Eine Stadt, eine Zeitung und elf interessante Persönlichkeiten
1953 gründet der reiche Investor Cyrus Ott eine englische Tageszeitung in Rom. Es beginnt eine Zeit des Erfolgs, die jedoch über 50 Jahre später ihr Ende findet, das vor allem dem Generationenwechsel bei den Otts sowie fehlenden Investitionen geschuldet ist. Diese Veränderung ist ein großer Einschnitt im Leben der Menschen, die diese Zeitung seit vielen Jahren jeden Tag produzieren. Zu ihnen gehört die Textredakteurin Ruby, die ihren Job hasst und ihr Leben auch. Erfüllung in seinem Beruf findet dagegen nach einem schweren Schicksalsschlag Arthur, der früher nur die Nachrufe schrieb. Chefredakteurin Kathleen begegnet in Rom einer alten Liebe und erhält Gewissheit, dass ihr Mann sich eine außereheliche Affäre gönnt. Kein glückliches Händchen in Liebesdingen hat die Wirtschaftsreporterin Hardy. Und Paris-Korrespondent Lloyd muss sich nach Jahrzehnten als gefragter Reporter eingestehen, dass er zum alten Eisen gehört. Schließlich kommt der Tag, an dem die Druckerpressen stillstehen und sich die Wege der Redakteure für immer trennen.
In elf kurzen Geschichten porträtiert Bestsellerautor Tom Rachman verschiedene Charaktere, zeigt sie in ihrer Funktion bei der namenlosen Zeitung genauso wie in ihrem Privatleben. Die Zeitung ist die Klammer, die all diese Menschen zusammenhält, jeder ist ein Rädchen bei der täglichen Zusammenstellung der wichtigsten Nachrichten. Am Ende eines jeden Kapitels erzählt Tom Rachman in knappen Episoden von Cyrus Ott, dem Gründer der Zeitung, und deren langsamen Niedergang. Diese Einblicke in die Vergangenheit hätten für mich ruhig umfassender ausfallen können, damit die Geschichte mehr Fundament bekommt. Tom Rachman hat sich jedoch – zu Recht – dafür entschieden, anhand der Menschen über Entstehung und Herstellung einer Tageszeitung zu berichten, was dem Roman natürlich viel Leben einhaucht. Es geht sehr wohl um Meldungen, um den Zeitdruck vor dem Redaktionsschluss, um den Kampf gegen das Internet und für Abonnenten – aber all das spielt sich im Alltag, im Hintergrund ab und beeinflusst Tom Rachmans Figuren nur während der Arbeitszeit. Sie führen jedoch ein von ihren Jobs unabhängiges Leben, das beim einen erfüllter und glücklicher ist als beim anderen.
Beim Schreiben hält Tom Rachman einen kleinen Scheinwerfer in der Hand, den er nacheinander auf seine Charaktere richtet. Verstohlen folge ich ihm, um einen Blick in deren Schlafzimmer und Herzen zu werfen. Das auf ewig imposante Rom bildet dabei die Kulisse, mit der ich selbst viele liebe Erinnerungen verbinde. So geht es mir auch mit dem Redaktionsleben, das ich aus meinen fast drei Jahren als Korrektorin bei einer großen österreichischen Tageszeitung kenne und dessen Beschreibung mir öfters ein Lächeln entlockt. Eher unzufrieden bin ich allerdings mit Tom Rachmans eher dünner Erklärung für die Beweggründe, die Cyrus Ott dazu bewogen haben, seine Familie in Amerika zurückzulassen und dauerhaft – der Zeitung wegen – in Rom zu bleiben. Viele Seiten lang hab ich sehr gespannt auf diese Erklärung gewartet, aber als sie dann kam, warf sie für mich Fragen auf, die unbeantwortet blieben. Trotz dieser minimalen Enttäuschung hat Die Unperfekten mich gut unterhalten, informiert und begeistert.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ein Cover, an dem es nichts auszusetzen gibt.
… fürs Hirn: die Infos darüber, wie eine Zeitung gemacht wird.
… fürs Herz: die vielen kleinen Details, die zusammengesetzt die verschiedenen fiktiven Schicksale ergeben.
… fürs Gedächtnis: das amüsanteste Zitat mit der originellsten Metapher: “Sie hat heute ein ganz anderes Gesicht, unter matter Pfirsichtönung, dazu orangeroter Lippenstift, Eyelinerbalken um die Augen und die grüne Wimperntusche so dick aufgetragen, dass man beim Augenzwinkern denkt, ein Frosch verhakt seine Zehen.”
Da entdecke ich in meinem Reader doch glatt eine zweite wunderbare Rezension, nachdem ich die erste eben kommentierte. Im Gegensatz zu “Jeden Tag, jede Stunde” liegt dieses Buch bereits hier auf dem SuB und deine Besprechung weckt meine Leselust, denn die Personen hinter dem Job, ohne diesen aus den Augen zu verlieren passen sich ganz wunderbar in mein “Beuteschema” 😉
In dieser Hinsicht ist das Buch auch wirklich toll! Der gemeinsame Arbeitsplatz ist nur eine lockere Klammer, die einzelnen Kapitel sind lauter eigenständige Porträts. Viel Spaß bei der Lektüre!
“Die Unperfekten” liegen auch noch auf meinen SuB, deine Rezension macht mir richtig Lust darauf, das Buch endlich mal in Angriff zu nehmen. Danke dafür! 🙂
Ich hatte es lange auf dem gedanklichen Wunschzettel und hab aufs Taschenbuch gewartet 😉 Ich wünsch dir viel Vergnügen!
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