Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Dirk Stermann: Der Junge bekommt das Gute zuletzt

Stermann„Es ist, wie es ist, und es ist fürchterlich“

„Wenn du dir im Klaren darüber bist, was dich erwarten kann, bist du frei“,

sagt Dirko, der serbische Taxifahrer mit den Beinen, die nicht funktionieren, und den vielen Identitäten. Doch das, was den dreizehnjährigen Claude erwartet, darüber kann sich überhaupt kein Mensch im Klaren sein, es ist unmöglich. Dirko ist Claudes einziger Freund. Wenn Claude mit Dirko mitfährt, muss er immer eine Hand an der Handbremse lassen und sie ziehen, wenn Dirkos Beine versagen. Gemeinsam fahren sie durch Wien und reden über die Geschichte der Hinrichtungen an den verschiedenen Plätzen. Makaber, aber eine gute Ablenkung für Claude: Der wurde nämlich verlassen, und zwar so richtig. Erst ziehen seine Eltern eine Wand durch die gemeinsame Wohnung – die Mutter, eine Ethnologin, wohnt mit dem Bruder und ihrem neuen Indio-Freund auf der anderen Seite und Claude hat keinen Zugang, der Vater, ein mittelmäßiger Posaunist, behält Claude und hat bald eine neue Freundin –, dann verschwinden die Eltern ganz. Claude ist auf sich gestellt und hat keinerlei Hilfe von ihnen oder seiner dicken Oma zu erwarten. In der Schule wird er täglich verprügelt, und als er sich zum ersten Mal verliebt, geht auch das nicht gut aus. Aber das Schicksal ist noch lange nicht fertig mit ihm – noch lange nicht.

Dirk Stermann ist der einzige Deutsche, den wir Österreicher tolerieren. Mehr noch, wir lieben ihn, als wäre er einer von uns. Natürlich hab auch ich Stermann & Grissemann bereits live gesehen, natürlich kenne ich „Willkommen Österreich“. Was mir aber nicht im Geringsten bewusst war: dass Dirk Stermann derart brutal sein kann. Meine Fresse! Was er seinem jugendlichen Protagonisten antut, ist nicht zu glauben. Es ist auch kaum zu ertragen. Er hat sich einen Dreizehnjährigen erdacht, den er beuteln lässt wie einen Boxsack in der beliebtesten Trainingshalle des Landes: Er nimmt ihm alles, was er hat, und dann nimmt er ihm auch noch den Rest. Anfangs lächle ich da noch, das Ganze mutet kurios an, die Mutter, die mit dem Panflötenspieler durchbrennt, die Oma, die Essen mehr liebt als den Enkel, die Geschichten über Erschießungen und Hängen, aber bald schon vergeht mir das Lächeln. Es vergeht mir derart, ich verlerne es während des Lesens ganz und gar. Viel zu groß ist mein Mitleid, ich hänge da richtig drin: Claude ist ein so armes Hascherl, ich möchte ihn aus dem Buch herausoperieren, um ihn zu retten. Er ist ein Kind, das kein Kind sein darf, weil die Erwachsenen nur Scheiße bauen. Im letzten Drittel war mir das, ich geb es zu, schlichtweg zu viel: Die Stimmung ist gekippt, ich wollte nur noch raus aus dem Albtraum, den Claude erlebt.

Dirk Stermann kann richtig gut schreiben. Er ist humorvoll, gewitzt, er beherrscht die perfekte Mischung zwischen Ernst und Ironie. In Der Junge bekommt das Gute zuletzt sind viele rundum gelungene Szenen, die das Menschsein auf den Punkt bringen: voll von Egoismus und der Unfähigkeit, für jemand anderen da zu sein, voll Einsamkeit, der Sehnsucht nach Anerkennung, aber auch voll Hilfsbereitschaft und echter Freundschaft. Wieder einmal zeigt sich: Wer an den Rand gedrängt wird, findet oft genau dort, unter denen, die ebenfalls am Rand stehen, Zusammenhalt. Das Schöne an diesem Roman ist das Absurde. Dieser Kosmos an Figuren, jede für sich irgendwie ein bisserl kaputt, die sich aneinander abarbeiten oder aneinander klammern. Zudem gibt Dirk Stermann einen tiefen Einblick in die österreichische Seele, und da vergisst man ganz, dass er ja eigentlich Deutscher ist – und das ist das größte Kompliment, das man ihm hierzulande machen kann.

Der Junge bekommt das Gute zuletzt von Dirk Stermann ist erschienen bei Rowohlt (ISBN 978-3498064389, 224 Seiten, 19,95 Euro).

One Comment to “Dirk Stermann: Der Junge bekommt das Gute zuletzt”

  1. Èine tolle Rezension zu einem Buch, dass mich noch vor dem Lesen betrübt. Ich finde es zwar toll, wenn jemand so gut schreiben kann, dass man mit dem Charakter mitleidet aber manchmal kann es auch zu viel sein und dafür muss man dann irgendwie in der richtigen Stimmung sein.

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