„Der Geist war ich“
„Unsere Augen sind kurzsichtig vor Nostalgie geworden, sie starren auf den Computerbildschirm. Online zu sein bedeutet, in der Vergangenheit zu leben.“
Das sagt Bob. Er ist der Anführer einer kleinen Gruppe Überlebender, von denen niemand so genau weiß, warum sie sich nicht angesteckt haben mit dem Virus, dem Fieber, das sich von China ausgehend weltweit ausgebreitet hat. Wer sich infiziert, verfällt in Trance und erledigt dieselbe Tätigkeit – zum Beispiel Hosen falten oder einen Tisch decken – wieder und wieder und wieder, so lange, bis er verhungert und verdurstet und stirbt. Es sind grausige Tode, die Candace Chen mitangesehen hat – und wenn sie in einem der Häuser, die sie plündern, jemanden finden, der noch am Leben ist, geben sie ihm den Gnadenschuss. Wie es weitergehen soll, weiß Candace nicht, und auch nicht, ob sie überleben wird.
„Wenn du als Individuum von einem Konzern oder einer Institution angestellt wirst, dann sieht es schlecht für dich aus. Die Großen gewinnen immer. Sie können dich nicht sehen, aber sie können dich zermalmen.“
Das hat Jonathan gesagt. Jonathan war Cancace Chens Freund, in einem anderen Leben. Als sie in New York gewohnt hat und bei Spectra gearbeitet hat, als sie damit betraut war, den Druck von Bibeln irgendwo in Asien zu organisieren, möglichst billig. Als dort immer mehr Druckereien schließen mussten, waren die Kunden erbost, es ging ihnen um den Verdienst, um die Wirtschaft, nicht um die Menschenleben. Und wenn euch das bekannt vorkommt, fragt ihr euch vielleicht, wie ich, wie es Ling Ma gelingen konnte, im Jahr 2018 einen derart prophetischen Roman zu schreiben. Man liest, mit der Pandemie im Rücken, dieses Buch mit schreckensgeweiteten Augen. Schon zum Erscheinungstermin hat „Severance“ für Aufsehen gesorgt, und das zu Recht: Es ist großartig geschrieben, spannend und klug, wie ein Splatter-Movie, wie ein dystopischer Actionfilm, aber auch leise, zart, melancholisch und voller Einsamkeit, an anderen Stellen anklagend und gesellschaftskritisch, den Kapitalismus anprangernd. Eine hervorragende, beeindruckende und nachhallende Fiktion, die auf geradezu schockierende Weise wahr geworden ist.
„Das Gedränge am Times Square bedrängte mich. Die Stadt war so groß. Sie machten einem weis, es gäbe so viele Möglichkeiten, aber die meisten Möglichkeiten hatten damit zu tun, etwas zu kaufen.“
New York Ghost von Ling Ma ist erschienen bei culturbooks.