Für Gourmets: 5 Sterne

Jan Christophersen: Schneetage

Ein stimmungsvolles Buch über eine raue Gegend
Der Krieg hat Jannis als Waisen zurückgelassen, und Paul hat ihn zu seiner Familie nach Vidtoft direkt an der Grenze zu Dänemark geschickt, wo Jannis bei Pauls Frau Kirsten und Sohn Nils bleiben darf. Er hilft bei der Arbeit im Gasthaus Grenzkrug und wartet wie die anderen auf Pauls Rückkehr. Der wird eines Tages ausgespuckt vom Krieg, halbwegs unversehrt, und zwischen ihm und Jannis entsteht eine besondere, enge Beziehung, die sich vor allem durch die gemeinsame Leidenschaft für das Watt und seine versunkenen Geheimnisse auszeichnet: Schon lange träumt Paul davon, im Schlamm nach den Resten der mystischen Stadt Rungholdt zu suchen, und gemeinsam versuchen Jannis und Paul, dem Meer in den wenigen Stunden, in denen es bei Ebbe möglich ist, Fundstücke aus einer längst vergangenen Zeit abzuringen. Wenig begeistert davon ist Kirsten, die sich mit dem Gasthaus im Stich gelassen fühlt. Und als Jahrzehnte später Schnee von nie gekanntem Ausmaß über Vidtoft niederfällt, kommt zwischen allen Beteiligten endlich zur Sprache, was immer ungesagt blieb.

Schneetage ist ein unglaublich atmosphärisches Buch. Jan Christophersen porträtiert eine Landschaft, die mir fremd ist, er zeichnet das Leben am Rande des Festlandes ab, dort, wo das Meer sich unerbittlich und mit der Ruhe derer, die ewig Zeit haben, Stück für Stück ausdehnt und dem Menschen wieder abnimmt, was er sich aufgebaut hat. Das Watt ist faszinierend, nicht zuletzt aufgrund der Suche von Paul und Jannis nach Überbleibseln aus der Vergangenheit, die beweisen, dass hier einmal Leben war, das inzwischen weggespült wurde und unwiderbringlich verloren ist. Paul steigert sich in diese Suche hinein und verliert sich darin, der elternlose Jannis folgt ihm und bewundert ihn, erkennt aber durchaus auch die Gefahr für die ganze Familie. Im Buch wechselt die Gegenwart, die Schneekatastrophe in den 1970er-Jahren, mit der Vergangenheit, der Zeit gleich nach dem Krieg, als Jannis noch ein Kind war. Misstrauen herrschte damals an dieser gottverlassenen Grenze zwischen Deutschland und Dänemark, die Wunden waren noch frisch, von Verrat und Opportunismus war die Rede, die Nachbarn trauten einander nicht mehr. Und in dieser Zeit bemühten sich Kirsten und Paul, wieder Schwung in die Geschäfte im Gasthaus zu bringen, neu zu beginnen.

Es mag sein, dass Schneetage auf manche Leser langweilig wirkt, denn man muss sich einfinden in diese ganz eigene Stimmung, die stark geprägt ist von der unwirtlichen Umgebung und von den Naturgewalten. Dies ist ein Roman über alles, was verloren geht, und die fast schon panische Suche nach etwas, das bleibt. Um Zusammenhalt geht es, um Familie, um das Vatersein, aber auch um die Bedeutungslosigkeit des Menschen im Angesicht der Zeit. Ich bin begeistert von diesem vielschichtigen Buch, das mit einem würdevollen Schluss aufwartet, vermisse es, als ich es ausgelesen habe, und merke, dass es noch lange nachwirkt: Das ist das größte Kompliment überhaupt.

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