Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_8511„Bei uns ist man stolz darauf, das wildeste, böseste Volk der Welt zu sein“
„In Guerrero regierten Hitze, Leguane, Spinnen und Skorpione. Das Leben war so gut wie nichts wert.“ Das gilt besonders für das Leben eines Mädchens. Denn neben dem tödlichen Getier herrschen in diesem öden Dschungelgebiet Mexikos auch die Drogenbosse. Sobald sie hören, dass es irgendwo ein hübsches Mädchen gibt, kommen sie und holen es, verkaufen und benutzen es. Deshalb muss die junge Ladydi – benannt nach der britischen Prinzessin – möglichst hässlich aussehen. Und wenn ein SUV am Horizont auftaucht, rennen die Mädchen zu den Erdlöchern, die ihre Mütter für sie gegraben haben, und verstecken sich. Als Ladydis Freundin Paula eines Tages nicht schnell genug ist, wird sie verschleppt. Retten kann sie niemand, schon gar nicht ihr Vater, denn der ist ebenso verschwunden wie die meisten Männer von Guerrero. Auch Ladydis Vater ist über die Grenze in die USA gelangt und hat den Kontakt zu ihnen abgebrochen. Ihre Mutter, immer schon so rau und unzugänglich wie die unwirtliche Landschaft, ist seitdem noch härter geworden. Ladydi ist ein stilles, von all den Unmöglichkeiten und dem Schmerz erfülltes Mädchen: „Meine Haut war die Innenseite und all meine Adern und Knochen die Außenseite. Besser, ich stieß mit niemandem zusammen, dachte ich.“ Kaum hat sie die Schule beendet, will sie fort, und ihr Cousin Mike bietet ihr dazu die Chance in Form einer Stelle als Kindermädchen in der Stadt. Doch dann hält Ladydi plötzlich ein großes Paket Heroin in der Hand und zwei Menschen sind tot.

Die amerikanische Autorin Jennifer Clement wuchs in Mexiko-Stadt auf und hat für diesen Roman zehn Jahre lang vor Ort recherchiert. Durch die vielen Gespräche mit mexikanischen Frauen, die unter den kriminellen Machenschaften der Drogenbosse leiden, ist es ihr gelungen, in Gebete für die Vermissten ein sehr konkretes und authentisches Bild der Betroffenen zu zeichnen. Ihre Protagonistin Ladydi ist zwar introvertiert und nachdenklich, aber auch knallhart und gewieft. Die Art, wie sie zwischen Skorpionen und Vergewaltigern aufwächst, hat nicht das Geringste mit meiner eigenen behüteten Kindheit zu tun. Die Mädchen von Guerrero sind rund um die Uhr in Gefahr, und außer dieser Gefahr bietet ihnen ihr Heimatort nur Alkoholiker, Pflanzengift und Drogen. Jennifer Clement bedient sich für diese harte Geschichte einer harten Sprache, ihre Worte sind geschliffen wie die Machete von Ladydis Mutter. Sie kennt keine Gnade, sie erzählt vom Leben dort so ungeschönt und schroff, wie es eben ist. Diese Direktheit hat eine ganz eigene Eleganz und Eindringlichkeit, die ich sehr mag. Dies ist ein Buch, das einen unmittelbar an den Haarwurzeln packt und daran rüttelt. Dabei ruhig zu bleiben, ist schlicht unmöglich. Tagelang geht mir das Gelesene nicht aus dem Kopf. Und auch jetzt sind die Bilder noch überaus lebendig. Gebete für die Vermissten ist daher nichts für Leser mit schwachen Nerven – aber perfekt für alle, die eine gute Story und ausgezeichnete Bücher lieben.

Banner

Gebete für die Vermissten von Jennifer Clement ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42452-0, 228 Seiten, 19,95 Euro). Hier könnt ihr auch einen Trailer zum Buch anschauen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Helle„Solange ich die Dinge nur denke, tun sie niemandem was“
„Mein Problem ist, ich liebe eine Frau, aber ich glaube, ich werde irgendwann aufhören, sie zu lieben, und ich lehne eine Welt ab, in der das möglich ist. Mein Problem ist, ich bin Philosoph, und ich beschäftige mich mit Bewusstsein, also mit dem, was man früher Seele genannt hat, und ich habe manchmal Angst, die anderen könnten recht haben, die sagen, Bewusstsein ist nur eine Illusion, denn wenn sie recht haben, sind wir, wenn wir tot sind, einfach tot.“ Probleme hat der junge Philosoph allerhand:
1. Er ist in New York. Die Frau, die er liebt, ist nicht in New York.
2. Er soll einen Vortrag über das Bewusstsein halten, und ihm fällt kein Wort ein.
3. Er denkt. Zu viel. Nie kann er aufhören zu denken: „Als ich zu Hause bin, setzte ich mich an den Küchentisch und versuche, an nichts zu denken. Es klappt nicht. Je konzentrierter ich die Wörter aus meinem Bewusstsein wegschiebe, desto härter prallen sie wieder zurück, von den Wänden, den Möbeln, den ungeöffneten Briefen zwischen den alten Zeitungen auf dem Tisch, von der Farbe des Himmels, der Form der Wolken, dem Geruch in der Küche.“
4. Er kann nicht glücklich sein: „Ich überlege, ihr zu sagen, dass ich nur dann glücklich bin, wenn ich mich nicht frage, ob ich glücklich bin, und dass ich mich das eigentlich immer frage, außer wenn ich esse, saufe, scheiße oder ejakuliere.“
5. Er kann nicht treu sein. Nicht einmal ein bisschen: „Es ist mir physikalisch nicht möglich, das Auftauchen eines weiblichen Körpers in meinem Gesichtsfeld zu ignorieren.“
6. 1–5 sind ihm stets bewusst und er denkt ohne Unterlass darüber nach.

Heinz Helle hat in New York studiert – und zwar Philosophie. Anders gesagt: Damit hat er quasi Recherchearbeit betrieben für seinen ersten Roman Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin. Denn der Protagonist, der namenlose Ich-Erzähler, befindet sich in New York – und er ist Philosoph. Das Denken über das Denken bestimmt all sein Tun, seine Wahrnehmung, jede Minute seines Seins. Es gibt für ihn keinen Zustand, in dem er frei wäre vom Philosophieren. Und das ist sehr anstrengend. Nicht nur für ihn, auch für mich. Denn ich bin zwar nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen, fühle mich aber, wenn ich die ganze Zeit über die Box in der Box in der Box nachdenke, irgendwann komplett zusammengeschrumpelt. Das klingt dann so: „Wenn man, während man etwas tut, außerdem denkst, dass man etwas tut, ist man weniger gut in dem, was man tut, weil man ja einen Teil von dem, was man braucht, um zu tun oder zu denken, dafür verwendet zu denken, was tu ich hier eigentlich?“ Ich kann mich die ganze Lektüre über nicht entscheiden, ob ich den Herrn Philosoph vor Mitleid umarmen oder ihm eine Kugel zwischen die Augen jagen will.

Das Leben ist kompliziert. Und für den Ich-Erzähler in Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin ist es sogar so kompliziert, dass man sich fragt, wie er es eigentlich erträgt. Er verwickelt sich so sehr im Strudel seiner Gedanken, dass er alles, woran ihm etwas liegt, an die Wand fährt. Er kann das Leben nicht genießen. Nur in vereinzelten hellen Augenblicken gelingt es ihm, sich von dieser Selbstbehaftung zu lösen: „Wir sehen und hören nichts mehr, wir sind einfach da, an einem zufälligen Ort, zu einem zufälligen Zeitpunkt, und unsere Gehirne hören auf, Informationen über die Umgebung zu prozessieren oder Daten zu analysieren, Pläne, Ideen, Gründe dafür, dass wir hier sind, dass wir wir sind, dass wir sind, Die Welt ist hell, windig und kalt. Und wir sind in ihr.“ Dieser Roman, der mit gerade mal 159 Seiten recht fragmentarisch bleibt, liest sich wie ein innerer Monolog – und ist dabei wirklich gut geschrieben. Heinz Helle hat am Schweizerischen Literaturinstitut gelernt und arbeitet als Werbetexter, er hat beim Ingeborg-Bachmann-Preis gelesen und wurde mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet, er weiß, was er tut. Wer sich mit Philosophie beschäftigen mag, wer einen Hang zu melancholischem Nachdenken hat, ist damit ganz sicher gut bedient. Ich hab es gern und schnell gelesen, und am Ende war ich froh, kein Philosoph zu sein. Ich hätte mir längst selbst zwischen die Augen geschossen.

Banner

Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin von Heinz Helle ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42398-1, 159 Seiten, 18,95 Euro).

Was ihr tun könnt:
Dem Autor beim Lesen zuhören und die lobenden Worte der Zeit vernehmen, die den Roman souverän, intelligent und geglückt nennt.
Ein paar Rezensionsnotizen beim Perlentaucher dazu lesen.
Euch ein Interview mit Heinz Helle im Regen anschauen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.