Bücherwurmloch

Kai Wieland: Amerika

„Die Literatur ist einfach nichts Handfestes. Du kannst dich nicht auf sie verlassen“
Im schwäbischen Rillingsbach gibt es kaum etwas, und bald gibt es vielleicht auch den Schippen nicht mehr, das einzige Gasthaus. Aber noch schenkt Martha aus, noch sitzen hier jeden Abend dieselben Gestalten, noch werden ihre Geschichten erzählt. Deshalb bekommt er etwas zu hören, der Chronist, der nach Rillingsbach reist und Fragen stellt. Wobei, so viel muss er nicht fragen, denn das Erzählen fließt ohnehin aus ihnen heraus, aus Hilde und Alfred und Frieder, weil da so viel ist, das sie schon oft gesagt haben, und so viel, das sie noch nie gesagt haben, weil es ein wenig Glanz in ihr Leben bringt, dass jemand plötzlich etwas wissen will. Da landet alles auf dem Bartresen, was sie wieder und wieder durchgekaut haben in all den Jahren, da wird jedoch auf einmal auch serviert, was sie stets verschwiegen haben.

Es gibt viele Metaphern für das Leben. Einen Boxring, eine Achterbahn, ein Spiel – einig ist man sich, dass das Leben nicht immer gleich verläuft, und manchmal ist eine Spanne von zehn Jahren so schnell erzählt wie ein einziger Nachmittag.

Kai Wieland geht erstaunlich sanft mit seinen Figuren um. Er gruppiert sie dort im Schippen, er widmet ihnen Zeit, er hört ihnen zu. Nie stößt er sie zu fest, er stupst sie höchstens, es ist auch kaum notwendig, so bereitwillig machen sie ihre Münder auf. „Du bist so nett zu deinen Figuren“, hab ich ihm geschrieben, da hatte ich den Roman gerade erst begonnen, „als würdest du sie mögen.“ „Das tu ich auch“, war seine Antwort, und das merkt man. Das gibt dem Roman eine eigene Ruhe, eine Gesetztheit, und das ist erstaunlich, denn dramafrei ist er nicht. Er kommt so beschaulich daher und berichtet dann doch von einem Mord, von Verlassenwerden und Missbrauch, von Wünschen, die sich nie erfüllt haben, von Resignation und Kummer.

Man kann sein Leben jederzeit ändern, wenn man zu einem Kurswechsel wirklich bereit ist und keine Angst hat. Oder, besser noch: Wenn man getrieben ist von der Angst, alles könne für immer bleiben, wie es ist.

Kai Wieland hat beim Blogbuster 2017 für Aufsehen gesorgt – und darüber den wohlverdienten Buchvertrag generiert. Sehr gespannt war ich auf dieses Debüt, von dem ich viel Gutes im Vorfeld gehört hatte, zumal Kai dieselbe beste Agentin der Welt hat wie ich. Und, was soll ich sagen, diese Agentin hat nun mal ein gutes Händchen für Talente, auch Denis Scheck war von Amerika begeistert. Es ist ein Buch, das sich Zeit lässt, das verlangt, dass man sich anpasst als Leser, dass man sich in den Schippen setzt und alles andere vergisst, das einen sonst stresst und die Aufmerksamkeit besetzt.

„Ein Buch ist wie ein Mensch. Wenn du es immer fleißig fütterst, setzt es den Speck irgendwann von ganz alleine an. Jeder, der es wirklich möchte, kann ein Buch schreiben“, lässt Kai Wieland eine seiner Figuren, die er so mag, sagen, und nun ja – Speck hat sein eigenes Buch gar nicht so viel angesetzt, und ich bin mir außerdem sicher: Nicht jeder hätte es schreiben können, sondern nur er.

Geschichten wie diese tragen ein systematisches Risiko in sich, nämlich peinlich zu werden, wenn man sie den falschen Leuten erzählt.

Das ist zum Glück nicht geschehen, denn Kai Wieland hat diese Geschichte den richtigen Leuten erzählt – und auf die richtige Weise.

Lieblingszitat:

Wissen Sie, Gottlob, das Wichtigste ist, nicht auf Teufel komm raus etwas Tiefsinniges schreiben zu wollen. Man kann die Welt ja doch nicht neu erfinden, man kann sie nur neu ordnen. Alles wurde schon einmal gedacht. Stattdessen lasse ich die Worte einfach fließen, und der Rest ergibt sich von allein. Nur ganz selten, wenn ich ausnahmsweise einmal nicht auf der Hut bin, rutscht selbst mir ein tiefsinniger Gedanke heraus.

Amerika von Kai Wieland ist erschienen bei Klett-Cotta (ISBN 978-3-608-96261-1, 240 Seiten, 20 Euro).

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