Für Gourmets: 5 Sterne

Ein rasanter Ritt, der den Staub auf den Erinnerungen aufwirbelt
“Da war ich also. Angekommen. Ha, angekommen! Ich war in diese Stadt zurückgekehrt, die eine riesige Rumpelkammer ist, Matsch und Oliven, Staubschönheit, Abende auf der verlassenen Terrasse des Hotels Ilirija, Schwermetalle in der Luft, Kot und Kiefernholz, Katzen und glitschige Fischschuppen auf der öligen Helling und das Meer glatt gezogen bis Dezember, wenn die Südwestwinde wehen.” Es ist die dalmatinische Stadt Dubrovnik, die Dada mit diesen Worten so plastisch beschreibt, die sie schmecken und riechen lässt, ihre kroatische Heimat, gezeichnet vom Krieg und der Erholungsgier der Touristen. Die junge Frau – die im Alten Ort Rusty genannt wird wegen der roten Haare – hat ihr Studium in Zagreb abgebrochen und einen Mann ohne ein Wort verlassen, hat sich in den Zug gesetzt nach Hause. Hier lebt die Schwester und gibt Acht auf die Mutter, damit diese nicht zerfällt in ihrer Trauer um den Vater und den Bruder. Der Vater starb an den Folgen seiner Arbeit in der Zementfabrik, Dada denkt gern an ihn und seine wilde Leidenschaft für Cowboys: “Der Papagei imitierte das Pfeifen, mit dem uns Vater immer rief, und jagte uns damit Angst ein, denn Vater war streng. Erst später wurde er weicher, erinnere ich mich, als hätte er gewusst, dass zu nichts mehr Zeit bleibt außer zum Spielen.” Daniel dagegen – und das ist die Tragödie, die die zersplitterte Familie in ihren Fängen hält – hat sich mit 18 Jahren vor den Intercity Osijek-Zagreb-Split geworfen. Dada hat ihn geliebt, als Kind war sie mit ihm enger verbunden als mit der großen gehässigen Schwester. Sie waren die Cowboys, die gegen die Indianer – die Irokesen-Brüder vom Schienenclan – kämpften. Seit Jahren fragt sich Dada, was geschehen ist. Und will endlich eine Antwort.

Lebt wohl, Cowboys ist ein sprachmächtiger, gewaltiger, unendlich melancholischer Roman, manchmal so erfüllt von grandiosen Satzperlen, klingenden Metaphern, verblüffenden Formulierungen, dass es dem Leser nur so in den Ohren braust, manchmal so still und eindrucksvoll, wie es nur das Meer sein kann an einem bewegungslosen Tag. Olja Savičević ist eine Meisterin der Erzählkunst, eine Talentierte, eine Zauberin der Buchstaben. Sie beschwört den kleinen Ort Dubrovnik herauf in all seinen staubigen Farben, an dem es heiß ist und trotz der vielen Touristen gespenstisch menschenleer, an dem es dunkel ist wegen der verdrängten Geschichte und außerdem langweilig, erschreckend langweilig. Hier ist die eigenwillige Dada aufgewachsen, die xenophobische Züge zeigt, die sich nicht niederlassen kann und so viel Sehnsucht in sich trägt. Ein bisschen Zufriedenheit und Ruhe zu finden, wird ihr erschwert durch die Lücken, die das Schicksal in ihre Familie gerissen hat. Der Schwester mit der scharfen Zunge ist ihr beißender Sarkasmus ein Halt, der Mutter sind nur die Telenovelas und die Grabpflege geblieben. Dada hat sich entzogen, entfernt: “Ich habe sie jahrelang nicht berührt, dachte ich, und drückte ihr einen Kuss auf die kalte trockene Wange. Sie roch noch immer nach Talg. Es war merkwürdig, Ma zu berühren, dachte ich. Es war, als berührten sich zwei ohne Haut.” In diesen Tagen zu Hause denkt Dada nach über ihren Bruder, über sein Wesen, seinen Tod: “Er besaß diese Weichheit und Intensität eines ernsthaften Jungen. Aber eben, Zartheit ist auf unterschiedliche Arten anziehend, sie zieht auch die an, die sie zerstören wollen, manche Leute nervt sie einfach, ich weiß das, es gab viele, die ihn schlagen wollten. Anders zu sein, war schon immer ein ausgezeichneter Grund, um geschlagen zu werden.” Warum Daniel sich das Leben genommen hat, wissen die drei Frauen nicht – aber vom Herrn Professor könnte Dada es erfahren, von dem Mann, mit dem Daniel befreundet war, der im Ort als Pädophiler beschimpft und zusammengeschlagen wurde, der lange verschwunden war und jetzt – wie Rusty – wieder da ist.

Es gibt sie, jene Bücher, die lebendig sind, deren Düfte und Stimmungen, deren Figuren und Landschaften man wahrnehmen, angreifen, spüren kann, so eindringlich sind sie. Lebt wohl, Cowboys von Olja Savičević ist ein solches Buch. In einer wunderbar direkten, herrlich vulgären, rastlosen Sprache erzählt die junge kroatische Autorin von einer intensiv erlebten Kindheit und ihren Helden, vom Tod und den Schmerzen, die er auslöst, von Hitze, Krieg und dem Wilden Westen, der eigentlich überall sein kann. Das Mosaik aus Erinnerungen, Gegenwart, Notizen und Briefen ergibt ein faszinierendes Leseerlebnis voll bildhafter Eindrücke, sentimentaler Wahrheiten und augenzwinkernder Erkenntnisse über das Leben in all seiner Schmutzigkeit. Ich bin ganz verliebt in diesen tabulosen, mit Emotionen aufgeladenen Stil und empfinde manche Absätze als derart gut geschrieben, dass ich sie mehr als einmal lesen muss – und das als jemand, der schon von Berufswegen her eher dem Überfliegen zugeneigt ist. Nein, hier gibt es nichts zu überfliegen, im Gegenteil, aufsaugen muss man dieses Buch in all seinen Einzelheiten, in all seiner Traurigkeit und Klugheit. Dies ist ein klebriger, bitterer, starker Roman, gewichtig, poetisch und wunderschön. Sind andere Bücher Brot, dann ist Lebt wohl, Cowboys eine Torte. Mit Schokoladenglasur.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein eher unauffälliges, aber grafisch tolles Cover, mit einer schönen Schrift, die aussieht wie gewebt.
… fürs Hirn: die intelligenten Seitenhiebe auf die Gesellschaft, die angesichts von persönlichen Katastrophen in Häme verstummt.
… fürs Herz: alles. Die Erinnerungen an die Kindheit, an die Wildheit, die Trauer, der Tod, die Cowboys, das Gefühl, am Leben zu sein, während die anderen gestorben sind.
… fürs Gedächtnis: die originellen Beschreibungen. Ein Beispiel: “Marijana hat einen langen Kopf, auf Pferdeart schön, man kann ja nicht sagen, dass Pferde nicht schön sind, doch ihr Körper ist riesig, er quillt über, wenn er stillsteht, er verursacht Ebbe und Flut, wenn er sich bewegt.”

Lebt wohl, Cowboys ist erschienen bei Voland & Quist (ISBN 978-3-938424-81-0, 19,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Musik, oh wundersame Musik
“Musik war für die Frau, wie für ein ganz junges Kind, das perfekte Medium, um ihrer Innenwelt Ausdruck zu verleihen.” Und in den Goldberg-Variationen von Bach findet die Frau, die sich zur Pianisten ausbilden ließ, eine Möglichkeit, die Finger zu beschäftigen, während sie ihre Gedanken der Tochter widmet, die auf tragische Weise ums Leben gekommen ist. Jede der Variationen ist eine Herauforderung am Klavier, ist mit einem Thema kombiniert und mit einer Erinnerung verbunden – an die Tochter als junges Mädchen, als Studentin, als erwachsene Frau. Die Mutter schreibt ihre Gefühle auf, wendet sich der Musik und zugleich der Sprache zu: “Die Worte waren ein Netz zum Einfangen der Tochter.” “Die Frau war noch nicht wirklich das, was man eine alte Frau nennen würde, aber ein gutes Stück dem Ende entgegengekommen war sie schon.” Und dass sie nun den Rest des Weges ohne ihre Tochter gehen muss, ist für die Frau unerträglich. Auch die Beschäftigung mit Bach und seiner goldenen Musik kann den Schmerz nicht lindern.

“Musik lehrt einen eigentümliche Dinge über die Zeit, dachte die Frau, als sie kurz mit den Händen im Schoß auf die nackten Noten starrte. Musik führte aus der Zeit heraus und schuf einen inneren Zustand, in dem von Zeit noch keine Rede war. Musik erfüllte so sehr, dass Uhren aufhörten zu ticken. Und doch gab kein anderes Medium das Verstreichen der Zeit so präzise an.” Es ist Anna Enquists hochgelobter Roman Kontrapunkt, der mich – nicht zum ersten Mal in meinem Leben – wünschen lässt, ich hätte Ahnung von Musik. Eine Leidenschaft für Musik habe ich nie entwickelt, zu groß war seit jeher die alles verzehrende Liebe zur Literatur. Aber Anna Enquist, selbst Pianistin, verknüpft in diesem Buch Musik ganz eng mit Sprache. Für Musikliebhaber muss Kontrapunkt ein wahrer Lesegenuss sein, ich dagegen kann die beschriebenen Melodien nicht erklingen lassen, kann sie nicht hören, manche Passagen über die Musik sind mir so unzugänglich, als wären sie in einer Kunstsprache geschrieben: “Die Frau spielte die tragische Variation und fühlte sich in die verschiedenen Stimmen ein. Die Mittelstimme mit ihren klagenden Sekundenschritten. Den Bass, der dabei mitmachte. Die zerbröckelte, aufs Äußerste gedehnte Melodie, die zum Schluss bei vollem Bewusstsein in die Tiefe stürzte. Die scheußliche Dissonanz im letzten Takt vor der Wiederholung des zweiten Teils: ein fis und ein g, knallhart, gleichzeitig, dicht beisammen, um eine Lösung ringend.” Wissen über Musik hätte sicher zu meinem Verständnis dieses Romans beigetragen, aber auch so kann ich die Schwingungen spüren, die Stimmungen erfühlen (und ich kann die Goldberg-Variationen über youtube kennenlernen). Und diese Stimmungen sind in erster Linie Trauer, Schmerz und Wut.

Der Verlust hat in die Frau hineingeschnitten wie ein blitzendes Skalpell, Fingerübungen, Noten, Klänge und das Schreiben sind der Verband, der die Blutung stoppen soll. Etwas merkwürdig finde ich, dass es stets nur “die Frau” und “die Tochter” heißt, das macht den Erzählton sehr distanziert und durchzieht ihn mit einer unangebrachten Kühle. Vermutlich aber soll dieser erzählerische Schachzug die Universalität der Geschichte verdeutlichen. Bestsellerautorin Anna Enquist hat mit Kontrapunkt ein würdevolles, gramerfülltes Klagelied vom Abschiednehmen verfasst und eine Melodie über das Muttersein komponiert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr ruhiges, dunkles Cover mit einer Hand, die sich auf einem Klavier spiegelt. Eventuell hätte man die ebenfalls gespiegelte Steckdose wegretuschieren können.
… fürs Hirn: viel Wissenswertes über das Klavierspielen und Bach.
… fürs Herz: Schmerz. Nie sollte eine Mutter ihr Kind begraben müssen.
… fürs Gedächtnis: die Notenzeilen am Beginn der Kapitel.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Bis dass der Tod euch scheidet
Paul und Skarlet sind seit der Kindergartenzeit Freunde: Beiden hat es Tante Edeltraud nicht leicht gemacht, Skarlet wegen der ungewöhnlichen Schreibweise ihres Namens, Jean-Paul wegen der Un-DDR-Haftigkeit des seinen. Es gelingt ihnen das Kunststück, über all die Jahre nicht den Kontakt zueinander zu verlieren; sie erleben den Fall der Mauer, sie studieren in Leipzig, Paul heiratet und wird Vater. Nun ist Skarlet 40. Und Paul ist tot.

Alle sterben, auch die Löffelstöre erzählt die Geschichte einer engen Freundschaft, die der Tod beendet. Viel zu früh stirbt Paul – und Skarlet muss einen Weg finden, mit ihrer Trauer umzugehen. Sie lässt die Zeit mit Paul, dem Zauberer, dem verrückten, leichtfüßigen Lebemann, Revue passieren, erinnert sich, wie er sie im Kindergarten vor dem ekligen Glas Milch mit Haut rettete, an die gemeinsame Schulzeit, an Pauls Makel wegen seiner Makellosigkeit. Paul war stets fröhlich und liebte Geschichten: “Paul hatte bei einer Feier einmal behauptet, er könne Wodka in Wasser verwandeln. Er hatte die Gläser vollgegossen, Simsalabim. Sie hatten getrunken, und Paul hatte sich geschüttelt und gesagt: Versuch mißlungen!” Wie soll Skarlet diesen Verlust verkraften? Sie findet keinen Halt, sie ist geschieden, ihre erwachsene Tochter ist im Ausland, der Job im Zoo macht ihr keinen Spaß, er ist einfach an ihr haften geblieben wie ein nasses Blatt. Sie sucht nach den richtigen Worten, um Paul und seine Freundschaft, die nie infrage gestellt wurde, in einer Grabrede zu ehren. Paul war ein stiller Revoluzzer, der stets wusste, was er wollte, und als er endlich das Glück fand, erkrankte er.

Kathrin Aehnlichs Buch über das Abschiednehmen ist nicht pathetisch, auch nicht übermäßig schwermütig – und doch ist von vornherein klar, dass es hier um Traurigkeit und Trauer gehen wird, dass ein jedes Lächeln nur eines unter Tränen sein kann. Darauf muss man sich als Leser bewusst einstellen. Bücher können ganz klar Stimmungen auslösen und steuern – Heiterkeit ist in Alle sterben, auch die Löffelstöre eher fehl am Platz. Zwar funkelt dieser Roman sprachlich nicht gerade, der Stil ist aber solide, gut lesbar, die Sätze klar und klangvoll. Insgesamt ein nachdenkliche, zärtliches Buch, das mit einem Schlusssatz überrascht, der zu den besten gehört, die ich je gelesen habe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein metaphorisch bildliches Cover, bedeckter Himmel, ein Weg, der ins Nirgendwo führt.
… fürs Hirn: das Nacherleben von DDR und Mauerfall.
… fürs Herz: das Wissen, dass wahre Freundschaft so wertvoll ist wie Liebe.
… fürs Gedächtnis: der wunderbare Schlusssatz (nicht vorher lesen!).