„Was immer wir erinnern, wir haben es nicht gegoogelt, sondern erlebt“
Gerold Ebner kennt den Tod, er ist ihm nicht fremd. Schon früh ist er ihm begegnet, auf sehr direkte und persönliche Weise, in Gestalt des mumifizierten Herrn Gufler. Doch das hat dem Tod nicht gereicht, näher und näher ist er gekommen, wie ein Bombenflieger, dessen Einschläge immer gezielter werden. Gerold ist dabei Täter und Opfer zugleich, er wird getroffen, aber er hilft dem Tod auch, seine Arbeit zu erledigen. Wie es dazu kam und was geschehen ist, erzählt er in einer Abschrift, in diesem Roman. Er ist ein Monolog und ein Bericht, eine Erklärung und ein Abschiedsbrief. Denn Gerold sitzt auf einem Berg, ganz oben auf dem Gipfel sitzt er, und nur noch einen Schritt ist er entfernt davon, dem Tod erneut zu begegnen.
Am Rand ist ein Blick in den Abgrund. Es ist ein zutiefst melancholisches, verstörendes, trauriges Buch. Der österreichische Autor Hans Platzgumer, der sich mit Romanen, Opernmusik und Hörspielen als schreibender Tausendsassa zeigt, erzählt von einem, den das Schicksal beutelt, den es – auf gut Österreichisch – so richtig herfotzt. 200 Seiten nimmt er sich dafür, und doch wird sein Aufarbeiten eines fiktiven Lebens nur selten langweilig. Von einer Kindheit voll scheißgefährlicher Mutproben, Bubenfreundschaften und Karate berichtet der Ich-Erzähler, von einer Mutter, die sich mehr um die Patienten im Hospiz sorgte als um den eigenen Sohn, und von einem eigentümlichen Familienglück, das nicht lange währte.
Dabei gelingt Hans Platzgumer ein Kunststück: Bereits zu Beginn verrät er mir alles, was ich wissen muss. Das Ende der Geschichte ist am Anfang schon da. Und trotzdem will ich weiterlesen, will die Details erfahren, am Fluss der Erzählung entlangspazieren. Vieles, was ich später lese, überrascht mich durch dieses Selbstspoilering nicht, das liegt in der Natur der Sache, gut geschrieben ist es dennoch. Obwohl ich nicht nur ahne, sondern ganz genau weiß, welches Schicksal Gerold und mich auf der letzten Seite erwartet, folge ich seiner Spur dorthin wie Hänsel und Gretel. Und bin nach dem letzten Satz einigermaßen erschrocken. Am Rand ist ein unaufgeregtes, intelligentes Buch, auf merkwürdige Art erschütternd und unspektakulär zugleich – genau wie das Leben.
Am Rand von Hans Platzgumer ist erschienen im Zsolnay Verlag (ISBN 978-3-552-05769-2, 208 Seiten, 20,50 Euro).
Der Roman liegt auf meinem Bücherstapel, dort aber sehr weit oben. Jetzt bin ich erst recht gespannt. Danke!
Peter
Dann bin ich gespannt darauf, wie du ihn finden wirst und ob er dich auch so verstört zurücklässt …
Bedrückend, beklemmend und im wahrsten Sinne des Wortes bestürzend. Wirklich gut geschrieben, sehr lesenswert.
Freut mich, dass es dir gefallen hat! Bestürzend – sehr schön 😉
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