„Nur vergessen will sie, schnell, alles“
Niemandem kann ein Mensch mehr als seiner eigenen Mutter vertrauen, und meine ist im gleißenden Tageslicht verschwunden, das der spröde Asphalt und die Wellen spiegeln, die immerfort an die Küsten Marseilles schlagen.
François ist ein Findelkind, ausgesetzt in einem Einkaufswagen. Er wächst bei Adoptiveltern auf, bei denen er sich nie zuhause fühlt, und haut ab, als er gerade mal alt genug dazu ist. Eine Freundin findet er in Lucy, die wie er adoptiert wurde. Was soll er aus seinem Leben machen, wohin kann er gehen, was kann er werden? François findet überraschend schnell einen Platz in einem dubiosen Hotel, das ein ehemaliger Schulkollege von ihm führt. Dort hockt er dann und bewegt sich nicht mehr fort, und man hat das Gefühl: dass er ausgesetzt wurde und seither wartet, das hört irgendwie nicht mehr auf.
Hans Platzgumer hat mich mit Am Rand, das 2016 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand, nachhaltig beeindruckt. Umso mehr hab ich mir von seinem neuen Werk erwartet. Und es beginnt auch diesen Erwartungen entsprechend: Wunderschöne erste Seiten, sehr tiefsinnig, über das Dasein als Findelkind, über das Gefundenwerden, den Beginn des Lebens als einer, der nicht gewollt wurde. Die Szene, in der François und Lucy einander kennenlernen, ist großartig, sie sprüht vor Ideenreichtum und macht Versprechungen. Bloß habe ich dann während der Lektüre mehr und mehr das Gefühl, dass diese Versprechungen nicht eingehalten werden. François und Lucy werden nicht so gute Freunde, wie dieser Anfang verheißt – und auch der gesamte Roman ist nicht so, wie ich es mir erhofft habe.
Sprachlich ist der Musiker Hans Platzgumer auch in seinem sechsten Buch virtuos und sicher, das ist völlig klar. Nur die Geschichte versandet, und ich kann das nicht ganz nachvollziehen. Warum all diese Fäden lockerlassen, warum sie nicht zusammenführen, zu einer Story spinnen? Wieso ist Protagonist François derart passiv und antriebslos, derart hineingesetzt in ein Leben, das er vorbeistreichen lässt, ohne es zu führen? Weshalb geht seine Suche nach dieser Frau, die ihm einen Zettel hinterlassen hat, so ins Leere? Ist die Botschaft des Buchs, dass nichts aus einem werden kann, wenn man als Kind ausgesetzt wurde, dass man es nie überwinden kann, so behandelt worden zu sein? Dass man stets darauf warten wird, gefunden zu werden, ohne ein einziges Abenteuer wahrzunehmen, das man erleben könnte? Ich weiß es nicht, und in den Rezensionen, die ich zu diesem Buch gelesen hab, kam es mir vor: Die anderen wissen es auch nicht.
Drei Sekunden Jetzt von Hans Platzgumer ist erschienen bei Hanser (ISBN 978-3-552-05885-9, 256 Seiten, 22 Euro).