„Alles, was man sich vorstellen kann, geht hier vor sich, und dazu auch noch Dinge, die man sich nicht vorstellen kann“
Big Guys Mutter hat sich erhängt, und seine beste Freundin versucht, ihn von seinem Kummer abzulenken – mit Fizzies und, warum auch nicht, mit dem eigenen Körper. Miss Locey liegt am Halloweenabend mit einer Verletzung im Bett und muss von einer Agentur eine junge Frau mieten, die Süßigkeiten an die Kinder verteilt, damit ihr Haus nicht mit Eiern beworfen wird. Katze Gully bekommt zum Geburtstag Fischstäbchen, und in einem Nachmittagsclub erzählen Frauen einander von ihren Krebserkrankungen und den Verfehlungen ihrer Männer.
Amy Hempel tut mit ihren Geschichten etwas, das mich sehr freut: Sie verblüfft mich. Ich nehme ihr schmales Büchlein abends um acht in die Hand – und lege es um halb zehn ausgelesen zur Seite, mit einem verdatterten Gesichtsausdruck. Was hat diese amerikanische Kurzgeschichtenautorin mit mir gemacht? Sie hat mir Rätsel aufgegeben, mir Storys präsentiert, die sich mir nicht erschließen, und andere erzählt, die mich tief anrühren. Sie hat mir Sätze um die Ohren geschlagen und mich mit anderen an der Wange gestreichelt. Dazu braucht sie nicht viele Worte und auch generell nicht viel Platz, die kürzeste Geschichte hat nicht einmal eine Seite. Umso stärker, mutiger und geschickter ist Amy Hempel aber im Umgang mit diesen Worten – sie sitzen alle dort, wo sie sein sollen, auch wenn ich manchmal nicht verstehe, wie sie dorthin gekommen sind.
Die Ernte ist ein Buch voller Kurzgeschichten, die nicht gefällig sein wollen, denen es, glaube ich, sogar ganz egal ist, ob sie gelesen werden und was die Welt von ihnen hält – so cool kommen sie daher. Sie sind rotzfrech, schräg, traurig, unerklärlich, originell und zutiefst verstörend. Gut geht es eigentlich niemandem in diesen Storys, und mir geht es beim Lesen auch nicht gut. Das muss es allerdings auch nicht, denn schließlich will ich etwas spüren bei einem Buch, und hier spüre ich die gesamte Bandbreite der menschlichen Gefühle: Hass, Liebe, Schuld, Einsamkeit, Sehnsucht. Faszination und Verwirrung halten sich die Waage. Der Indie-Verlag luxbooks hat sich vorgenommen, alle zwei Jahre einen weiteren der vier Erzählbände dieser Autorin zu veröffentlichen. Ich kann nur sagen: hervorragende Idee! Und hervorragendes Buch.
Die Ernte von Amy Hempel ist erschienen bei luxbooks (ISBN 978-3-939557-72-2, 113 Seiten, 14,90 Euro).
Das klingt jetzt aber mal verdammt gut. Danke!
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