Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_9066„Wenn man etwas sehr liebt, wird man gefährlich“
„Nie mehr will ich schlafen, wenn ich dafür das Geigen lern“, denkt der junge Ruven, und entgegen aller Widrigkeiten setzt er sich durch, da in seinem Dorf im deutschen Norden, wo das Leben hart ist und er als Sonderling gilt. Der Vater, der Stellmacher, prügelt ihn fast tot, bevor er ihm erlaubt, das Geigen zu lernen, und später entwickelt er sogar Stolz, weil der merkwürdige Sohn, den er nicht verstehen kann, so ein Talent hat: „Und er denkt sich die Töne, als liefen sie weiter, ohne zu verklingen, als hätten sie irgendwo im Weltall einen Platz, an dem sie nie aufhörten.“ Ruven findet Zuflucht in der Musik, findet ein Zuhause, das jedoch äußerst instabil ist: Die Zeiten sind dunkel, sie nehmen ihm den jüdischen Lehrer, und ehe er sich’s versieht, muss Ruven – frisch verheiratet mit seiner Jugendliebe und gerade erst Vater geworden – in den Krieg. Und „was soll das Violinspiel, wenn der Mensch vor Furcht schon nicht mehr singen kann“? Als das Kämpfen zu Ende ist, kann Ruven nicht mehr dort ansetzen, wo er aufgehört hat: Seine Familie ist zerstört, sein Leben liegt in Schutt und Asche, die Musik hat ihren Zauber verloren. Denn: „Der Krieg verdient keine Sprache, keine Geschichten. Er ist kein Stoff. Er ist das Ende aller Stoffe, denke ich. Man geht in ihn hinein. Und keiner kommt wirklich wieder heraus.“

In ihrem dritten Buch schreibt Svenja Leiber von einem Mann, der fein und zart ist, ein Musiker, ein Wunderkind – und den der Krieg erbarmungslos zermalmt. In einem anderen Land zu einer anderen Zeit hätte Protagonist Ruven ein Großer werden können, nicht aber im Deutschland der 1930er- und 1940er-Jahre. Das ist tragisch und traurig – und wundervoll erzählt. In ihrer Sprache vollbringt die deutsche Autorin einen beeindruckenden Spagat: Sie ist sowohl abgeklärt und hart als auch poetisch und gefühlvoll. Um den Vergleich zur Musik zu ziehen, der sich freilich anbietet: Svenja Leiber komponiert ein vielstimmiges Werk, mit leisen Melodien und lauten Paukenschlägen. Sie entspinnt ihre Geschichte langsam und geduldig, sie lässt sich Zeit, fängt alle Stimmungen und Gefühle perfekt ein. Zwischendrin, das muss ich gestehen, habe ich die eine oder andere inhaltliche Durststrecke durchgemacht, weil der Strom zu einem Rinnsal wurde und die Geschichte sich nicht so entwickelte, wie ich gedacht hätte: Ruven gerät mit der Zeit aus dem Fokus, seine Musik verstummt. Das Buch ist aber längst nicht zu Ende, sondern rückt Ruvens Tochter in den Mittelpunkt, womit ich mich letztlich versöhne und abfinde. Das letzte Land ist ein berührendes, intensives und überaus gut geschriebenes Buch, das von Liebe und Verrat erzählt, von dem Wunder der Musik, von verpassten Chancen und dem alles verschlingenden Krieg. Ein Buch, von dem ich sagen muss: Es sollte Pflichtlektüre sein.

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Das letzte Land von Svenja Leiber ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42414-8, 320 Seiten, 19,95 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Die 1975 in Hamburg geborene und in Berlin lebende Autorin Leiber erzählt mit dem an Johann Peter Hebels Kalendergeschichten geschulten Prinzip der epischen Zeitraffung von Krieg, Unheil, Tod und Holocaust, vom Feuersturm in Hamburg und der Terrorherrschaft der Nazis“, heißt es auf spiegel.de.
– „Vor allem aber ein Buch darüber, was es heißt, zu sehen, wie die eigenen Wünsche nicht erfüllt werden können“, erklärt welt.de.
– „Das letzte Land ist einer der Romane dieses Jahr, die in dem Wust an Neuerscheinungen etwas untergegangen zu sein scheinen, doch diese Geschichte hat es verdient, entdeckt und gelesen zu werden und zwar von möglichst vielen“, schwärmte Mara von buzzaldrins.de.
– Und hier könnt ihr euch den Trailer zum Buch anschauen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Cerha„Ein bisschen Liebe hat noch keinem geschadet“
Mara ist Schriftstellerin, und jedes Jahr verbringt sie den gesamten Sommer auf einer kleinen kroatischen Insel. Sie ist fremd hier, aber trotzdem auch ein bisschen zuhause, sie kennt die Menschen dort, die Sitten, das Wechselspiel der Winde. Doch genau die spielen in jenem einen Sommer irgendwie verrückt: Die Bora weht ungewöhnlich heftig und treibt die Inselbewohner in den Wahnsinn. Es könnte also einfach am Wetter liegen, dass Mara so aus der Bahn geworfen wird, als sie auf den Fotografen Andrej trifft. Oder es ist vielleicht doch ein wenig Verliebtheit im Spiel. Er hat kroatische Wurzeln und ist ein ebenso attraktiver wie interessanter Mann. Mara rauschen die Hormone durchs Blut, sie fühlt und benimmt sich wie ein Teenager, Andrej zieht sie an wie ein Magnet. Und als sie zueinanderfinden, ist es einfach gut und richtig: „Andrej wuchs in mein Inselleben hinein wie eine Schraube, die sich in ein Gewinde dreht. Normalerweise brachten Männer alles durcheinander, sobald sie in meinem Leben auftauchten. Immer zogen sie Bausteine von ganz unten aus meinem Gebäude und setzten sie ganz obendrauf, wo sie mir die Sicht auf die Welt verstellten, während ich damit beschäftigt war, das Ding stabil zu halten, trotz der plötzlichen Lücken im Fundament. Andrej ließ alles, wo es war, und setzte seine Steine dahin, wo Platz war.“ Nur leider ist das Problem dieses Sommers dasselbe wie mit jedem Sommer: Er kann nicht ewig dauern …

Ich mag Ruth Cerha. Ich mochte sie schon bei Kopf in den Wolken, ihrem hervorragenden zweiten Buch. Und dank Bora. Eine Geschichte vom Wind mag ich sie nun noch mehr. Weil sich die beiden Romane stark voneinander unterscheiden: Wo der eine melancholisch und poetisch war, ist der andere heiter und gefühlvoll. Und weil sie beide gut sind. Die Hauptstimme dieses herrlichen Sommerbuchs gehört Mara, aber auch Andrej kommt zwischendurch zu Wort – und der Perspektiven- bzw. Stilwechsel ist der Autorin gut gelungen. So entsteht ein vollständiges Bild dieser frisch aufflammenden Liebe. Obwohl ich traurig-düstere sowie fies-sarkastische Bücher liebe, schlägt mein Herz auch für Lovestorys. Wenn sie niveauvoll sind. Ich finde es schön, wenn zwei sich treffen, sich sehen bis innendrin, sich erkennen, sich lieben, wenn alles zusammenpasst und ineinander fällt.

Genauso ist es in Bora. Eine Geschichte vom Wind. Mara und Andrej haben sich – um die ausgelutschte Floskel zu bemühen – gesucht und gefunden. Es hat mir ein fettes Grinsen ins Gesicht gesetzt, wie Mara anfangs versucht, Andrejs Anziehungskraft zu widerstehen, und wie lächerlich süß sie sich dabei benimmt. Denn es ist egal, ob man ein Teenie ist oder Ende vierzig: Wenn die Schmetterlinge durch den Bauch tanzen, kann man nicht mehr klar denken. Während der Lektüre war ich gespannt auf das Ende. Würde Ruth Cerha es schaffen, weiterhin so grandios den Kitsch zu umschiffen und trotzdem einen stimmigen Schluss finden? Die Antwort lautet: Ja. Das passt gut zusammen, wie Mara und Andrej, wie dieser Roman und der Sommer, wie Ruth Cerha und ich.

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Bora. Eine Geschichte vom Wind von Ruth Cerha ist erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt (ISBN 978-3-627-00215-2, 256 Seiten, 19,90 Euro). Interessante Rezensionen zum Buch findet ihr auf We read Indie, Revolution, Baby, Revolution, Buchrevier und bei Frau Hauptsachebunt.

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Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„EsIMG_9068 ist nicht möglich, die eigene Haut ganz abzustreifen, in die von jemand anderem zu schlüpfen“
Foss ist dabei, als seine Mutter stirbt, er sieht, wie sie stürzt, als er sie im Altenheim besucht. Er ist geschockt und traurig und vergräbt sich noch weiter in dem Loch, in dem er seit dem Unfalltod seiner Frau vor sich hin vegetiert. Einst war er ein bekannter Fotograf, heute lebt er von den Tantiemen und verlässt seine Wohnung nicht mehr. Bis er sich nach Japan aufmacht, um Mr. Satoshi zu suchen. An ihn ist ein Päckchen adressiert, das sich in der Hinterlassenschaft der Mutter befindet und das ihr offenbar sehr wichtig war. Foss findet alte Briefe, geschrieben in den 1940er-Jahren, die zeigen, dass seine Mutter und Mr. Satoshi sich einst sehr geliebt haben. Doch er hat nie von ihm gehört, seine Mutter hat diesen Namen nie erwähnt. Was ist geschehen? Die Neugier und das Pflichtgefühl bringen Foss dazu, seine Angststörungen mit Tabletten zu unterdrücken, in ein Flugzeug zu steigen und in Japan nachzuforschen. Hilfe bekommt er dabei von der jungen, hübschen Chiyoko, die in einem Hotel lebt und arbeitet und sich gemeinsam mit Foss auf die Suche nach der Wahrheit über seine Mutter macht.

Jonathan Lee, 1981 geboren, hat mit Wer ist Mr. Satoshi ein sehr gefühlsbetontes Buch geschrieben über einen gebrochenen Mann, der nichts mehr vom Leben erwartet – und dann plötzlich doch noch so viel Lebenswertes entdeckt. Der englische Autor hat selbst einige Zeit in Tokio gelebt und sich dort zu diesem Roman inspirieren lassen. Seine Begeisterung für alles Japanische merkt man dem Buch deutlich an: Die ungewöhnlichen Sitten und Bräuche des Landes werden genau durchleuchtet, und es wird viel Sushi verspeist. Protagonist Foss ist ein völlig lethargischer Typ, der um seine verlorene Frau trauert und mit Panikattacken kämpft. Er ist ebenso orientierungs- wie antriebslos, das Ausmaß seiner Apathie zeigt sich zum Beispiel an diesem Dialog:„Ach komm, Fossy, du musst da rausgehen und für das kämpfen, was du willst!“
„Ich kämpfe ja.“
„Sieht aber nicht so aus.“
„Es spielt sich innerlich ab.“

Dass sich das japanische Mädchen an Fossy hängt und ihm hilft, ist mir ein Rätsel und ein recht unglaubwürdiger Aspekt an dem Buch. Aber es ist natürlich klar, dass es ohne Chiyoko nicht geht. Die Beziehung der beiden ist mysteriös und nicht unbedingt sexuell, was aber eher an den Tabletten liegt, die Foss nimmt. Die Aufklärungen, die am Ende des Romans warten, sind – das dürft ihr euch nicht erhoffen – nicht sonderlich überraschend. Sie sind vielmehr, da sie um Jahrzehnte zu spät kommen, sehr deprimierend. Wer ist Mr. Satoshi ist eine Geschichte über eine junge Liebe, die nie sein konnte, weil sie von einem schrecklichen Ereignis zerquetscht wurde, über eine Frau, die ihr ganzes Leben lang unter einem Verlust gelitten hat, und über ihren Sohn, der erst alles verlassen muss, um wieder zu sich selbst zu finden.

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Wer ist Mr. Satoshi? von Jonathan Lee ist erschienen bei btb (ISBN 978-3-442-75386-4, 320 Seiten, 14,99 Euro).

Und wer JETZT ein Exemplar von Wer ist Mr. Satoshi gewinnen möchte, schreibt mir hier einfach als Kommentar eine Antwort auf die Frage: Was ist für dich typisch japanisch? Über den Gewinner entscheidet das Los, und Zeit zum Mitmachen habt ihr bis Freitag, 14. August. Ich bin gespannt und wünsche viel Glück!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

GiordanoIn der menschgemachten Hölle
Afghanistan. Ein von Taliban kontrolliertes Tal. Und eine Handvoll junger Soldaten – von denen nicht alle lebend hier rauskommen werden. Da ist der Militärarzt Egitto, der längst schon nach Hause könnte, aber nicht will. René ist der verantwortungsbewusste Zugführer, Cederna der Macho und Piesacker, Ietri der unschuldige Jungspund. Als einzige Frau hat die Soldatin Zampieri, in die Jungfrau Ietri sich verliebt, es nicht einfach in der Kompanie. Zusammen mit vielen anderen durchleben sie in Afghanistan eine prägende Zeit zwischen lähmender Langeweile und nervenzerreißender Todesangst. Manch einer muss sterben. Und die, die am Leben bleiben, werden niemals so sein wie zuvor.

Der italienische Autor Paolo Giordano, 1982 geboren, hat in jungen Jahren mit Die Einsamkeit der Primzahlen einen internationalen Bestseller gelandet, der mit dem renommierten Premio Strega ausgezeichnet und zudem verfilmt wurde. Ich hab ihn damals gelesen und sehr gemocht. Für sein zweites Buch hat der Italiener sich dann fünf Jahre Zeit gelassen, und er hat sich dafür ein Setting ausgesucht, das schon per se nach großen Gefühlen und Drama schreit: junge Soldaten in Afghanistan. Was treibt sie an, was suchen sie in diesem wildfremden, gefährlichen Land, und wie leben sie dort? Wie Paolo Giordano davon erzählt, wirkt – nicht, dass ich es wirklich beurteilen könnte – recht authentisch und glaubwürdig. Die Fadesse im Lager, die kleinen Machtspielchen der Kameraden, die Freude auf ein bisschen Nervenkitzel, die grenzenlose Naivität. Seine Protagonisten sind wie Kinder, die Krieg spielen – und als der Krieg sie plötzlich einholt, sie umzingelt, sie abknallt und einkassiert, sind sie erschrocken, denn so haben sie sich das nicht vorgestellt. Danach folgt erst mal Leere, ein Trauma, ein grenzenloses Verlustgefühl. Keiner der Überlebenden kann dort anknüpfen, wo er vorher aufgehört hat.

Meisterhaft ist Der menschliche Körper nicht. Gut zu lesen schon. Es ist in einer klaren, soliden Sprache geschrieben, gebaut wie ein schön verfugtes Mauerwerk. Es macht Sinn, hat eine intakte Erzählstruktur und geht in die Tiefe. Trotzdem hätte ich mir ein wenig mehr Ecken und Kanten gewünscht, mehr Risse, mehr Ausbrüche aus der geradlinigen Form. Es kommt mir vor, als habe Paolo Giordano mit seinem Zweitling kein Risiko eingehen wollen. Das hat er einerseits gut gemacht, andererseits ist es ein wenig schade. Dennoch ein sehr lesenswertes, intensives, melancholisches Buch. Empfehlung!

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Der menschliche Körper von Paolo Giordano ist erschienen bei rororo (ISBN 978-3499255083, 416 Seiten, 19,95 Euro, aber auch als Taschenbuch erhältlich).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_8931„It’s not finding what’s lost, it’s understanding what you’ve found“
Treten Sie ein, kommen Sie näher, schauen Sie, staunen Sie! Wir schreiben das Jahr 1911 in New York, die Stadt wächst, langsam verschwindet die  Natur, und all die Menschen, die hierherkommen, wollen unterhalten werden! Deshalb fahren sie nach Coney Island, ins Museum von Professor Sardie, denn dort gibt es
ein Mädchen mit Schmetterlingsflügeln
einen Wolfsmann
missgebildete Embryonen, viele Exponate und
Coralie, die lebende Meerjungfrau!
Sie ist Professor Sardies Tochter, gehorsam und still, mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern und der Fähigkeit, sehr lange unter Wasser zu bleiben. Coralie ist im Museum aufgewachsen, ohne Kontakt zu anderen Menschen, sie ist das Geschöpf des Professors und hat keinen eigenen Willen. Bis sie auf Eddie Cohen trifft. Und sich in ihn verliebt. Eddie wiederum stammt aus einer streng orthodoxen Familie, ist mit seinem Vater in die USA geflohen und hat sich später von ihm abgewendet. Schon mit 13 Jahren hat Eddie sein eigenes Geld verdient, indem er verschwundene Menschen aufspürte. Als Hunderte Mädchen in einer brennenden Fabrik ums Leben kommen, die Leiche eines bestimmten Mädchens aber fehlt, erhält Eddie den Auftrag, es zu finden – tot oder lebendig. Er folgt einer Spur, die ihn zu Professor Sardie führt – und zu Coralie …

Alice Hoffman, eine der Königinnen der amerikanischen Unterhaltungsliteratur, ist mir bereits früher begegnet, und ich kenne immerhin zwei ihrer knapp 30 Bücher. Sie denkt sich fantasievolle Storys aus und ist ein Garant für solides Schreibhandwerk, Spannung und ein bisschen Kitsch. Ich habe mir The museum of extraordinary things ganz bewusst für die Flugreise nach Barcelona ausgesucht – etwas Leichtes für unterwegs, in dem ich während der Warte- und Flugzeit schmökern kann, ohne dass es mich so sehr gefangen nimmt, dass ich etwas Wichtiges verpasse (wie mein Flugzeug). Und es war die richtige Wahl, wobei es mir während der Lektüre sogar noch besser gefallen hat als erwartet.

Ich mag es, wenn Autoren sehr sorgsam und verhätschelnd mit ihren Figuren umgehen, das gibt den Büchern eine sanfte und liebevolle Note, was sehr erholsam ist bei all den Ohrfeigen, die sie in den Romanen bekommen, die ich sonst meistens lese. Aus der Sicht von Coralie und Eddie wird diese wildromantische Geschichte rund um menschliche Sensationsgier, einen skrupellosen Professor und ein unheimliches Museum erzählt. Sie spielt in einem New York des Wandels und am Rand einer Zeit, die in Vergessenheit versinkt, und es hat eine düstere, melancholische Stimmung. Das ganze Buch wirkt wie eine vergilbte alte Fotografie, die Wehmut hervorruft und ein Lächeln. Sehr märchenhaft, bezaubernd und schön.

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The museum of extraordinary things von Alice Hoffman ist bei Simon & Schuster erschienen und wurde (noch) nicht auf Deutsch übersetzt.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_8763„Gott ist ein schlechter Gärtner. Er stellt uns wie Pflanzen in ein Glashaus, gießt ein paar Mal drüber und geht dann ins Wirtshaus“
„Wie leicht haben es doch diejenigen, die nicht mehr auf der Suche nach der großen Liebe sind, die die Suche entweder aufgegeben haben oder sich mit dem begnügen, was sie einst gefunden haben.“ So weit ist Marie allerdings noch lange nicht. Und Jakob auch nicht. Im Gegenteil: Sie ist mit ihrer großen Liebe Joe nicht mehr zusammen, er fadisiert sich mit Freundin Sonja. Als Marie und Jakob in einem Café aufeinandertreffen, erwacht das Interesse von beiden – und zumindest einer verliebt sich. Joe ertrinkt unterdessen, und zwar absichtlich. Sein bester Freund Gery ist beim Selbstmordsprung dabei, und er kann das nicht verwinden. Seine Wege kreuzen sich mit denen von Sonja, die Liebeskummer hat und etwas Neues sucht. So verbandeln und verstricken all die Menschen sich ein Jahr lang miteinander, lernen sich kennen und verlieren sich, erzählen von früher und leiden im Heute – bis zur Testamentseröffnung exakt 12 Monate nach Joes Tod. Eingeladen sind nur Marie und Gery, und Joe hat detaillierte Anweisungen hinterlassen, die sein Freund Palicini im Wiener Prater umsetzt. Auf die beiden wartet eine große Überraschung …

Mittelstadtrauschen, das 2013 erschienene Debüt der österreichischen Autorin Margarita Kinstner, wurde mir mehrfach ans Herz gelegt – und hat auch allerlei Lob eingeheimst. Es erzählt nicht unbedingt eine vielschichtige, aber eine vielmenschliche Geschichte, denn es bildet – wie das Cover zeigt – ein Gefüge ab, das zwischen den einzelnen Romanfiguren entsteht. Verstrickungen und Verbindungen, Liebe und Freundschaft: Wer mit wem und warum – das ist die Frage, die Margarita Kinstner stellt und beantwortet. Gewählt hat sie dafür einen unprätentiösen Stil und eine schlichte, manchmal lieblich-naive Sprache, die perfekt zum Inhalt passt. Denn Mittelstadtrauschen ist ein nostalgisches Buch, ein liebes, unkantiges Buch, das von der Macht des Zufalls berichtet und von dem Karussell, in dem wir alle sitzen: Der eine liebt das Mädchen vor ihm und wird geliebt vom Mädchen hinter ihm – und es dreht sich und dreht sich, immer weiter …

Ich habe Mittelstadtrauschen im Urlaub gelesen, und das war herrlich. Denn es liegt nicht schwer im Bücherwurmmagen, bietet aber feine Unterhaltung auf sehr gutem Niveau. Heiter und schlau ist die Geschichte, und auch wenn die Protagonisten reichlich verplant und lahmarschig daherkommen, hat die Story einen angenehmen Drive. Das Ende ist schön kitschig, vorhersehbar und trotzdem wunderbar – genau, wie es sein muss. Leseempfehlung!

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Mittelstadtrauschen von Margarita Kinstner ist erschienen im Deuticke Verlag (ISBN 978-3-552-06226-9, 288 Seiten, 20,50 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_8658Ich hab ganz vergessen, was ich …
Maud hat richtig viele Pfirsichdosen in ihrer Küche. Das liegt daran, dass sie, wenn sie im Supermarkt steht, vergessen hat, warum sie gekommen ist. Überhaupt vergisst Maud so ziemlich alles: dass sie gerade das Gas eingeschaltet hat, um zu kochen, wie ihre Enkelin heißt und wohin ihre beste Freundin Elizabeth verschwunden ist. Die geht nämlich nicht ans Telefon und öffnet die Tür nicht – aber sie würde doch nie verreisen, ohne Maud Bescheid zu geben. An ihrem letzten gemeinsamen Abend waren die beiden kurz davor, ein jahrzehntealtes Geheimnis zu lüften … aber was ist dann geschehen? Und was weiß Elizabeths unfreundlicher Sohn? Maud ist fest entschlossen, ihre Freundin zu finden, stößt jedoch bei ihrer Tochter Helen sowie bei der Polizei auf wenig Verständnis für ihre Verdächtigungen. Und niemand erkennt, dass Maud weiter und weiter in die Vergangenheit abrutscht, 70 Jahre zurück, in jene Zeit, in der ein Untermieter in ihr Elternhaus einzog, eine verrückte Frau durch die Straßen lief und Mauds geliebte Schwester für immer verschwand …

Eigentlich ist die Geschichte, die in Elizabeth is missing von Emma Healey steckt, recht simpel – und das Rätsel wäre leicht zu lösen. Denn alle Hinweise liegen direkt vor meiner Nase. Ich kann sie bloß nicht sehen – weil ich durch die Augen von Protagonistin Maud schaue, und Maud ist dement. Die junge Autorin hat für ihren Erstling eine ungewöhnliche Perspektive gewählt: Sie lässt die Story von einer alten Frau erzählen, die sie eigentlich nicht erzählen kann, weil sie keine Zusammenhänge mehr erkennt, sämtliche Details vergisst, Namen durcheinanderbringt und nicht mehr weiß, was sie 30 Sekunden zuvor getan hat. Und genau deshalb ist dieser Roman so originell. Wer jedoch jetzt denkt, Emma Healey würde sich in den vielen offenen Fragen und Wiederholungen verstricken, liegt falsch. Sie nutzt vielmehr den trüben Blick von Maud, um mich als Leserin nach allen Regeln der Kunst zu verwirren.

Hochgeistige Literatur ist das freilich nicht. Ich habe Elizabeth is missing im Urlaub gelesen, und dafür war es absolut perfekt. Weil es leicht und unterhaltsam ist, dabei aber durchaus ein bisschen Tiefgang hat. Denn eine Demenzerkrankung ist tragisch und traurig – für den Betroffenen genauso wie für die Angehörigen. Die Verwirrung und die Verzweiflung hat Emma Healey spürbar gemacht. Maud ist ratlos, gefangen in ihrer eigenen Welt, absolut liebenswert – und klärt trotz allem ein Verbrechen auf. Sehr gut gemacht!

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Elizabeth is missing von Emma Healey ist 2014 unter dem Titel Elizabeth wird vermisst bei Bastei Lübbe erschienen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Jügler„Kleine Wellen pflanzen sich zu immer größeren fort“
„Ich bin auf den Tag genau sechzehn Jahre alt. Eine Umarmung meiner Mutter ist ungefähr das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.“ Noch um einiges schlimmer ist für Daniel allerdings, dass sein Großvater an ALS erkrankt. Ihre Beziehung ist vor allem von einem geprägt: dem Fischen. Als Daniel vier Jahre alt war, durfte er zum ersten Mal mitfahren nach Schweden, wo seine Großeltern eine Hütte besaßen, und bekam eine Kinderangel in die Hand gedrückt. Stundenlang saß er mit seinem Opa auf dem Boot und lernte alles über die Unterwasserwelt: „Daniel, stell dir vor, du bist schwach. Alles in dir ist auf Ruhe ausgerichtet. Du kannst nicht stundenlang mit dem Jagen deiner Nahrung verbringen. Du kannst es nicht: Es ist Winter. Dein Herz schlägt nur noch so oft wie nötig.“ Der Großvater war streng, es gab öfter mal eine Ohrfeige oder Hausarrest, und er verbot ihm den Umgang mit dem Schweden Henrik. Der Grund dafür hatte jedoch mehr mit der Großmutter zu tun. Nun muss Daniel zusehen, wie dem Großvater die Kontrolle über seinen Körper abhandenkommt, wie er sich am Familientisch beim Kuchenessen verschluckt, nicht mehr aus dem Bett aufstehen kann, ins Heim ziehen muss. Da gibt es für den Teenager nur eine Möglichkeit: Er nimmt seinen Großvater mit. „Das Beatmungsgerät liegt neben dem Kescher auf dem Boden des Bootes. Ich habe es in eine Tüte gepackt, damit es nicht nass wird. Ein Schlauch und ein paar Kabel liegen herum. Sie führen nach oben und verschwinden unter seinem langärmeligen Hemd. Die Batterie seines Beatmungsgerätes ist frisch aufgeladen. Dreieinhalb Stunden noch.“

Raubfischen ist ein stilles Buch, schön wie ein glasklarer, ruhiger See – und auf den zweiten Blick voller Untiefen. Der junge Autor Matthias Jügler skizziert darin die Freundschaft zwischen einem Jungen und seinem Großvater, die gar nicht so harmonisch und liebevoll ist, wie man das erwarten würde, für den 16-jährigen Protagonisten aber dennoch sehr wichtig. Während er erwachsen wird, geht das Leben des Großvaters zu Ende – und zwar au sehr unwürdige und tragische Weise. Der Roman besteht aus verschiedenen Ebenen: den Erinnerungen an Schweden, der Gegenwart mit der Krankheit sowie Einschüben über das Verhalten von Fischen. Die Mixtur ist gut gelungen. Überhaupt beweist Matthias Jügler in diesem feinsinnigen Roman ein gutes Gespür für Stimmungen, Gefühle und Kummer. Sein Sprachnetz ist durchwirkt von Melancholie und Wehmut. Daniel muss lernen, loszulassen, er muss etwas aufgeben, das er nicht missen will, und er muss sich verabschieden. Er tut dies mit einer waghalsigen Aktion, die verrückt ist und menschlich und gut. Genau wie dieses Buch.

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Raubfischen von Matthias Jügler ist erschienen im Blumenbar Verlag (ISBN 978-3-351-05014-6, 224 Seiten, 16 Euro). Hier findet ihr den Trailer zum Buch.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_8476Ein heiterer türkischer Reigen
„Veganer haben es schwer in der Türkei, ganz besonders die, die wirklich kein Fleisch essen.“ In diesem sarkatisch-selbstironischen Ton sind die Momentaufnahmen in Rache auf Türkisch gehalten: Askim Utkuseven präsentiert Szenen und Skizzen, witzige Augenblicke und feurige Dialoge – die alle einem Motto unterstellt sind, wie beispielsweise Erben, Beten, Betrug, Ehekrach. Jede Geschichte ist kurz, im Durchschnitt etwa zehn Seiten lang – und überaus erheiternd. Da gibt es den jungen türkischen Mann, de ehrenhaft versucht, seine vegan lebende Freundin in der Türkei satt zu bekommen, eine rasante Führerscheinprüfung auf Türkisch oder eine Frau, die weiß, dass ihr Bräutigam sie betrügt und die ihn deshalb finanziell bis auf die Unterhosen auszieht. Da wird geschrien und getobt, auf die Seite gesprungen und köstlich gekocht, alles auf Türkisch eben.

Es braucht wohl jemanden mit einem feinen Blick auf die eigene Kultur, um so spitzfindige Beobachtungen zu Papier zu bringen. Die Autorin zieht zudem die messerscharfe Grenze zu den deutschen Sitten, denn die meisten Erzählungen finden in Deutschland mit Deutschtürken statt. Askim Utkuseven ist in Istanbul geboren und schreibt ganz ausgezeichnet über türkische Klischees: „Hüte deine Zunge, Frau, ich bin ein Türke, ich habe meinen Stolz, und heute siege ich, ich unterwerfe mich weder der Gesellschaft noch meiner Mutter!“ Ich habe mich glänzend amüsiert und kann euch dieses besondere kleine Buch zur Erheiterung für zwischendurch auf jeden Fall empfehlen.

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Rache auf Türkisch von Askim Utkuseven ist erschienen im Divan Verlag (ISBN 978-3-86327-025-4, 160 Seiten, 15,90 Euro). Hier könnt ihr der Autorin ein bisschen beim Lesen zusehen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Meyer„Gefährliche Sache, diese frojen! Lächeln dich an und schon sagst du zu allem Ja“
Motti heißt eigentlich Mordechai Wolkenbruch und ist ein orthodoxer Jude. Seit seine mame sich in den Kopf gesetzt hat, dass er heiraten soll, präsentiert sie ihm eine Kandidatin nach der anderen – und alle sehen aus wie sie. Also nicht gut. Aber für seine Ausflüchte hat sie kein Verständnis: „Offenbar herrschte im Gehirn meiner Mutter ein permanenter Kurzschluss, egal wie man die Kabel auch immer legte.“ An einer anderen Frau hat Motti dagegen sehr wohl Interesse: an seiner Kommilitonin Laura – doch die ist leider eine Schickse. Und das ist in Familie Wolkenbruch ein absolutes Tabu, denn sie lebt streng religiös und hält sich an die Regel, dass Juden am besten unter sich bleiben: „Die briln ist vom jüdischen Optiker, die matraz vom jüdischen Bettwarenhändler und das ojto vom jüdischen Garagisten.“ Was also tun, wenn das Herz in die eine Richtung zieht – und die Familie in die andere?

Was für ein saulustiges Buch! Ich habe mich mit Thomas Meyer und seinem Motti glänzend amüsiert – auf der Rückreise von der Leipziger Buchmesse, wo dieses Buch zu meinem großen Glück den Weg in meine Tasche gefunden hat (nein, ich habe es nicht geklaut). Erst mal war ich erstaunt darüber, dass Thomas Meyer beinhart so viel Jiddisch einbaut. Nach zwei, drei Seiten fand ich das aber gleich richtig toll und originell. Bei allen bisher verspeisten Büchern mit jüdischen Protagonisten ist mir sowas bisher noch nie untergekommen. Quasi sofort hat sich das pure Vergnügen eingestellt – und ist bis zum Schluss geblieben, obwohl der Roman ganz anders endet, als ich es erwartet habe. Motti ist ein supersympathischer Buchheld, der aus dem Judentum auftaucht wie aus der Versenkung. Er hat sein Leben hinter einer großen Schutzmauer verbracht – und als er erkennt, dass es „da draußen“ schickere Brillen, Alkohol, Partys und Sex gibt, will er verständlicherweise nicht mehr zurück. Allein – seiner Familie fehlt dieses Verständnis komplett. Deshalb ist es einigermaßen herzzerreißend, Motti dabei zuzusehen, wie er nach einem Weg für sich selbst sucht – und wie er letztlich, um ihn zu finden, alles verlieren muss. Trotz dieser traurigen Seite an der Geschichte ist Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse ein sehr heiteres, intelligentes und unbedingt zu lesendes Buch!

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Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse von Thomas Meyer ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-24280-5, 288 Seiten, 10,90 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Thomas Meyers Entwicklungsroman im Stile Woody Allens ist eine religiöse Emanzipationsgeschichte – mit zuverlässig witzigen Pointen“, heißt es auf faz.net.
– „Thomas Meyer, in seinem zweiten Leben offenbar als sprach- und kommunikationsgetriebener Werbetexter tätig, erzählt dies alles frisch und leicht, durchsetzt mit unzähligen jiddischen Einsprengseln“, wird auf nzz.ch geschwärmt.
– Und das ist die Meyer’sche Website.