Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Irrwitzige Geschichten aus dem polnischen Plattenbau
“An zwei Orten wurde der Andrang immer größer: in der Kirche und vor Jericho, dem Schnapsladen. Aber viele fingen auch an, sich aufzuhängen. Und alles nur wegen der Arbeitslosigkeit!” In einer polnischen Plattenbausiedlung dominieren Beton, Gewalt und Langeweile. Um wenigstens ein bisschen Sinn in ihrem Dasein zu sehen, müssen die Bewohner tief in der Fantasiekiste kramen: Der Ich-Erzähler schmückt das Leben der bekanntesten Siedlungsgestalten zu Heiligenlegenden aus. In kurzen Episoden berichtet er, aus welchem Grund sie jeweils zu Heiligen wurden – was in den meisten Fällen natürlich den vorangegangenen Tod der Leute bedingt. Da gibt es etwa den heiligen Haidegger, der sich um die ungeliebten und vergessenen Wörter kümmerte, oder den heiligen Kyrill, der gratis für alle starb, die gerade selbst keine Zeit hatten. Der heilige Egon dagegen sorgte dafür, dass jede einzelne Fernsehsendung in den Himmel kam, doch: “>Ach herrje!<, stöhnte Sankt Egon, >die Werbung! Ich habe die Werbung vergessen! Die Ärmste, wer wird sich jetzt um sie kümmern, wer für sie um Vergebung bitten?< >Zum Teufel mit der Werbung<, brummte Sankt Peter. Und so kam die Werbung in die Hölle.”

Klingt verrückt? Ist es auch. Man kann Die Vorstadtheiligen nicht einmal ansatzweise mit normalen Maßstäben beurteilen. Dieses Buch zu lesen, ist wie durch einen Zoo voller nie gesehener Fabelwesen zu spazieren: Jedes Kapitel wartet mit dermaßen schrägen Einfällen auf, dass man aus dem Staunen und aus dem Kopfschütteln nicht mehr herauskommt. Über manche kuriose Begebenheit in diesem ungewöhnlichen Roman amüsiere ich mich gar königlich: “Wir waren alle kugelrund. Auf der einen Seite hatten wir einen Zipfel, auf der anderen ein Loch, und so kullerten wir von früh bis spät durch die Siedlung. Das Schicksal gab dir mit seinem Queue einen Stoß, Mann, und du wusstest nie, auf wen du knalltest. Dem Pfarrer gefiel das überhaupt nicht.” Eine große Rolle in Lidia Amejkos Sammlung moderner Heiligengeschichten spielt natürlich Gott: Er hat die Siedlung aus einem achtlos hingeworfenen Batzen Beton geschaffen, und mit ihm bekommen es alle Heiligen eines Tages zu tun. Im Leben müssen sie allerdings ohne seine Hilfe auskommen.

Lidia Amejko hat eine wilde Mixtur angerührt aus irdischer Trostlosigkeit und alltäglichen Problemen, angereichert mit viel Alkohol und gewürzt mit einem kräftigen Schuss Metaphysik. Ihre Geschichten sind kluge Allegorien, groß angelegte, geniale Metaphern – manche davon leicht zu entschlüsseln, andere höchst undurchsichtig. Es gibt Abschnitte in diesem Buch, die ich nicht im Geringsten verstehe, andere sind sehr erheiternd. Lidia Amejko wagt sich auch an eine Art Metasprache, stellt die Wörter wie handelnde Personen in die Welt, und wer einen Eindruck von der Genialität dieses Romans gewinnen möchte, nimmt es in der Buchhandlung in die Hand und schlägt Seite 64 auf, wo es um die obdachlosen Wörter geht. Die Vorstadtheiligen ist alles andere als leichte Kost. Die Charaktere sind bewusst extrem überzeichnet, der Inhalt kippt immer wieder ins Surreale. Dafür aber garantiert dieses Buch ein Leseerlebnis, das man im Gegensatz zu den vielen öden 08/15-Romanen nicht so schnell vergisst. Der Ideenreichtum der Autorin ist beeindruckend, ihre Formulierungen sind wunderbar und auf den Punkt gebracht: “Am Küchentisch schoben sie sich gegenseitig die Stille zu, hielten sich ihre Seufzer unter die Nase und ließen ihre Hände wie leere Teller über das Wachstuch wandern” zum Beispiel oder: “Irgendwann später wurde die Nacht klein und fest, wie ein Stück Schokolade, das am Ende des Tages auf seinem Kopfkissen lag.” Respekt! Dieser Roman ist völlig verquer, absurd, sehr originell, gleichzeitig amüsant und verstörend. Bemerkenswert finde ich auch das wirklich gelungene Cover. Die Vorstadtheiligen ist sicher keine einfache Unterhaltungslektüre – aber ein lesenswertes Abenteuer!

Die Vorstadtheiligen ist erschienen im Dumont Buchverlag (ISBN 9783832195526, 18,95 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ein Epos über einen Sohn und seinen Vater
Jasper ist der Sohn von Martin Dean. Und während es generell niemanden auszeichnet, der Sohn von jemandem zu sein, ist das in diesem Fall tatsächlich eine Leistung: Jasper wird mit den philosophischen Halbweisheiten seines grüblerischen Vaters großgezogen und mit seinen Geschichten. Zum Beispiel jener über Terry Dean, Martins Bruder und Australiens berühmtesten Mörder. Die Geschichte über seine tote Mutter Astrid muss sich Jasper allerdings mithilfe der Notizbücher seines Vaters selbst zusammenreimen. Im Reigen der Menschen in Jaspers Leben gibt es noch den undurchsichtigen Eddie und Caroline, zugleich Terrys und Martins große Liebe. Wie Jasper mit seinem Vater ringt, ihn aus dem Irrenhaus holt, in ein Labyrinth zieht und schließlich Hals über Kopf mit ihm fliehen muss – davon erzählt Steve Toltz in A fraction of the whole.

Dies ist ein absordes, verrücktes Buch, in dem stets, wenn man sich gerade wieder gemütlich eingelesen hat, etwas absolut Unerwartetes geschieht. Steve Toltz strotzt offensichtlich nur so vor schrägen Einfällen, die er allesamt in diesem 700-Seiten-Wälzer (auf Deutsch hat der Roman mit dem Titel Vatermord und andere Familienvergnügen gar 800 Seiten) gepackt hat. Der junge Autor, der es mit diesem fulminanten Werk auf die Shortlist des Man Booker Preises geschafft hat, schildert eine ungewöhnlich enge Vater-Sohn-Beziehung, die teilweise monströse Auswüchse annimmt. Jasper kann sich nicht lösen vom dominanten Vater, seinen absurden Ideen, seinen Krankheiten und Erzählungen. Schlimm ist es für ihn während der Pubertät, weil er mit den üblichen Problemen, der ersten Liebe und dem wahnsinnigen Vater gleichzeitig zu kämpfen hat. Es gibt Momente, da erinnert mich dieses Buch an John Irvings Romane, der ja auch einen starken Hang zu Vater-Sohn-Bindungen hat und immer wieder höchst eigenwillige Charaktere erfindet.

Steve Toltz schrammt oft haarscharf am Unglaublichen vorbei. Deshalb muss man sich ganz bewusst fallen lassen in dieses Lesevergnügen, es in seiner Verrücktheit annehmen und aus dem Vollen schöpfen. Manche Vergleiche sind so genial, dass sie einem richtig auf der Zunge zergehen: “Dad’s smile grew even wider, making him look like a chimpanzee who’d had peanut butter smeared on his gums for a television commercial” zum Beispiel oder: “Becoming a public figure is like befriending a Rottweiler with meat in your pocket”. Steve Toltz überzeugt mich durch seine Formulierungen: “Dad was having trouble breathing, as if something were blocking his airway – maybe his heart” und seinem Einfallsreichtum. Einziger Wehrmutstropfen ist, dass das Ende im Vergleich zu den durchgedrehten Ereignissen davor fast ein wenig unspektakulär daherkommt. A fraction of the whole ist ein Feuerwerk von einem Buch, klug, witzig und sehr originell.

 5

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Zwei Schwestern und die Gefahren des Lebens
“I’m Kate, muimui, little sister. I’m not supposed to have my own secrets, my own needs, my own desires. I’m supposed to be swamped with hers. There’s not enough room for both of us.” Die stille Kate ist 13 und steht im Schatten ihrer promiskuitiven 15-jährigen Schwester Frankie, sie ist die Hüterin von Frankies Geheimnissen. Während der Vater als Kriegsfotograf in Vietnam die Gräuel des Todes festhält, leben Kate und Frankie mit ihrer Mutter in Hongkong zur Zeit von Mao. Sie geraten bei einem Aufstand selbst in die Schusslinie, was jedoch keiner bemerkt. Kate zerbricht fast an der Last auf ihrer Seele, über die sie mit niemandem sprechen kann, mit ihren Eltern nicht, auch nicht mit dem stummen Jungen, in den sie verliebt ist, und schon gar nicht mit der egozentrischen Frankie, die stets um Aufmerksamkeit buhlt: “More crucial, do we love Frankie? Do we love her enough? Can we? Do I? Does my father? My mother? She isn’t sure. That’s why she throws herself at men: George, my father’s friends. That’s why she runs after the Red Guards. She wants to see if we can stop her.” Je exhibitionistischer sich Frankie verhält, umso verschlossener wird Kate. Und während die Mutter ahnungslos ihre Landschaftsbilder malt, steuert die Familie auf eine Katastrophe zu …

Gwaimui, white ghost girls, nennt die Haushälterin Ah Bing die ungleichen Schwestern. In dieser Bezeichnung schwingt das Unheilvolle mit, das diesen Roman auszeichnet, das Traurige, Tragische. In einer sehr reduzierten Sprache erzählt Alice Greenway von einem Mädchen, das sich bewusst der Gefahr aussetzt, um etwas zu fühlen, um gerettet zu werden, und seiner Schwester, die dem Schicksal letztlich nichts entgegenzusetzen hat. White Ghost Girls ist ein ebenso zärtliches wie grausames Buch, eine Erzählung, die mit leichten Worten daherkommt und mit Wucht zuschlägt. Sparsam und klug gesetzt sind die Formulierungen, treffsicher die Metaphern: “That night I dream of blue swallowtail butterflies. They hover in the air like a kaleidoscope, alight on my body, drinking sweat from my skin.” Wunderschön.

4

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Eine Erzählung, so klar wie eine Bergquelle
An der Kunst ist er gescheitert, den großen Durchbruch hat er nicht geschafft: Andreas nimmt die Gelegenheit wahr, nach der Trennung von seiner Freundin den Winter in einem kleinen Bergdorf zu verbringen. Er kommt bei der ehemaligen Opernsängerin Susanna in ihrem weitläufigen Palazzo unter. Und er ist nicht ihr einziger Gast: Die Pfarrerin Maddalena hat einen verletzten Adler geborgen, den Susanna gesund pflegt. Die Berge thronen majestätisch über allem, “Riesengestalten, die sich von einer Verkrustung hatten befreien müssen, um, so ungeheuer eigenwillig, sie selbst zu sein”. Viel ist nicht los in diesem stillen Ort: “Die Dinge warten. Auch die Dinge haben hier Routine im Warten.” Bis dann doch einmal etwas passiert: Am 24. Dezember verschwindet die kleine Andrea, die in Maddalena so gern eine Mutter hätte. Und Andreas macht sich auf die Suche nach ihr …

In Der Wintergast porträtiert die Schweizer Autorin Elisabeth Binder ein beinahe unscheinbares Dorf im Schatten dominanter Berge an der italienischen Grenze. In diesem Minimundus schickt die Schriftstellerin wie in einem Figurentheater ihre Charaktere nacheinander ins Rampenlicht: die zweifelnde Pfarrerin Maddalena und den orientierungslosen Künstler Andreas, die Schwestern Ada und Franca, die Tag für Tag in ihrem kleinen Dorfladen sitzen, die vier Schweine, die ein unwürdiges Dasein fristen, Andrea, ihren Vater und ihre Großmutter und den Berggeist, der traurig ist, weil ihn niemand mehr sehen kann. Wie durch ein Kaleidoskop beobachtet man als Leser diesen Menschenreigen. Elisabeth Binder lässt uns durch ein Guckloch auf eine Handvoll Figuren blicken, während ein Winter kommt und geht. Kulisse und Hauptdarsteller zugleich ist die Natur, das Erhabene der Schöpfung.

In einer eindringlichen Prosa und einer sehr eigenwilligen Satzstellung erzählt die preisgekrönte Autorin von zwei Gästen, die gesunden müssen: Andreas und der Adler. Ihre Worte sind gut gewählt, ihre Sätze brechen teilweise unvermittelt ab, was dem Schreibstil etwas Schwebendes, Schwereloses verleiht: “Aber es ist ein herrliches Abenteuer mit der Wirklichkeit, je mehr ich arbeitete, desto mehr sah ich, neu und anders, alles wurde von Tag zu Tag größer, auch rätselhafter, im Grunde wurde es von Tag zu Tag unbekannter und schöner, es hätte noch tausend Jahre dauern können, ich genoss es ganz und gar – ” Ich mag diesen Stil sehr, und ich gehe gerne ein Stück des Weges mit den Protagonisten dieses feinsinnigen Buchs, bevor der Winter zu Ende ist und sich der Deckel über den Figuren wieder schließt. Dies ist ein Roman ohne Knalleffekt, der manchmal eben gar nicht nötig ist. Eine schöne, angenehme Lektüre über die kleinen Probleme und Eigenheiten, die uns Menschen ausmachen – und ihre Unwichtigkeit im Angesicht der Natur.

Lieblingszitat: “Denn sie wollte ja noch ein wenig leben. Weiterleben. Wozu? Keine Ahnung. Einfach leben. Im Licht. Mit dem Wasser, den Steinen, den Flechten, dem Gras, den kahlen Bäumen, den Dohlen hoch oben, die die Felsen entlangstreichen. Jetzt, wo der Frühling wieder kommt.”

Der Wintergast ist erschienen bei Klett-Cotta (ISBN 978-3608938906, 18,95 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ein ergreifendes Buch frei von Pathos
“Mein Vater starb nur wenige Wochen nach meiner Geburt. Mir blieb nichts als ein Foto.” Jahrelang steht es auf der Kommode, dieses Foto, bis dem jugendlichen Erzähler plötzlich ein Detail auffällt, das er bislang übersehen hat: die Uhr, die der nie gekannte Vater am Handgelenk trägt. Wo ist sie jetzt? Es ist ihm auf einmal ein Bedürfnis, diese Uhr zu finden, sie zu besitzen. “Ich war siebzehn, es war ein Mittwochnachmittag, es ist lange her.” Und so macht er sich auf die Suche: nach der Uhr, nach Antworten auf die vielen offenen Fragen, denen die Mutter seit Jahren ausweicht, nach der eigenen Identität. Das Ziel ist Paris, es ist Sommer, unser Held ist 17, und wenn er nach hause zurückkehrt, wird er erwachsen sein – und endlich wissen, was damals mit seinem Vater geschehen ist.

In Zur falschen Zeit richtet der preisgekrönte Autor Alain Claude Sulzer das Scheinwerferlicht auf einen jungen Mann, der, um sich aufmachen zu können in sein eigenes Leben, erst ergründen muss, wo seine Wurzeln liegen. In einem tragfähigen, dicht gewebten Schreibstil berichtet Alain Claude Sulzer von einer Suche, in deren Verlauf unerwartete Geheimnisse an die Oberfläche drängen, und er lässt uns eintauchen in die 1950er-Jahre, in denen es schwer war, vermutlich schwerer noch als heute, anders zu sein als die Mehrheit. Bedächtig und doch pointiert sind die Sätze dieses Schriftstellers, der es perfekt versteht, dem Leser schon früh ein Gefühl für die Hintergründe zu geben, ohne sie allzu offensichtlich darzulegen. Lange muss man zwischen den Zeilen lesen, bis der Verdacht, den man hatte, bestätigt wird. Das ist fesselnd und verlangt jene Aufmerksamkeit, die diesem Roman gebührt. Atmosphärisch sind die Sätze, rhythmisch die Beschreibungen: “Die Luft, die nach Heizöl roch, war vom erregten Ticken unzähliger großer und kleiner Uhren durchwirkt, die unvermittelt in verschiedenen Tonlagen und Lautstärken immer wieder halbe, ganze oder Viertelstunden schlugen.”

Zur falschen Zeit ist ein kluges Buch, das ein tragisches Thema aufgreift, aber nie um Mitleid heischt. Kurz irritiert hat mich, dass Emil, der Vater, erst sehr spät auf Seite 97 eine eigene Perspektive bekommt – in der Folge trägt seine Sicht der Dinge aber dazu bei, der Geschichte mehr Tiefgang zu verleihen. Leise klingt die Traurigkeit durch den ganzen Roman, der jedoch nicht sentimental wird. Sehr flüssig zu lesen, rundum gelungen!

Zur falschen Zeit ist erschienen im Galiani Verlag Berlin (ISBN 978-3-86971-019-8, 18,95 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Die Geschichte einer homosexuellen Liebe
“Mach, dass der Sommer nie ein Ende hat, mach, dass Oliver nie fortgeht, mach, dass die Musik in dieser Endlosschleife in alle Ewigkeit weiterspielt, es ist sehr wenig, worum ich bitte, und ich schwöre, dass ich mir nicht mehr wünschen werde.” Elio ist 17 und verbringt den Sommer wie jedes Jahr mit seinen Eltern auf ihrem Anwesen in Italien, der diesjährige Sommergast ist der 24-jährige Oliver, der an der Universität arbeitet und über Heraklit schreibt. Dieser junge, arrogant wirkende Mann löst in Elio, der bereits sexuelle Erfahrungen mit Mädchen gemacht hat, überraschende Empfindungen aus: “Was ich mir statt dessen wünschte, von dem Moment an, in dem er aus dem Taxi stieg, bis zu unserem Abschied in Rom, war das, was alle Menschen sich voneinander wünschen.” In ihm brennt plötzlich ein Verlangen, dem er nichts entgegensetzen kann, und so beginnt ein Spiel zwischen Elio und Oliver, sie buhlen um die Aufmerksamkeit des anderen, reden aneinander vorbei, sehnen sich nacheinander und können es sich doch nicht sagen. Erst als der Sommer beinahe zu Ende ist, verlieren sie endlich ihre Hemmungen: “Alles Störende war beseitigt, sekundenlang schien der Altersunterschied aufgehoben, wir waren einfach zwei Männer, die sich küssten, und selbst das wurde immer bedeutungsloser, wir hörten auf, zwei Männer zu sein, waren nur noch zwei Menschen.”

André Aciman hat mit Ruf mich bei deinem Namen einen sehr einfühlsamen und kunstvollen Roman über eine homosexuelle Sommerliebe geschrieben. Meisterhaft schildert er dabei die Verwirrung, die diese Liebe in den beiden jungen Männern auslöst, die nicht unbedingt oder nicht nur homosexuell sind, sich aber magisch voneinander angezogen fühlen. Sehr detailreich widmet sich der Autor dem Hin und Her zwischen seinen beiden Protagonisten, dem Geplänkel, dem Geflirte – das ist amüsant, bewegend und ein bisschen zäh zugleich. Es dauert seine Zeit, bis die beiden sich einander nähern können, obwohl man als Leser von Beginn an weiß, dass es geschehen wird. Viel Unsicherheit liegt in der Luft, die permanent erotisch aufgeladen ist. Jeder Blick hat eine Bedeutung, jede Berührung ist elektrisierend. Das zu vermitteln, ist André Aciman perfekt gelungen.

Sex zwischen Männern ist vielleicht nicht mehr ein so starkes Tabuthema wie einst, dennoch ist es schwierig, bei (homo)erotischen Beschreibungen nicht ins Lächerliche zu verfallen, alles zuzulassen, nichts als ekelhaft zu stigmatisieren. André Aciman hat sich herangetraut an dieses Thema – und es bravourös gemeistert. Seine Sätze sind manchmal etwas lang, der Stil ist ausufernd, grundsätzlich aber liegt viel Zuneigung in den Formulierungen. Und da Elios Vater Hochschulprofessor ist und seinen Sohn zu einem Intelligenzbolzen herangezogen hat, der in seinen Sommerferien Haydn transkribiert, kann man durch die pointierten Dialoge in diesem Buch auch noch etwas lernen. Schön ist der Ausklang, denn das Buch endet nicht mit jenem Sommer, der so unvergesslich bleibt für Elio und Oliver. Lesen!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Das Leben ist ein Furz”
Das Schicksal hat dem 25-jährigen Dachdecker Kai aus München übel mitgespielt: Nach einem Sturz vom Dach kann er nicht mehr arbeiten, und wegen mysteriöser Insolvenzen der Auftraggeber steht er finanziell vor dem Nichts. Er lebt in einer schimmeligen Bude, hat kaum etwas zu essen und muss bei den Brüdern seines türkischen Kumpels Shane Schulden machen. Die fordern ihr Geld aber nach einem halben Jahr zurück bzw. zwingen Kai, Marihuana aus der Schweiz nach München zu schmuggeln und in einem Studentenheim abzuliefern. Dort kommt er der Studentin Marion näher, in die er sich verliebt – die ihn aber letztlich durch ihre eigenen Probleme nur noch mehr in die Scheiße reitet …

Man Down ist ein hartes, authentisches und unsentimentales Buch über Gewalt, Prostitution, Integration und eine Gesellschaft, in der man nicht so schnell wieder nach oben kommt, wenn man sich erst einmal auf dem absteigenden Ast befindet. Dabei gelingt André Pilz in meinen Augen ein ungewöhnliches Wunderwerk: Obwohl der Ton rau und direkt ist und Tabuwörter wie ficken, Arsch und Nutte sich die Satzzeichen in die Hand geben, ist dieser Roman nie niveaulos – wie manch andere in diesem Bereich, die es nie schaffen, mich zu überzeugen. Es hat eine ganz eigene Poesie, wie André Pilz rasante Dialoge im “Slang” entwirft und sie mit fast schon kitschig wirkenden Formulierungen auflockert: “Ich ahnte den Liebesrauch und schmeckte die Tränen.”

Inhaltlich geht es in Man Down um Kai, und Kai ist im Arsch: Wegen seiner Verletzung ohne Aussicht auf Arbeit, bekommt er es mit Drogen, Drohungen, der Polizei und der Verachtung im Allgemeinen zu tun. Er ist einfach ganz unten. Und auch die Liebe, die er findet, passt in dieses Schema “alles oder nichts, bescheißen oder beschissen werden”, denn “Marion ist der Weg in die Freiheit – oder der letzte Sargnagel”. Kai verstrickt sich immer mehr, und als die Ereignisse sich klar darlegen, kommt es zu einem spannenden Showdown. Dieses Buch, dessen tolles Cover ich am Rande erwähnen möchte, ist brutal, eindringlich und realistisch – wie ein Schlag ins Gesicht, von denen Kai so viele bekommt. Großartig!

Man Down ist erschienen im Haymon Verlag (ISBN 978-3852186238, 19,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Ich war zum Holen auf der Welt”
“Meine Schwester und ich, wir waren eher Nutztiere als Kinder.” In Gasthauskind berichtet Ingried Wohllaib in drastischen Bildern und klaren Worten von einer Kindheit im Wirtshaus, vom Aufwachsen zwischen betrunkenen Stammgästen, mit einer niemals endenden Liste von Aufgaben und viel zu wenig Zuneigung. Zu tun ist immer etwas, auch für Kinder, die gerade einmal mit dem Gesicht bis zur Theke reichen. Das Gasthaus steht in Süddeutschland, es sind die Fünfzigerjahre, der Ton ist generell rau, Rücksicht auf Kinder kennt hier niemand. In der Wirtsstube wird geraucht, die Stammgäste nehmen sich Unfassbares heraus: “Sie waren immer überall. Zehntausend Quadratmeter Grund gehörten zu unserem Gasthof, und jeder Stammgast nutzte ihn zu allem, was ihm in den Sinn kam. Ich lernte: Man darf ihnen nichts abschlagen, nie. Wer konsumierte und zahlte, war wichtiger als ich.”

Ingried Wohllaib ist Grafikerin, und in ihrer Sprache bildet sie eine längst vergangene Wirklichkeit ab: Sie zeichnet detailreiche Bilder und erzählt ganz einfach, wie es war, wie es sich angefühlt hat, wie sie sich erinnert. Ich mag die kurzen Sätze, die direkten Formulierungen, die so ohne Umschweife auf den Punkt kommen. Die Autorin gibt Einblicke in eine Welt, die kaum jemand kennt und die viele sich nicht vorzustellen vermögen: das Leben als Wirtshauskind, als Arbeitstier, als Kellnerin, Putzfrau, Eisverkäuferin und Küchensklavin. Ich bin kein Gasthauskind, aber ein Gasthausnachbarkind – und deshalb liegt mir diese Welt nicht fern, sie ist mir bekannt, und in vielem, das Ingried Wohllaib beschreibt, entdecke ich eigene Erlebnisse wieder. Die Wirtshauskinder von damals waren und sind meine besten Freunde, und durch die Nähe zum Café wurde auch ich oft eingefangen, in den Keller geschickt, um etwas zu holen, zum Almdudlerausschenken verdonnert oder zum Geschirrspülerausräumen. Es war selbstverständlich, dass man helfen musste, ein “Da hab isch kein Bock drauff” – wie man es heute ständig von Jugendlichen in den Reality-Family-TV-Formaten des deutschen Fernsehens hört – gab es ganz einfach nicht. Und wenn doch, dann knallte es. Ins Gesicht.

Es mag sein, dass mir durch diese meine persönliche Geschichte Gasthauskind besonders gut gefällt. Während andere Leser vielleicht ungläubig den Kopf schütteln und der Autorin zu viel Fantasie unterstellen, finde ich ihren Bericht authentisch. Ich leide mit und muss dennoch manchmal schmunzeln, denn wie immer ist Komik auch hier Tragik in Spiegelschrift. Ingried Wohllaib hat es geschafft, den Alltag auf dem Land, das Saufen und wahllose Schmusen, das Tratschen und Arbeiten im Wirtshaus, das auch am Ruhetag kein Ende nimmt, einzufangen und auf Papier zu bannen. In kurzen Geschichten lässt sie ihre Kindheit aufleben, die etwas Besonderes war – leider in negativer Hinsicht. Ein eindrucksvolles und gelungenes Buch!

Lieblingszitat: “Kühe sind die Buddhisten unter den Tieren. Woher nehmen sie diese Gelassenheit? Sie scheißen einfach an sich selbst hinunter und sehen einen unter langen Wimpern fragend an.”

Gasthauskind ist erschienen bei Piper (ISBN 978-3492052900, 16,95 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Hintergründe und Auswirkungen einer Tragödie
Nick lebt mit seiner schönen Frau und zwei kleinen Söhnen in einer Kleinstadt. Sein Leben ist nicht unglücklich, aber auch nicht erfüllt. Aus dem Trott reißt ihn der Tod seines Freundes Rob: Er hat zuerst seine Freundin Kate erschossen und dann die Waffe gegen sich selbst gerichtet. Er ist von dem Sockel gestürzt, auf den ihn, den erfolgreichen Schriftsteller, die Bewohner der Kleinstadt gestellt haben. Entsetzen und Ungläubigkeit machen sich breit, während ein Medienrummel um den Skandal beginnt. “Wir benahmen uns kollektiv wie eine Hure, die über das Leben, das sie führt, wütend ist, sich aber trotzdem schminkt und wartet und zur Verfügung steht.” Abseits der Öffentlichkeit muss Nick mit dem, was geschehen ist, fertig werden – aber er schafft es nicht. Schon in ihrer gemeinsamen Kindheit warf der exzentrische Rob seinen Schatten auf den schüchternen Nick, und als sie erwachsen waren, blieb Nick die Motte und Rob das Licht. Nicks Ehe geht es so wie vielen anderen: Er und Lucy kommunizieren kaum, sie leben aneinander vorbei und reiben sich dabei auf. Während Nick nach der Wahrheit und seiner eigenen Identität sucht, funkt ihm auch noch Robs reizvolle Schwester Bonnie dazwischen …

Was niemand sah ist ein überraschend fesselnder Roman über die Hintergründe eines Eifersuchtsdramas. Mit Nick hat Eli Gottlieb einen Durchschnittstypen erschaffen, der in seinem eigenen Leben nicht glänzen kann, der im trüben Teich einer Kleinstadt vor sich hin dümpelt und dem der Tod eines Freundes vor Augen führt, wie leer seine Tage sind. Dabei kann der amerikanische Autor mit einem geschmeidigen Erzählstil und originellen Formulierungen wie “Lucy wartete zu Hause auf mich, als ich von der Arbeit kam, und sie sah aus wie eine Stadt bei Stromausfall” punkten. Er hat Talent, er ist ein Geschichtenerzähler, der es versteht, aus einem so wenig verlockenden Stoff wie diesem – ein Leben in einer 08/15-Kleinstadt, ein Gescheiterter, der seine Freundin und sich selbst erschießt – einen so verwickelten Plot zu entwerfen, dass man tatsächlich bis zum Schluss interessiert am Ball bleibt.

Zwar wartet Was niemand sah mit einigen klischeehaften Wendungen auf, die an sich gut durchdachte Struktur und die geschliffene Sprache machen das jedoch wieder wett. Man kann sich identifizieren mit diesem Protagonisten, der im Dunkeln steht, als der helle Stern seines egozentrischen Freundes erloschen ist. Was ihm noch bleibt, das muss er sich mühsam zusammenklauben, seine Frau und seine Eltern sind ihm dabei nicht gerade eine Hilfe. Klar ist, dass er dem Leser zu Beginn viel verschweigt und die Wahrheit erst am Ende aufdeckt. Wie es sich gehört für ein gutes Buch.

Was niemand sah ist im Droemer Verlag erschienen (ISBN 978-3426198896, 19,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ein unsentimentaler Blick auf das Leben in der DDR
Für W. liegen die Zeiten in der DDR lange zurück. Und das findet er auch gut so. Umso überraschter ist er, als ihm eine merkwürdige Einladung ins Haus flattert: Er soll an einem Symposium teilnehmen und über seine Erfahrungen als unbekannter unterdrückter Untergrunddichter sprechen. W. hält sich selbst gar nicht für einen Dichter, und dass er unterdrückt worden sein soll, ist ihm neu. Er verlangt Akteneinsicht – denn: “Wozu braucht man ein Gedächtnis, wenn man eine Akte hat?” – und vor ihm entfaltet sich sein eigenes Leben aus der Sicht der Stasi: Jahrelang wurde W. beschattet, für republikfeindlich erachtet und als gefährlich eingestuft. Und alles nur wegen einiger unfassbar schlechter Teenager-Liebesgedichte an Brieffreundin Liane in München. W. ist schockiert und muss erkennen, dass er offenbar ein ganz anderes Leben geführt hat als bisher gedacht – ein wesentlich interessanteres nämlich.

Ich schlage vor, dass wir uns küssen ist ein ebenso amüsanter wie intelligenter Roman über die DDR und ihre paranoiden Auswüchse. Mit so grottigen Reimen wie “Baby, wenn du sterbst, Baby, dann ist Herbst” ergattert W. als Jugendlicher einen Platz in der Verdächtigenliste von Oberleutnant Schnatz. Über Jahre liest er W.s poetische Ergüsse und kommentiert sie akribisch. Schreibt W. über den Frieden, meint Schnatz “fatalistische Anschauungen” zu erkennen, geht es um die Jahreszeiten, ist darin für die Stasi eine “negative Grundhaltung zu Teilbereichen der sozialistischen Gesellschaft” verborgen. Dabei liegt in W.s Gedichten nichts anderes als pubertäre Verliebtheit und Sehnsucht nach Liane: “An muß ich dich flehen, nicht von mir zu gehen” heißt es da oder: “Und nicht nur küssen, meine Liebe, ich denke auch an andre Triebe”. Das ist in erster Linie peinlich. Und sehr unterhaltsam.

Als Österreicherin jüngeren Jahrgangs sind meine Überschneidungspunkte mit der DDR gleich null. Umso kurioser und faszinierender ist für mich das Leben, das die Menschen einst unter diesem Regime geführt haben. Während Leser mit persönlichem Bezug sich von diesem Roman vielleicht brüskiert fühlen, genieße ich diesen unpathetischen und sehr zynischen Einblick in eine fremde Welt. Frei von Kitsch oder Ostalgie und abseits von grausamen Schicksalen, die sich im Osten Deutschlands ohne Zweifel abgespielt haben, beschreibt Rayk Wieland die DDR als Farce, als Institution, die sich selbst ad absurdum führte, die sich verrannte in Bürokratie und Kontrollwahn. Schon allein die Idee, einen unbekannten unterdrückten Dichter zu schaffen, der fassungslos ist, als er von seiner wahren Bedeutung für die Republik erfährt, finde ich genial. Die abgedruckten Gedichte verleiten zum Fremdschämen – und zeigen auf sarkastische Art, was man in jedes Wort hineininterpretieren kann, wenn man nur will. Rayk Wieland gießt einen Eimer Spott über die DDR – und wirft damit ein erleichternd heiteres Licht auf die Zeit der Mauer. Ganz nach dem Motto: Komik ist Tragik in Spiegelschrift. Wunderbar!

Ich schlage vor, dass wir uns küssen ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN 978-88897-553-0, 17,90 Euro).