„Ja, ich bin noch immer traurig“
„Beim ersten Donnergrollen wurden die Buchstaben scharf. Die Flecken erschienen, die Festungen bauten sich auf und lösten die Übelkeit aus, die wiederum das Gefühl auslöste, als kristallisiere sich Harriets Knochengerüst aus dem Gerüst von Roses eigenem heraus.“
Denn Rose findet sich plötzlich bei Gewitter im Körper von Harriet wieder – einer Frau, die sie nicht kennt, von der sie jedoch bald regelrecht besessen ist. Warum verlässt sie auf einmal ihren eigenen Körper? Wer ist diese Harriet, die eine Affäre mit einem verheirateten Mann hat? Und was hat das alles mit Roses Schwester Ava zu tun, die gestorben ist, als sie beide noch Kinder waren? Hört sich gespenstisch an und wie ein Thriller, ist es aber nicht: Ruhig, gesittet, lakonisch erzählt Barbara Gowdy eine sehr ungewöhnliche Geschichte.
Kleine Schwester ist ein literarisches Buch, kein Genre. Das muss ich betonen, weil die Story, die die kanadische Autorin zu Papier gebracht hat, so nach Parallelwelten und Übernatürlichem klingt. Die „Episoden“, wie Hauptfigur Rose sie selbst nennt, werden im Roman einfach als gegeben hingenommen, sie können und sollen nicht erklärt werden. Vielmehr geht es in diesem Buch um unsere Sehnsucht, ein anderes Leben zu führen, um die Frage, wie es sich anfühlen würde, ein anderer zu sein. „Durch die Augen eines anderen sehen“ – das hat Barbara Gowdy, deren Kurzgeschichten bereits verfilmt wurden, zum Ausgangspunkt genommen und für ihre Figur möglich gemacht. Die wird durch den Kontakt mit einem fremden Leben zurückgeworfen auf ihr eigenes: Wo steht sie? Wollte sie dorthin, ist sie glücklich? Und werden die Wunden der Vergangenheit jemals heilen?
Die Themen, mit denen die Autorin sich in Kleine Schwester beschäftigt, sind also gar nicht so ungewöhnlich. Nur die Art, wie sie es tut, ist es. Und genau das macht dieses Buch so besonders. Für mich persönlich ist alles, was den Tod eines Kindes beinhaltet, schwer erträglich, seit ich selbst Kinder habe. Sehr spannend finde ich jedoch die Idee dieser außerkörperlichen Erfahrungen, um die sich alles dreht: Das ist unheimlich und faszinierend zugleich. Ich war sehr neugierig, wie die Autorin diese Situation am Ende lösen würde, und hm, ja, es ist ihr auf akzeptable Weise gelungen. Wenn ihr mal was Interessantes abseits vom Mainstream lesen wollt, kann ich euch Kleine Schwester auf jeden Fall empfehlen.
Kleine Schwester von Barbara Gowdy ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN ISBN: 978-3-95614-196-6, 240 Seiten, 22 Euro).