Der Feind im eigenen Inneren
„Heute ist jedoch ein schöner Tag im Februar, halb drei Uhr nachmittags, und ich bin gerade geschieden worden.“ Das stimmt die junge Künstlerin Sofia fröhlich, denn ihr Ex-Ehemann Nicola leidet an Depressionen, und das Leben mit ihm war über die Maßen anstrengend. Sofia fühlt sich befreit, widmet sich wieder ihren Bildern und Fotografien, und lernt bald gleich zwei neue Männer kennen: den charmanten Arturo und den verheirateten Marcello. Mit beiden beginnt Sofia eine Affäre, und für eine Weile scheint es so, als könnte sie sich entspannt zurücklehnen und ihr Leben genießen. Doch dann wird die Dreiecksbeziehung immer mehr zur Belastung, denn sowohl Arturo als auch Marcello sind labil, wenn nicht gar depressiv, sie verlangen extrem viel Aufmerksamkeit. Von ihrem Vater kann Sofia kaum Unterstützung erwarten, er treibt auf dem offenen Meer, stets auf der Suche nach dem nächsten Hai, mit dem er tauchen kann. „Mein Vater ist ein fröhlicher Mensch. Man sieht es an seinen Falten, die ihm die Sonne und nicht der Kummer eingeritzt hat. Er hat den Dämon außerhalb seiner selbst gefunden.“ Regelmäßig schickt er Sofia ein Video von den Haien und erzählt ihr das Neueste. Das hilft ihr jedoch wenig, als es ihr wegen Arturo und Marcello, die beide an ihr herumzerren, immer schlechter geht: „Mit meiner spitzen Zunge halte ich alle in Schach und fühle mich trotzdem völlig ausgeliefert.“ Die Depression zieht sich wie ein roter Faden durch Sofias Leben: Auch ihre Mutter litt daran. Als Sofia nun anfängt, die Briefe ihrer Mutter zu lesen, verliert sie endgültig das Gleichgewicht …
Caterina Bonvicini thematisiert in ihrem Roman Das Gleichgewicht der Haie, für den sie mit Preisen bedacht wurde, die gespenstische Krankheit Depression. Ihre Ich-Erzählerin, die junge Sofia, ist umgeben von Menschen, die depressiv sind oder es zumindest glauben – und sie schafft es irgendwann nicht mehr, mit Mut und Lebensfreude dagegenzuhalten. In einer eindrucksvollen, sehr lebendigen und klaren Sprache erzählt die Autorin von den Formen und Auswirkungen der Depression. Sie schreckt vor direkten Aussagen und krassen Situationen nicht zurück, hat doch diese Krankheit etwas sehr Endgültiges, das alle, die mit ihr in Berührung kommen, hilflos macht. Ich habe bereits viele italienische Romane gelesen – vor allem beruflich – und bin immer wieder verblüfft, wie gern die vermeintlich so lebenslustigen und lässigen Italiener sich in der Literatur mit Traurigkeit und Selbstmord beschäftigen und welch melancholischen Erzählton sie dabei anschlagen. Immer schimmert aber eine sehr gefasste So-ist-das-Leben-eben-Einstellung durch. Das ist auch im vorliegenden Buch der Fall.
Mir ist der Roman fast ein bisschen zu angefüllt mit depressiven Menschen; die unbekümmerte Fröhlichkeit von Sofias durchgeknalltem Vater ist da zwischendurch eine Wohltat. Insgesamt hat mich Caterina Bonvicini mit ihrer gelungenen Mischung aus Sofias Perspektive, den Kommentaren des Vaters, der stets Parallelen zwischen Haien und Menschen aufzeigt, und den aufschlussreichen Briefen der Mutter sehr für dieses Buch eingenommen. Das Gleichgewicht der Haie ist vielseitig und komplex, sehr klug, trotz der übergroßen Menge an Kranken einigermaßen glaubwürdig und zudem richtig gut geschrieben. Es gefällt mir, dass Caterina Bonvicini durch Sofias Mund nicht lange um den heißen Brei herumredet, sondern jede Regung sehr deutlich zur Sprache bringt. Das geschieht auch in den – nach italienischer Art – hitzigen Dialogen, die sich auf diese Weise niemals zwischen zwei Menschen in unseren Breiten entspinnen könnten. Dieser Roman ist somit eine lesenswerte Auseinandersetzung mit einer übermächtigen Krankheit, das ausdrucksstarke Porträt einer jungen Frau – und ein Einblick in die italienische Seele.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ein sehr schlichtes, logische, auch ein bisschen langweiliges Cover.
… fürs Hirn: der Versuch, Depression zu verstehen. Irgendwie. Wenigstens ansatzweise.
… fürs Herz: auf jeden Fall Sofia und ihr Kampf um das Gleichgewicht.
… fürs Gedächtnis: Sofias Vater und seine interessante Darstellung der Haie.
Mir ging es in einem Satz gesagt ähnlich: Lesenswert, aber ein bisschen arg viel Depression. Übrigens fand ich das Umschlagpapier haptisch sehr angenehm (wenn auch empfindlich). Falls erlaubt: http://zeilentiger.wordpress.com/2013/09/21/caterina-bonvicini-das-gleichgewicht-der-haie/
Da fällt mir auf, dass ich mich kaum noch an das Buch erinnern kann…