Chronik eines Lebens
„Als William Stoner sehr jung war, hatte er die Liebe für einen vollkommenen Seinszustand gehalten, zu dem Zugang fand, wer Glück hatte. Als er erwachsen wurde, sagte er sich, die Liebe sei der Himmel einer falschen Religion, dem man mit belustigter Ungläubigkeit, vage vertrauter Verachtung und verlegener Sehnsucht entgegensehen sollte. Nun begann er zu begreifen, dass die Liebe weder ein Gnadenzustand noch eine Illusion war; vielmehr hielt er sie für einen Akt der Menschwerdung, einen Zustand, den wir erschaffen und dem wir uns anpassen von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick durch Willenskraft, Klugheit und Herzensgüte.“
Stoner ist ein Farmerjunge, der von seinen schwer arbeitenden, schweigsamen Eltern an die Universität geschickt wird, um etwas über die Landwirtschaft zu lernen. Doch Stoner gerät auf Abwege – jene der Literatur. Er wechselt zu Englisch, liest Shakespeare und Konsorten, bleibt an der Uni und wird Lehrer. Eine bescheidene, aber größtenteils zufriedenstellende Laufbahn als Professor liegt vor ihm. Er lernt Edith kennen und heiratet sie, doch die spärliche Zuneigung zwischen den beiden schlägt bald in pure Abneigung und zeitweise in offenen Hass um. Später wird auch Töchterchen Grace, um das Stoner sich jahrelang wegen Esthers Unpässlichkeiten allein kümmert, in die Ehestreitigkeiten hineingezogen, die Stoner langsam zermürben. Der Erste Weltkrieg verschont ihn und beschäftigt ihn nur aus der Ferne, mehr unmittelbaren Einfluss auf sein Leben haben die universitären Intrigen, die ihn am Weiterkommen hindern. Stoner ist nicht zu glücklich, aber auch nicht zu unglücklich, und dann hält das Leben noch eine Überraschung für ihn bereit: die Liebe.
John Williams‘ 1965 erschienener Roman gilt als verkannter Klassiker, der seit seiner Wiederentdeckung 2002 große Erfolge feiert. Der amerikanische Autor, der wie sein Protagonist englische Literatur lehrte, breitet auf eine erschütternd unerbittliche Art ein Leben vor mir aus, das auf den ersten Blick zäh, anstrengend und ereignislos wirkt. Bezeichnend ist, dass dieses Buch nicht sehr lebendig ist, sondern sehr plakativ erscheint. Beim zweiten Hinsehen fällt mir auf, dass Stoner eigentlich alles hatte, was er sich wünschen konnte: ein Haus, eine Familie, berufliche Anerkennung, eine Leidenschaft – die Literatur. Nichts davon war herausragend, nichts perfekt, aber wann ist es das jemals? Stoner ist still, grau, bedeutungslos, sein Leben ist kein Rausch wie das von Elvis, kein Aufschrei wie das von Luther King, sondern einfach ganz normal. Wie bei uns allen. Dies zeigt der Autor sehr nüchtern, wohlformuliert, wirkungsvoll und überaus lesenswert. Ein Buch, das einem die Augen öffnet für das Gute im Alltag, und zwar auf völlig unesoterische Weise. Sehr gelungen!
Stoner von John Williams ist erschienen im dtv (ISBN 978-3-423-28015-0, 352 Seiten, 19,90 Euro).