Bücherwurmloch

Alexander Osang: Die Leben der Elena Silber

„Ich erinnere mich an alle Jahreszeiten. Vor allem an den Winter“
Dass ich so lange gewartet habe, um über dieses Buch zu schreiben, obwohl ich es längst gelesen habe, obwohl der Buchpreis inzwischen vergeben ist, hat einen Grund: Ich wusste, ich würde auf der Messe ein WDR-Interview haben gemeinsam mit Alexander Osang. Und das wollte ich abwarten. Um ihn kennenzulernen und zu hören, was er selbst über dieses Buch sagt, das ihm eine Buchpreis-Nominierung eingebracht und sich ausgezeichnet verkauft hat. Und Alexander Osang hat mich verblüfft: Er ist unglaublich sympathisch, witzig und selbstironisch. Ein sehr zugänglicher, schlauer Mann, der in diesem Gespräch erzählt hat, wie er schreibt, wie er zu diesem Roman kam und dass er in den Neunzigern selbst Radio gemacht hat – eine nächtliche Talkshow, die er verloren hat, weil er einfach gute Mucke gespielt hat und nicht die vom Sender vorgegebenen Songs.

Wir haben über Familien gesprochen und das Wort „ankaputtet“ erfunden, wir haben uns über Beziehungen und äußere Umstände unterhalten, die für die Literatur deshalb interessant sind, weil sie Auswirkungen haben auf alle Generationen, die folgen. Das ist besonders in Alexander Osangs großem Roman der Fall: Konstantin Stein ist von allem eher halb – halb erfolgreich, halb glücklich. Der 43-jährige Filmemacher hat Ideen, das schon, nur an der Umsetzung scheitert es. Als sein Vater ins Pflegeheim muss und Konstantin merkt, dass seine Eltern alt werden, erschüttert ihn das mehr als erwartet. Und da kommt plötzlich seine Mutter ins Reden: Sie erzählt ihm, um ihn zu einem Film zu inspirieren, die Geschichte ihrer eigenen Mutter, der Russin Elena, die eigentlich Jelena hieß und auf dem Weg nach Deutschland so viel mehr verloren hat als den Anfangsbuchstaben ihres Namens. Und so ist Konstantin unsere Stimme in der Gegenwart, während sich die Vergangenheit entfaltet, beginnend 1905, als Jelena vier Jahre alt war und ihr Vater hingerichtet wurde. Ganz der russischen Erzähltradition verhaftet, an die dieser Roman freilich angelehnt ist, lässt er sich Zeit. Und bietet letztlich einen Querschnitt durch das Leben einer Frau – und durch ein gesamtes Jahrhundert.

Alexander Osang ist wohl das Alter Ego von Konstantin Stein, denn Jelena Silber ist seine eigene Großmutter. Die Geschichte mit der Hinrichtung des Vaters, die ist tatsächlich so geschehen. Und indem der Filmemacher nach Russland reist, um mehr herauszufinden über seine Wurzeln, seine Familie, kann der deutsche Autor, der für den Spiegel aus Tel Aviv schreibt und für seine Reportagen mit mehreren Preisen bedacht wurde, in dieser Autofiktion von Jelenas Reise in die andere Richtung erzählen. Seine Großmutter ist geflohen, von Russland nach Schlesien nach Ostberlin, und das ist es doch, was beinahe jede Biografie befeuert hat im letzten Jahrhundert: Hunger und der Wunsch nach einem besseren Leben, der Nationalsozialismus, der Krieg, Angst und Verfolgung. Jelena hatte vier Töchter – eigentlich fünf, doch eine fand früh den Tod – und bleibt eine seltsam unergründliche Figur, die nicht nur immer Opfer war und getrieben, sondern auch versucht hat, sich selbst glücklich zu machen. Dies ist ein massives, gewichtiges Werk, auf das man sich einlassen können muss – es lohnt sich. Die Jury für den Deutschen Buchpreis konnte es. Und ich freu mich auf Alexander Osangs nächstes Buch. Vielleicht darf ich ja dann wieder Radio mit ihm machen.

Die Leben der Elena Silber von Alexander Osang ist erschienen bei S. Fischer (ISBN 978-3-10-397423-2, 624 Seiten, 24 Euro).

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