Für Gourmets: 5 Sterne

Lamrabet12 berührende Geschichten über die Unterschiede der Kulturen
„Aber ich war schwach, und ich hatte das Pech, in einer Gesellschaft zu leben, in der man die Schwachen aufs Abstellgleis schob, sie mundtot machte, damit andere für sie sprechen mussten, die ihnen ihre Gesinnung, ihr Verständnis darüber, was gut oder schlecht war, aufzwängten und es verteidigten, ohne richtig zuzuhören, worum es eigentlich ging.“ Melek Ozgül weiß, wovon sie spricht, sie kämpft vor Gericht um ihren kleinen Sohn Furkan, der ihr weggenommen wurde und nach christlichem Glauben getauft werden soll. Calixe hat ebenfalls einen Sohn, aber keinen Vater dafür, und da er wegen seiner dunklen Hautfarbe von manchen Tagesmüttern abgelehnt wird, muss sie ihn in dem Altersheim, in dem sie arbeitet, bei einem der Senioren verstecken. Rachid dagegen hat Probleme, überhaupt Arbeit zu finden, obwohl er fließend Niederländisch spricht. Aber dass er aus Algerien stammt, macht ihn in den Augen der potenziellen Arbeitgeber zum Terroristen. Um einen Job zu ergattern, lügt er und bringt sich dadurch in eine schwierige Lage: „Manchmal frage ich mich, an welcher Stelle die Wahrheit und mein Leben beschlossen haben, verschiedene Wege einzuschlagen.“ Amal Hayati ist ehrlich, als sie sich um einen Ausbildungsplatz bewirbt, bekommt ihn aber wegen ihres Kopftuchs trotzdem nicht. Auch die anderen Protagonisten dieser Geschichten haben es nicht so einfach, wie sie es sich wünschen würden …

Rachida Lamrabet wurde in Marokko geboren und lebt in Belgien. Sie arbeitet als Juristin im Zentrum für Chancengleichheit und Bekämpfung von Rassismus und so gehen die 12 Geschichten in ihrem Buch Über die Liebe und den Hass vermutlich auf ihre persönlichen Erfahrungen zurück. Menschen unterschiedlichster Herkunft – aus Afghanistan, der Türkei oder Afrika – suchen darin nach einem guten Leben, nach einer fairen Chance, Akzeptanz und ein bisschen Glück. Manchmal finden sie es, meistens bleibt es ihnen verwehrt. Rachida Lamrabet hat einen stechend scharfen Blick für die Umstände, mit denen diese Menschen umgehen lernen müssen, sie zeigt Szenen von Unverständnis, Ausgrenzung und Rassismus, aber auch von Annäherung und gutem Willen – etwa wenn eine niederländische Frau ein Kopftuch aufsetzt, um zu spüren, wie sie dann behandelt wird. Die 12 Geschichten sind klug, pointiert, ab und zu witzig und an anderen Stellen zutiefst traurig. Nie habe ich das Gefühl, dass die Autorin mich belehren oder verurteilen will, was ich bei Büchern mit diesem Hintergrund als wichtig empfinde, sie bietet mir vielmehr einen eindrucksvollen Blick in die Welt jener, die mitten unter uns und doch im Verborgenen leben. Ein Buch, das ganz sanft und schlau für mehr Toleranz wirbt und den Mix der Kulturen als schwierig, aber interessant zeigt. Sehr gut!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein ästhetisch schönes Cover, das mich aber nicht aufmerksam auf das Buch gemacht hätte.
… fürs Hirn: Toleranz, Integration, Rassismus.
… fürs Herz: die unfassbar traurige Geschichte des Marokkaners, der vom Bruder seiner Verlobten attackiert wird.
… fürs Gedächtnis: manch amüsanter Satz, wie etwa: „An dem Tag, als Hannelore Vederlicht beschlossen hatte, sich nicht mehr weiter um die himmelschreiende Sinnlosigkeit ihres Daseins zu kümmern, wurde sie von außerirdischen Wesen entführt.“

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Abonji„Es gibt immer einen Tag, an dem der Krieg vorbei ist, warum sollte dieser Tag nicht morgen sein?“
„Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten“, sagt die Mutter von Ildiko und Nomi, die seit vielen Jahren in der Schweiz leben und dort, wo die Gemeinschaft über ihren Verbleib abstimmt, eines Tages die Chance bekommen, ein Café zu führen. Sie arbeiten hart, die ganze Familie, sie arbeiten für Akzeptanz und Integration und Geld, sie arbeiten gegen die Vorurteile und gegen die Angst. Die Verwandten, die zurückgeblieben sind in Jugoslawien, leben anfangs ein wenig bescheidener und benachteiligter, aber dann leben sie plötzlich mitten im Krieg. Und Ildiko, die gerade dabei ist, einen Weg ins Erwachsenwerden zu finden, erinnert sich an die vielen Besuche in der alten Heimat als Kind, an Feste und Beerdigungen, an Mamikas Geschichten und den Geschmack von Limonaden, die es nicht mehr gibt, aber die Gefahren der Gegenwart ignoriert sie. Der Alltag von Vater, Mutter, Nomi und Ildi wird geprägt von der Arbeit im Café, von den Ansprüchen der Stammgäste, von Stoßzeiten und stickiger Luft – der Krieg zuhause bleibt außen vor, wird verdrängt. Sie können niemanden aus dem belagerten Land herausholen, sie können nur warten und hoffen.

Mit ihrem Roman Tauben fliegen auf hat die in Serbien geborene Autorin Melinda Nadj Abonji, die seit ihrem fünften Lebensjahr in der Schweiz wohnt, 2010 sowohl den Schweizer als auch den Deutschen Buchpreis gewonnen. Sie konnte mit Sicherheit aus dem Fundus ihrer eigenen Erfahrungen mit der Schweizer Fremdenfeindlichkeit schöpfen, die als Freundlichkeit oder Gleichgültigkeit getarnt ist. Sie erweckt jene Welt am Balkan zum Leben, die – zumindest in Teilen – verschwunden ist und aus der so viele Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz stammen, weil sie fliehen mussten vor dem Bürgerkrieg mitten in Europa. In uferlosen, überbordenden Sätzen taucht Ich-Erzählerin Ildiko ein in das Land ihrer Kindheit, schmeckt die traditionellen Gerichte der in Serbien beheimateten Ungarn, hört Mamikas Lieblingslied im Ohr: „Wenn ich ein Fluss wäre, wäre Schmerz mir fremd, zwischen Bergen und Tälern würde ich leise fließen …“ und vermischt die Gefühle jenes Lebens, das sie aufgrund der Auswanderungsentscheidung ihrer Eltern nie geführt hat, mit der Realität des Alltags in der Fremde – die inzwischen genauso Heimat ist.

Tauben fliegen auf ist ein Buch voller Wehmut und Sentimentalität, voller Sehnsucht nach etwas, das man nie hatte. Der Klappentext zitiert die NZZ und nennt Melinda Nadj Abonjis Schreiben „die zeitgemäße Form, über Emigration, entschwindende Heimat und das Leben im Dazwischen“ zu erzählen. Dieser Roman ist gefüllt mit Sätzen, in denen ich ertrinke, weil mir die Luft ausgeht, lange bevor ein Punkt am Ende in Sicht ist. Die Ich-Erzählerin ist eine genaue Beobachterin, die nicht immer prägnant formuliert, aber stets trifft: „In dieser Zeit habe ich gelernt, dass es Menschen gibt, die liefern Gesprächsstoff, und die andern, die brauchen ihn.“ Weitaus nüchterner und weniger poetisch als das thematisch vergleichbare Buch Die undankbare Fremde von Irena Brežná ist dieses Buch – aber nicht weniger gut. Dieser Roman ist wie das Statement einer Generation, die sich weit entfernt hat von ihren Wurzeln, diese aber nicht vergessen kann. Beeindruckend, gefühlvoll, schön.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist gut gemacht, der Wagen hat Bezug zum Inhalt.
… fürs Hirn: noch ein Buch über dieses Thema – mag sein, aber es ist ausgezeichnet und verdient es, gelesen zu werden. Davon abgesehen, dass das Thema nun einmal ein wichtiges ist.
… fürs Herz: Ildikos erste Liebe.
… fürs Gedächtnis: die Sprachgewalt.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Vom Fremdsein
Lillian hat schon lange darüber nachgedacht, zu fliehen: Seit 15 Jahren lebt sie mit ihrem Mann Joseph in Österreich, doch sie stammt aus den USA und ist nie heimisch geworden in den Tiroler Bergen, in der Kultur, die nicht die ihre ist, in der kantigen Sprache. Zwei Kinder hat sie bekommen mit Joseph, doch sie konnte und durfte ihnen nichts von ihr selbst geben, nicht die Reime und Lieder ihrer eigenen Kindheit, sie fühlt sich ihnen nicht verbunden, man hat sie ihr weggenommen, so scheint es ihr. Es hält sie nichts in Tirol, und sie spart seit 10 Jahren für ihren Aufbruch, aber gegangen wäre sie wohl nie, hätte sie nicht den jungen Sänger Alan aus Amerika kennengelernt, in den sie sich verliebt und zu dem sie schlussendlich ziehen will. Mit großen Erwartungen fliegt sie zurück in ihre Heimat – doch die hat sich ebenso verändert wie Lillian selbst, und das Problem mit Illusionen ist ja bekanntlich, dass sie an der Realität zerschellen wie Muschelschalen.

In fremden Städten ist ein psychologisch ausgefeilter Roman der österreichischen Autorin Anna Mitgutsch, die seit vielen Jahren mit ihrem literarischen Können aufmerken lässt. Mit ihrer Protagonistin Lillian hat sie eine entwurzelte Frau geschaffen, die sich fremd und ungesehen fühlt, die sich nicht integrieren kann und will in die österreichische Kultur, an der sie viel auszusetzen hat. Sie ist überzeugt davon, dass es an den Menschen liegt, am Ort, dass sie nicht glücklich ist – und muss sich letztlich doch der Erkenntnis beugen, dass sie ob ihrer Ruhelosigkeit wohl nirgends glücklich geworden wäre. Sie ist ein introvertierter Mensch und lässt den Leser teilhaben an ihren Gefühlen, an ihrer Hoffnung und ihrer Sehnsucht, eine Schriftstellerin zu sein, und gleichzeitig ist sie überraschend blind für die Gründe ihres Scheiterns. Dieser Roman ist wie ein innerer Monolog, eine Gedankensammlung zum Thema Fremdsein und Sprache.

In fremden Städten ist ein interessanter, kluger Roman über Wurzeln und Heimat, über Integration, Egoismus und Illusionen. Die zahlreichen geradlinigen Formulierungen sind eine Bereicherung: “Er entzog sich, indem er in zwei Sprachen schwieg”, heißt es beispielsweise über Lillians Sohn, oder: “Erst als er fort war, fand sie seine Beteuerungen und Versprechen wie vergessene Gegenstände, die einem nichts mehr bedeuten, über die ganze Stadt verstreut, banale Sätze, bei Vernunft betrachtet, zu peinlich, um sie sich zu wiederholen” über Alan. Lillian ist nicht unbedingt sympathisch, ich empfinde sie vielmehr als naiv. Nicht ganz zufrieden bin ich mit dem Ende, das den Leser ein bisschen in der Luft hängen lässt – ansonsten aber ein außergewöhnlicher und beeindruckender Roman.