Bücherwurmloch

Sandra Newman: Ice Cream Star

„In dieser Welt, in die kein gutes Kind gehört“ 
lebt Ice Cream Star. Sie ist 15 Jahre alt, und deshalb hat sie nicht mehr lange zu leben: Spätestens im Alter von 18 bekommen alle Kinder die Posies und sterben. Erwachsene gibt es nicht mehr, auch kaum Menschen mit weißer Haut. Ice Cream und ihre Sengles sind schwarz, sie leben von der Jagd und von dem, was sie in den verlassenen Häusern noch finden. Ständig müssen sie auf der Hut sein, denn neben den Sengles gibt es die Armies, die Christlinge, die Lowells, und wer gerade mit wem Krieg hat, ist kompliziert. Die einen rauben die Mädchen der anderen, um sie zu vergewaltigen, aus Rache bringen die anderen die einen um. Ice Creams Bruder Driver ist der Anführer der Sengles, doch als er an den Posies erkrankt, übernimmt Ice Cream diesen Posten. Sie fangen einen Rou, einen Mann mit heller Haut, der sie glauben macht, dass es ein Mittel gegen die Krankheit gibt. Und so fasst Ice Cream Star einen gefährlichen Plan.

„In mir wachsen die Ungeheuerlichkeiten, die wir machen. Jeder Krieg schrumpft vor dieser Tat. Jo, ich schwör mir selber, dass ich durch die Vereidigten Staaten wander, wenn wir es schaffen. Geb jedem dürftigen Kind das Mittel, und niemals stirbt n Mensch an Ice Cream Star ihrem fehlenden Herz.“

Ice Cream Star von Sandra Newman ist ein dystopischer Roman mit einer Kulisse, wie man sie oft in Filmen gesehen hat: Die Menschheit ist zum Großteil ausgerottet, die Überlebenden sind dreckig, hungrig und bewaffnet. Es gibt viele Tote in diesem Buch, Hass und Krieg, Elend und Hoffnungslosigkeit. Aber es gibt auch die Liebe.

„Ich merk, dass ich weine. Wein für alle von uns, die sterben müssen. Und wenn das Feuer so gewaltig, der Himmel so gewaltig is, sind wir sprottenklein und voll Liebe.“

Ice Cream Star ist heimlich verliebt in Mamadou, den Anführer der Feinde. Die beiden haben sich immer wieder in seinem Zelt getroffen und miteinander geschlafen, und obwohl sie es nicht zugeben, lieben sie einander mit aller Kraft.

„Der Kuss is n furchtsames Wissen, wo die Welt der Kälte um uns fliegt. Die ganze schwarze Stadt und die riesig gewachsenen Sterne, sie sind gar nichts. Seine Hand streicht über mich wie ne Erinnerung. Sagt mir ruhige Ehrlichkeiten jenseits von Worten, die der Stolz sagen kann. Und mein Körper leuchtet beharrlich, liebt ihn feurig gut. Ich berühr sein Gesicht, seinen Nacken, und halt mich fest an diese gute Kraft, mit allen Verfluchungen in mein fürchtenen Blut.“

Das ist es, was mich an diesem Buch so berührt: dass in einer Welt, die nicht dem Untergang geweiht, sondern längst untergegangen ist, die verseucht ist von Gewalt und Krankheit und Tod, die Liebe noch da ist. Dass Ice Cream Star alles tut, um ihren Bruder zu retten, dass sie ihren Seelenverwandten Crow nicht im Stich lässt, und dass selbst am Ende, als sie nur noch auf das Sterben warten, als ihnen alles, alles um die Ohren fliegt, diese starken Gefühle zwischen ihr und Mamadou sind.

„Dann, in dieser vom Krieg gestohlenen Stunde, is unsere Liebe jenseitig schlimm. Wir klammern ohne Worte ineinander, bis unsere schauerliche Stille ne andere Nacktheit is. Es is Liebe ohne Kampf, hilflos. Jede Berührung is n Wahnsinnswort – und es sind die einzigen wahren Worte, die ich je gekannt hab.“

Massiv beeindruckend an diesem Roman ist die Sprache: Sandra Newman ist es gelungen, einen ganz eigenen Stil zu finden, Neologismen zu kreieren, einen Duktus, der neu ist und anders. Dadurch hat dieses Buch einen nie gehörten Ton. Keinen Satz kann man überspringen, keinen Abschnitt überfliegen, im Gegenteil: Auf jedes Wort muss man sich konzentrieren, um es zu verstehen. Absolute Hochachtung vor der Übersetzerin Milena Adam, die einen Weg gefunden hat, die unbekannten Ausdrücke ins Deutsche zu transportieren. Es ist somit die Sprache, die mich an Ice Cream Staram meisten fasziniert, viele Stellen lese ich zweimal, nur um die Kreativität dahinter zu goutieren, und die Sprache ist es auch, die mich bei der Stange hält, als mir das Buch – wie jedes Buch mit mehr als 500 Seiten – zwischendurch zu lang wird. Das hätte man schon noch straffen können, denke ich, und: So manches Klischee wäre nicht nötig gewesen. So spannend und originell die Geschichte beginnt, so abgeschmackt endet sie, zum Schluss hin fasert die Handlung aus, wird immer undurchschaubarer, und dass Sandra Newman wirklich den klassischen Feind der Amerikaner als Endgegner präsentiert, finde ich recht enttäuschend, wo sie doch sonst mit so frischen Ideen aufwartet.

Dieses Buch ist brutal, verstörend, traurig und grausam, es ist aber auch schön, poetisch, warm und weich. Es macht Angst, und das ist gut so, denn wenn man sich die aktuelle Lage ansieht, ist klar, dass wir Angst haben sollten. Ein Szenario wie in dieser Dystopie ist nicht einmal sehr unwahrscheinlich. Wir können wohl nur hoffen, dass wir dann schon tot sind.

Ice Cream Star von Sandra Newman ist erschienen bei Matthes & Seitz.

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