und obwohl er uns Helen sich bald täglich sehen, erzählt er ihr nichts von seiner Vergangenheit. Warum ist er aus Uganda geflüchtet? Welche Rolle hat er bei den Aufständen an der Universität von Kampala gespielt? Wer ist dieser Mann? Helen, die sehr zurückgezogen bei ihrer Mutter lebt, geht mit Isaac ins Bett, zieht sogar vorübergehend in seine Wohnung – und kommt ihm doch kein Stück näher. Bis er ihr am Ende die Wahrheit sagt.

Dinaw Mengestu wurde in Addis Abeba geboren und wuchs in den USA auf. Dies ist sein dritter Roman, für die beiden Vorgänger wurde er mit Preisen bedacht. Er schreibt stets über die Schwierigkeiten seines Geburtslandes, über Menschen, die versuchen, Afrika zu verändern, und über Menschen, die aus Afrika fliehen. Auch in Unsere Namen geht es um die Rücksichtslosigkeit einer Diktatur, um Polizeiwillkür und Tod. Zwei Ich-Erzähler hat das Buch: die amerikanische Sozialarbeiterin Helen, die sich in den geflohenen Afrikaner Isaac verknallt, und einen Isaac, der noch in Afrika ist, eine Zeitebene früher – der aber nicht mit dem zuvor genannten Isaac übereinstimmt. Klingt verwirrend? Das ist es auch, und ich finde es eine Zeitlang sehr anstrengend, nicht zu verstehen, wer wer ist und was da vor sich geht. Letztlich ist das Identitätsspiel – als es am Ende aufgelöst wird – gar nicht so kompliziert und schwer zu durchschauen. Doch an den Kapiteln, in denen der Ich-Erzähler ständig einen anderen Mann mit Isaac anspricht, verzweifle ich regelmäßig.

Unsere Namen hat ebenso kraftvolle wie nichtssagende Stellen. Es handelt von dem Zustand der Ratlosigkeit zweier Liebender, die sich voneinander angezogen fühlen, sich aber nicht kennen, und vom Mut eines Afrikaners, der etwas bewegen und verbessern will – auch wenn er dafür sein Leben lassen muss. Beide Ich-Erzähler sind reichlich lethargische Figuren, die nie aus eigenem Antrieb handeln, was dem Roman jeglichen Drive nimmt. Allerdings muss man sagen, dass ohnehin wenig Handlung vorhanden ist: Dies ist ein Buch der Begegnungen und der Möglichkeiten, die es vielleicht hätte geben können. Ich habe vor einigen Jahren bereits Die Melodie der Luft von Dinaw Mengestu gelesen, und das mochte ich so halb – ein bisschen schon, ein bisschen nicht. Mit seinem dritten Buch geht es mir ganz genauso: Während es viele schöne Sätze, kluge Gedanken und gehaltvolle Passagen hat, fadisiere ich mich zwischendurch wegen der Belanglosigkeiten so sehr, dass ich Seiten überspringe. Ich mag euch nicht von diesem Buch abraten, es euch aber auch nicht ans Herz legen. Mengestu und ich finden einfach nicht zueinander – aber vielleicht gelingt es euch ja.

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Unsere Namen von Dinaw Mengestu ist erschienen bei Kein & Aber (ISBN 978-3-0369-5702-9, 336 Seiten, 23,50 Euro).

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Für Gourmets: 5 Sterne

Scharnigg „Wer sich im Krieg allein das Bücherlesen beibrachte, der würde im Frieden alles erreichen können“
Da ist ein Hof, und der steht in Pildau. Außer diesem Hof gibt es in Pildau nichts, nur eine Stange. Die wächst in den Himmel und wird zu allen möglichen Gelegenheiten gelängt, obwohl niemand weiß, warum eigentlich. Mit den Leuten aus dem Dorf haben die Pildauer nichts zu tun, und so leben sie völlig unbehelligt: Jasper, sein Vater und sein Großvater. Der war der Erste von ihnen in Pildau, wo er gar nicht hingehörte, sondern nur in den Zeiten des Krieges beherbergt wurde. Irgendwann blieb er einfach hier, während die Besatzer, die Hippies und die Frauen kamen und gingen. Besonders mit den Frauen hat nämlich keiner der Pildau-Männer Glück. Sie laufen ihnen am Ende immer davon. Nur eine bleibt, zumindest für eine Weile: die kleine Lada. Jaspers Vater hat sie aus einem brennenden Auto gerettet und behalten. Für Jasper ist dieses fremde Mädchen das Beste, was ihm passieren konnte: endlich ein anderes Kind! Mit Lada teilt er Mutproben und Bücher und all seine Geheimnisse. Bis den beiden das Erwachsenwerden in die Quere kommt …

Manchmal, da findet man etwas Ungewöhnliches. Eine bunte Handtasche in einer Secondhand-Boutique, die sonst niemand hat. Ein Lokal, in dem die Pizza unvergleichlich knusprig ist. Oder ein Buch wie Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau von Max Scharnigg. Es ist ein wunderbarer kleiner Schatz – und vor allem ungewöhnlich. Der 1980 in München geborene Autor hat bereits Kolumnen und einen Roman veröffentlicht, ich kenne ihn von der grandiosen Zeitschrift Nido, die ich gern lese. Mit seinem Buch hat er mich jedoch noch wesentlich mehr begeistert: Ich bin gleich hineingefallen wie in ein weiches Bett, wo die Decke superkuschlig ist und der Polster genau richtig liegt. Ich wusste: Hier ist es perfekt für mich, hier werde ich mich wohlfühlen. Und das Beste ist: Ich hatte Recht.

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau ist ein Roman, der den Spagat bravourös meistert, berührend, aber nicht kitschig zu sein. Er erzählt von einem Ort in der Einöde, an dem die vergehende Zeit – in Form von abgestürzten Soldaten und Blumenkindern – nur zu Besuch kommt. Ansonsten dringen kaum Nachrichten von der Außenwelt nach Pildau. In diesem Kokon herrscht eine fast märchenhafte Stimmung, hier gibt es Geborgenheit und Guten-Morgen-Geschichten, Zusammengehörigkeit und Gemüse aus dem eigenen Garten. Pildau ist ein Sehnsuchtsort, eine kleine Insel der Seligen, wo der Realität so lange getrotzt wird, bis es nicht mehr geht. Ein herausragendes Buch – chapeau!

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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau von Max Scharnigg ist erschienen  bei Hoffmann und Campe (ISBN 978-3-455-40388-6, 304 Seiten, 19,99 Euro).

Bücherwurmloch

Die Liste, die hier folgt, bezieht sich auf eine bestimmte Auswahl an Buchblogs, die von Männern geführt werden. Ich meine damit keine Blogs, auf denen Fantasy- oder Erotikromane rezensiert werden und auf denen es merkwürdige Gothic-Schriftarten gibt. Mag sein, dass diese Liste hier sexistisch ist. Möge sie es sein! Und möget ihr alle die Ironie und das Augenzwinkern dahinter erkennen. Die Männerblogs, von denen die Rede ist, gibt es zum Großteil noch nicht allzu lang, und hier sind die Gründe, warum sie cool sind.Bildschirmfoto 2015-12-28 um 20.24.17

  1. Lesende Männer sind sexy. Nicht umsonst hat der Instagram-Account Hot Dudes Reading, der lesende Männer zeigt, mehr als 774.000 Follower. Ich interessiere mich für Männer. Und für Bücher. Beides in Kombination? Jackpot!
  2. Männer lesen eigentlich nicht. Oder geben es zumindest nicht zu. Andrea Gerk schreibt in ihrem Buch Lesen als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur (Rogner & Bernhard, 2015): „Bis heute behaupten viele Männer, keine Romane, sondern nur >>vernünftige<< Texte zu lesen, womit sie vor allem Sachbücher und Zeitungen meinen.“ Sie zitiert die Schriftstellerin Siri Hustvedt, der zufolge Männer denken, „dass Männlichkeit auf der Linie ernst zu nehmender Sachbücher liegt, während Weiblichkeit mit albernen Romanen, erfundenen Geschichten assoziiert wird“. Sich über dieses merkwürdige Geschlechterbild hinwegzusetzen, sich als lesender Mann zu „outen“, ist cool.
  3. Männer lesen andere Bücher. Auf ihren Blogs entdecke ich Lesestoff, nach dem ich selbst nicht gegriffen hätte oder den ich eher skeptisch beäugt habe.
  4. Männer haben schlichtere Blogs ohne Feenstaub und fragwürdige Farbkombinationen.
  5. Viele männliche Buchblogger sind arrogant oder – mit etwas Milde ausgedrückt – selbstbewusst. Sie nennen sich „Alternative zum Feuilleton“ und „last man reading“, bezeichnen sich als „Dorfschönheit, Intellektueller, Kulturphilosoph“. Sie positionieren sich sehr eindeutig. Und davon können wir Frauen auf jeden Fall was lernen: mehr Glaube an uns selbst und unsere Fähigkeiten. Und ein selbstbewussteres Auftreten nach außen.
  6. Männer rezipieren und rezensieren anders. Oft ist ihre Sicht auf ein Buch sehr interessant und zeigt mir Seiten daran auf, die ich nicht so oder anders wahrgenommen habe. Oder ich erkenne dadurch, dass ein bestimmter Roman ganz sicher nicht der richtige für mich ist.
  7. Buchblogmänner sind davon überzeugt, dass gelesen wird, was sie zu sagen haben, dass Interesse an ihren Worten und an ihrer Meinung besteht. Das ist quasi die Definition von Coolness. Natürlich ist es auch gut möglich, dass sie nur so tun als ob. Das weiß man bei Männern ja nie so genau.
  8. Sie kokettieren mit ihrem Standing und ihrem Seltenheitsfaktor. Sie wissen, dass es nicht allzu viele lesende Männer gibt – und schon gar nicht solche, die auch darüber bloggen. Sie schmücken sich mit diesen raren Federn, stellen ihre Pfauenräder auf. Das ist vielleicht berechtigt und in jedem Fall amüsant.
  9. Sie sind oftmals sehr belesen und kennen sich gut aus, vor allem mit den Klassikern. Das gibt ihrer Kritik eine Rechtfertigung, die nicht zwingend notwendig ist, sie aber sehr versiert wirken lässt.
  10. Sie sind eigenwillig und stur. Sie sind ausgeprägte Persönlichkeiten und wissen ganz genau, was sie (lesen) wollen.
  11. Sie bringen Vielfalt. Und Vielfalt ist immer cool.
High Five

brigitteAVA-300x278Wenn ich eine Figur aus einem Roman wäre, dann würde ich um alles einen großen Bogen machen, das in epochaler Mehrbändigkeit herauskommen sollte, vor allem, weil man in solchen Werken irgendwann entweder moralbefreit oder tot ist. Aber ich würde sehr gerne in Unendlicher Spaß dabei sein, eine Figur, an die David Foster Wallace nicht gedacht hat, und dann könnte ich mir das alles ganz in Ruhe aus der Nähe ansehen.

Ich ordne meine Bücher nach Verlagen. Innerhalb dessen nach Autor*innen, nach Größe und ja, auch nach Farbe.

Das Cover meines aktuellen Buchs ist rot, und schon sehr abgegriffen, obwohl ich es neu gekauft hatte, einfach deswegen, weil ich es beinahe überall hin mitschleppe. Es ist Die gleißende Welt von Siri Hustvedt. Oder Halt! – Meintest du das Cover meines eigenen Buches? Eines von mir geschriebenen? Auf dem aktuellen selbergeschriebenen ist ein Zopf, weil es sich um eine verwobene Geschichte handelt, bei der drei Menschen miteinander verbunden sind, durch Liebe, durch Kinder, durch das Leben. Auf der Taschenbuchausgabe werden daher auch Menschen zu sehen sein, ganz weit weg und ein wenig verschwommen.

Viel zu selten verwendet wird das Wort meistenteils, ich weiß nicht einmal, woher ich das kenne, und ob es nicht vielleicht gar nicht existiert. “Meistenteils im Leben war ich zufrieden.” Ein doch ganz schöner Satz, oder?

Das Buch meines Lebens waren (natürlich) viele, aber ich glaube, wäre mein allererstes nicht der Schatz im Silbersee gewesen, sondern, sagen wir, Dolly, dann hätte ich nie wieder ein Buch angefasst. Behaupte ich jetzt einfach. Wobei es nicht stimmt, der Schatz im Silbersee war nicht mein erstes Buch, aber das erste, das ich mir selber aussuchen konnte in der Bücherei. Meine ersten Bücher waren die Kinderbücher meiner Großmutter, einschließlich einer heftigen Mumpserkrankung, während derer ich Lesen gelernt habe – in Frakturschrift.

9783716027158-178x300Pia Ziefle, 1974 geboren, landete 2012 mit ihrem Debütroman Suna einen großen Erfolg. 2014 erschien ihr zweiter Roman Länger als sonst ist nicht für immer im Arche Verlag, im März 2016 kommt die Taschenbuchausgabe davon in den Handel. Pia Ziefle ist freie Autorin und Bloggerin. Foto von Gerald von Foris.

 

Bücherwurmloch

WOZ0942-Mareike-11-2015Manchmal muss man Dinge tun, die man überhaupt nicht tun muss
Willkommen im neuen Jahr! Ich hoffe, ihr seid gut gerutscht. Ich möchte euch mit etwas ganz Verrücktem begrüßen: mit den Bildern von meinem Bookworm-Bitch-Shooting. Viele von euch haben vielleicht auf Facebook und Twitter mitverfolgt, dass ich im November mit einem Fotografenteam in einem unheimlichen alten Gebäude unterwegs war. Und zwar mit der Mission, ein paar richtig schräge und ungewöhnliche Fotos zu schießen.

Nun ist es so, dass mir jegliches Heidi-wo-ist-mein-Foto-Gen fehlt, soll heißen: Mich fotografieren zu lassen, macht mir überhaupt keinen Spaß. Umziehen, posen und grinsen, nein, danke! Aaaber: Als ich von der Location gehört habe, war ich sofort Feuer und Flamme. Denn wann hat man als Bücherwurm jemals die Gelegenheit, in einem alten, abgefuckten Bücherzimmer, das niemand mehr nutzt, rumzuklettern? Eben. Da konnte ich trotz Modelabneigung nicht mehr Nein sagen.

Thomas und Brigitte Wozak und Make-up-Artist Amory Uhlmann sind bekannt dafür, keine spießigen 08/15-Bilder zu schießen, sondern freakiges Zeug. Also genau das Richtige für mich! So sind wir bei -4 Grad über halb zerrissene, angekokelte Bücher geklettert und haben Blödsinn gemacht. Fast schon zufällig sind dabei ein paar crazy Pics entstanden. Falls ihr euch wie meine Anverwandten fragt, warum ich das gemacht habe (Zitat: „Ich verstehe den Sinn davon nicht“), kann ich nur sagen, dass es keinen Grund und keinen Sinn gibt. Und ist das nicht herrlich?

 

Bücherwurmloch

WOZ0952-Mareike-11-2015.jpgDie Lieblinge aus dem Jahr 2015 im Bücherwurmloch
Ich kann kaum glauben, dass dieses Jahr schon zu Ende ist! Ich gehöre eigentlich nicht zu den Sentimentileuten, die ständig sagen, die Zeit verfliege. Aber: Heuer ging es mir irgendwie zu schnell. 2015 war so sehr angefüllt mit abenteuerlichen, anstrengenden, schönen und verrückten Ereignissen – und natürlich mit vielen, vielen Büchern! Ich bedanke mich herzlichst bei all den Verlagen, die mir freundlicherweise zahlreiche wunderbare Leseexemplare zur Verfügung stellen, und bei den Pressemenschen, die sich mit mir darüber austauschen. Ebenso grandios ist, dass es euch gibt, dass ihr hier mitlest, kommentiert und diesem Blog überhaupt erst einen Sinn gebt. Ich bin gespannt auf ein weiteres Jahr mit euch, in dem wir hoffentlich viele interessante, kuriose und berührende Lektüren entdecken werden. Neues Jahr, neues Lesevergnügen!

2015 musste ich nicht einmal einen Moment überlegen, um zu wissen, welche fünf Bücher meine Lieblinge sind. Es war mir schon während der Lektüre völlig klar. Und bei jedem Buch ist ein ganz bestimmter Grund ausschlaggebend dafür, dass sie von den über 100 Romanen, die ich heuer gelesen habe(n werde), für mich die allerbesten sind. Mit fünf von fünf Punkten bewertet habe ich insgesamt 13 Bücher. Herausragend waren davon für mich die folgenden:

Katja Kettu: Wildauge. Dieses Buch hat mich am meisten beeindruckt. Es ist wild und vulgär, sprachgewaltig und absolut einzigartig. Ein Wirbelsturm von einem Buch!

Dörte Hansen: Altes Land. Das ist der Roman, der mir 2015 mit seiner Story am besten gefallen hat. Er ist bissig und ironisch, poetisch und sehr klug, wunderbar menschlich, wehmütig und beeindruckend gut geschrieben.

J. J. Abrams & Doug Dorst: S – Das Schiff des Theseus. Das ist mit Abstand das schönste Buch in seiner Aufmachung. Diese fantasievolle Meisterproduktion hat mich auf eine rätselhafte Schnitzeljagd geschickt, es ist spannend, einmalig, gruselig und witzig, ein Wunderwerk von einem Buch, dem ich eine Blogparade mit mir selbst gewidmet habe.

Darragh McKeon: Alles Stehende verdampft. Dieses Buch hat mich 2015 emotional am meisten berührt. Es hat mich richtig weggefegt, es war eine Axt für das gefrorene Meer in mir. Es ist tragisch und traurig, sehr ergreifend und meisterhaft erzählt.

Valerie Fritsch: Winters Garten. Es gibt keinen Roman, den ich in diesem Jahr in sprachlicher Hinsicht so gut fand wie diesen. Er ist poetisch und intensiv, berauschend und intelligent. Wahre Sprachkunst.

Die acht weiteren Highlights 2015 für mich waren:
Natalio Grueso: Der Wörterschmuggler
Margaret Mazzantini: Herrlichkeit
Annika Reich: Die Nächte auf ihrer Seite
Giuliano Musio: Scheinwerfen
Jennifer Clement: Gebete für die Vermissten
Doris Knecht: Wald
Molly Antopol: Die Unamerikanischen
Max Scharnigg: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau (Rezension folgt)

Welche Bücher ebenfalls wahre Schmankerln mit vier von fünf Punkten waren, nämlich 35 an der Zahl, seht ihr hier.

Seit ich ein bisschen im Frühjahrsprogramm gestöbert und ein wenig an den neuen Titeln geschnuppert habe, freu ich mich schon auf 2016 – und hoffe natürlich, ihr seid dann hier wieder mit von der Partie. Da dies mein letzter Beitrag für 2015 sein wird, wünsche ich euch eine entspannte und harmonische Weihnachtszeit sowie einen guten Rutsch in ein erfolgreiches, schönes und unvergessliches neues Jahr – mit vielen guten Büchern.
Alles Liebe!
Mariki

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Für Gourmets: 5 Sterne

thumb_IMG_6301_1024Lest dieses Buch, lest es, lest es!
Als die Atomkatastrophe in Tschernobyl geschieht, ist die Ratlosigkeit gigantisch groß: Niemand ist für einen solchen GAU gerüstet, es gibt keine Ausbildung dafür, keine Anweisungen – die entsprechenden Seiten im Betriebshandbuch sind geschwärzt –, keine Dosimeter, kein Jod. Denn es ist unmöglich, dass in der Sowjetunion so etwas geschieht. Die Partei macht keine Fehler. Die Betroffenen werden nicht informiert, nicht die umliegenden Ortschaften, nicht die nahen Städte, nicht das Ausland, während die Strahlung alles vergiftet. Der 13-jährige Artjom hat bereits bemerkt, dass etwas nicht stimmt, weil die Tiere aus den Ohren bluteten und die Vögel orientierungslos vom Himmel fielen. Trotzdem sind seine Familie und er nicht auf das vorbereitet, was mit ihnen geschieht: Sie werden von Soldaten gezwungen, mit einem Sack voll Kleidern das Haus zu verlassen, und in eine Stadt gebracht, wo niemand sie haben will, weil sie als vergiftet gelten – die eigene Tante öffnet ihnen nicht einmal die Tür. Ebenso unvorbereitet ist der Chirurg Gregori, der nach Tschernobyl geschickt wird – und völlig geschockt ist angesichts der Lage. Der Tod ist überall, und niemand weiß, wie man ihn unter Kontrolle bekommt. Gregori will helfen – und fällt dadurch schnell bei der Partei in Ungnade, was ernste Folgen für ihn hat. Als seine Ex-Frau Maria erfährt, wo er ist, macht sie sich große Sorgen. Zwischen den beiden war einst Liebe, sehr viel Liebe, und seit ihrer Scheidung sind beide abgetrennt vom Leben, voller Einsamkeit. Maria hat Gregori nie erzählt, was damals geschehen ist. Sie wohnt bei ihrer Schwester und deren Sohn Jewgeni, einem neunjährigen Klaviertalent, das um die Aufnahme am Konservatorium kämpft. Und Maria wird in Versuchung geführt, Jewgeni dazu zu benutzen, sich gegen das System aufzulehnen …

Alles Stehende verdampft hat mich überwältigt. Ich war von der ersten Seite an süchtig nach diesem Buch. Ich wollte es inhalieren, aufsaugen, immer bei mir tragen, jede Minute. Und jetzt bin ich gerade ganz aufgeregt, weil ich es unbedingt schaffen muss, euch mit dieser Rezension zu überzeugen, Darragh McKeons Debüt zu lesen. Wenn ich könnte, würde ich es in eure Bücherregale beamen, denn dort gehört es hin! Es ist so vieles in einem: eine wahnsinnig traurige Liebesgeschichte, ein Familienroman, eine Gesellschaftskritik, ein Bericht über den beginnenden Zerfall der Sowjetunion, eine Dokumentation der Katastrophe von Tschernobyl. Das alles verwebt der junge Autor meisterhaft und mit Verve. Ich bin begeistert, über die Maßen. Jede einzelne Figur ist lebendig und sehr menschlich gezeichnet, sodass ich das Gefühl habe, Maria, Gregori, Artjom und Jewgeni wirklich kennenzulernen, sie zu verstehen, Teil ihrer Welt zu werden. Und diese Welt stirbt. Im wahrsten Sinn des Wortes: Die extreme atomare Strahlung zersetzt Körper, zerstört Organe, verseucht und tötet. Die Partei reagiert unmenschlich, skrupellos und schockierend egoistisch: Während sie Menschen direkt ins Verderben schickt, um „aufzuräumen“, trinkt sie selbst saubere Milch in geschützten Zonen.

Als der Unfall in Tschernobyl geschah, war ich drei Jahr alt – und meine einzige Erinnerung ist, dass ich Tabletten bekam und eine Zeitlang nicht in der Sandkiste spielen durfte. Von den Details, die Derragh McKeon schildert, hatte ich wenig Ahnung. Umso mehr hat mich sein Buch aufgewühlt. Ich wollte in diesem Roman immer weiter und weiter lesen, nie sollte er zu Ende sein. Ich habe am Tag darüber nachgedacht und nachts davon geträumt. Er ist intelligent und berührend, präzise und gefühlvoll, er ist intensiv und krass und schön und poetisch. Ich möchte alle positiven Adjektive bemühen, um Alles Stehende verdampft – das im Original den wundervollen Titel All that is solid melts into air hat und dessen deutscher Titel dem Manifest der Kommunistischen Partei von Marx und Engels entstammt – zu beschreiben. Unfassbar traurig ist dieses Buch allerdings auch, tragisch, grausam, brutal. Es wird euch nicht loslassen, und es wird euch beeindrucken. Für mich ist es der Roman, der mich 2015 emotional am meisten berührt hat. Ein außergewöhnlich gutes Buch. Als ich es ins Regal gestellt habe, da klebte mein Herz noch dran.

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Alles Stehende verdampft von Darragh McKeon ist erschienen bei Ullstein (ISBN 9783550080845, 464 Seiten, 22 Euro). Im schönen Ullstein-Blog Resonanzboden könnt ihr einen Essay von Darragh McKeon über seine Reise durch das verseuchte Gebiet lesen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

thumb_IMG_6302_1024Vom Spiel mit Leichtigkeit und Schwere
Dieses Buch schwebt. Grafisch zeigt sich das an den Weltallbildern, die das Cover sowie jeden Geschichtenbeginn zieren. Inhaltlich ist die Schwerkraft im Titel ein ums andere Mal Thema: Einer verschickt Botschaften mit einer Silvesterrakete, ein anderer reist in einem Koffer ins All. Gemeinsam haben die Figuren eine gewisse Verlorenheit. Sie sind allein, einsam, zerstreut – und definitiv verrückt. Manche von ihnen haben einen derartigen Knall, dass ich kaum ein Wort, das sie mir erzählen, verstehe. Das ist freilich ebenso amüsant wie anstrengend. Andere wiederum verstecken ihren Wahnsinn besser – und die finde ich ganz besonders interessant.

Prinzipiell macht mir Irmgard Fuchs die Sache mit dem Verstehen nicht so leicht. Die junge Salzburgerin hat unter anderem Sprachkunst studiert und zeigt in ihrem ersten Buch, was man da so lernt: offenbar den Mut, experimentell mit Sprache und ihrer Form umzugehen. Nicht zu wild, nein, keine Sorge, da habe ich schon Krasseres gesehen (und denke beispielsweise an Menschen aus Papier von Salvador Plascencia), aber durchaus auf originelle und beachtenswerte Weise. Inhaltlich gefällt mir nicht jede Geschichte, und ich wollte sie auch nicht alle zu Ende lesen. Einige jedoch haben mich sehr fasziniert und zum Schmunzeln gebracht. Und aufgrund seiner Außergewöhnlichkeit ist dieses Buch einmal mehr ein solches, das ich noch ein bisschen für sich selbst sprechen lassen möchte, damit ihr ein Gefühl dafür bekommt, wie es sich anhört:

Meine Augen sind geschlossen wie vor einem Kuss.

Um mich nicht dem Gefühl der Überflüssigkeit zu überlassen, habe ich mich daran gewöhnt, innerlich taub zu sein und mich wie ein glänzendes Polyestermöbel zu fühlen, das zwar etwas abgelebt, aber immer noch einsatzfähig ist.

Auf der Straße wird mir die unnütze Zitrusfrucht jedoch sofort lästig und ich lege sie im Vorübergehen auf den Sattel eines abgesperrten Fahrrads. Nach ein paar Metern muss ich über die Vorstellung der davonradelnden Zitrone lächeln und ich schaue mich noch einmal nach ihr um, damit ich ihr Bild nicht vergesse.

Der Schwindel wird stärker, in ihm entfaltet sich das längst vergessene Gefühl, wie gut es getan hat, als junger Mann im Sommer kurze Hosen zu tragen.

der punkt, an dem das blut den stoff traf, war fast die gleiche stelle, wie die, an der mein stechender schmerz sitzt – nur spiegelverkehrt

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Wir zerschneiden die Schwerkraft von Irmgard Fuchs ist erschienen bei Kremayr & Scheriau (ISBN 978-3-218-00990-4, 208 Seiten, 19,90 Euro).

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