Bücherwurmloch

Karin Smirnoff: Wunderkind

„Erwachsene sitzen im Gefängnis. Wir sitzen in der Vorschule.“

„Meine Mutter hat es fast geschafft mich umzubringen. Mehr als einmal. Aber ich habe mich jetzt entschieden. Ich bin viel gefährlicher als sie denkt.“

Agnes versteht schon bei ihrer Geburt, dass sie bei einer Mutter gelandet ist, die ihr nichts Gutes will – die überhaupt kein Kind will. Während sie bei den Großeltern lebt und die Mutter in Behandlung ist, ist alles halbwegs okay. Doch als Anitamama Agnes wieder zu sich nimmt, beginnt ein Überlebenskampf, den eine Zweijährige kaum gewinnen kann. Später kommen Ersatzväter ins Leben, die ihr manchmal helfen, manchmal nicht. Was alles noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass Agnes am Klavier das Talent eines Wunderkindes hat. Das kann die Mutter nicht ertragen – und es bringt Agnes in die Fänge eines Lehrers, der musikalisch begabte Kinder um sich schart, weil er es liebt, Zeit mit ihnen zu verbringen. Und was denken wir sofort, wenn es um ältere Männer geht, die sich an Kinder ranwanzen? Eben.

Wegen der ersten Seite von „Die Wut, die bleibt“ spreche ich bei allen meinen Veranstaltungen über ein bestimmtes literarisches Narrativ: dass Väter sich entziehen, das kennen wir, das erlauben wir, bei Müttern dagegen muss es eine Hintergrundgeschichte geben wie Alkohol und Drogen, Missbrauch und daraus resultierende Unfähigkeit zur Mutterschaft, etwas, das erklärt, wieso die Mutter ihr Kind nicht gernhat, beliebt ist auch das Narrativ, dass die Mutter Schauspielerin oder Sängerin werden wollte, und das Kind steht im Weg. Dafür hat sich Karin Smirnoff in ihrem zweiten von Ursel Allenstein ins Deutsche übersetzten Roman entschieden, der erneut ohne Satzzeichen außer Punkte auskommt und dadurch dieselbe Gehetztheit hat wie „Mein Bruder“. Die schwedische Autorin kann mit schlichten Sätzen gewaltige Gefühle wachrufen, sie hat keine Angst vor den menschlichen Abgründen, schaut direkt hinein – und schmeißt die Lesenden hinunter. Während mich das bei „Mein Bruder“ sehr fasziniert hat, bin ich der Geschichte von „Wunderkind“ nicht so gern gefolgt, auch wenn Agnes mir notgedrungen ans Herz gewachsen ist. Ich finde den Roman sehr einseitig, fast zu heftig, aber vielleicht ist auch einfach das Wissen, dass Kinder so aufwachsen, dass sie nicht geliebt, umgebracht und missbraucht werden, schwer zu ertragen. Dies ist ein harter, grenzwertiger Roman, für den man gute Nerven braucht. 

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