Prost Mahlzeit: 1 Stern

„Jeder Gast bekommt bei seinem Besuch eine Geschichte geschenkt“
Helene und Lena: Zwei Frauen, die es aus unterschiedlichen Gründen in ein kleines Dorf an der spanischen Nordwestküste verschlägt. Helene hat hier einst schöne Momente verbracht und weiß nach einem schweren Schicksalsschlag keinen Ort, an den sie sonst gehen könnte. Sie wird von der Klosterschwester Hermana Consuelo liebevoll umsorgt und gepflegt. Lena ist erst 18 und liegt mit der ganzen Welt im Clinch, weil niemand sie versteht und keiner sie liebt. Die spießigen Eltern hatten genug von Lenas Rebellion und schickten sie zum Onkel, wo sie die Kinder hüten soll. Wie alle Dorfbewohner wird Lena aufmerksam auf die stumme verzweifelte Frau, die jeden Tag ruhelos am Strand entlangrennt, um dann zusammenzubrechen und lethargisch aufs Meer zu starren: Helene. Sie will Helenes Geheimnis ergründen und nähert sich ihr an. In ihrer Jugendlichen Großkotzigkeit geht sie beim Herumstöbern in Helenes Vergangenheit nicht gerade feinfühlig vor – und bringt sich schließlich selbst in die Bredouille …

Es gibt Bücher, die machen es mir schwer. Sie zeigen mir Seiten, die mir außerordentlich gut gefallen, und enthalten Sätze, bei denen ich zustimmend nicken mag. Gleichzeitig sind sie aber stellenweise so anstrengend, langweilig und bescheuert, dass ich nicht weiterlesen will. Vom Leben und Sterben der Pinguinfische von Juliane Hielscher ist so ein Buch. Das Setting ist schön, das Meer rauscht, die Menschen in dem spanischen Dorf tragen ihre Geschichten im Herzen und auf der Zunge. Zwei Frauen treffen hier aufeinander, die verschieden sind, aber sich selbst im Schmerz der anderen erkennen. Wobei Helene viel authentischer wirkt als Lena, die mit ihrer Bockigkeit und ihrem Selbsthass ein richtig blödes Gör ist. Ihre Art, mit Helenes Traurigkeit umzugehen, ist unerträglich, und weil ich dauernd lesen muss, dass sie dumme Dinge sagt wie: „Die hat doch so ein Trauma wegen dieses Kindes. Die kapiert doch gar nicht, was mit ihr los ist“, würde ich das Buch am liebsten in die Ecke pfeffern. Aber dann wieder hält mich ein schöner Gedanke, ein guter Satz bei der Stange und ich breche das Buch nicht ab (wer mich kennt, weiß, dass ich ja generell ein Problem damit habe). Hätte ich es mal lieber gemacht. Denn natürlich ist ein Roman, der mich nicht gleich überzeugt, fast immer Zeitverschwendung – das hat mich meine lange Leseerfahrung gelehrt. Und als dann das dicke Ende kommt, ist es dermaßen überzogen und unbegreiflich, dass … ich gar nicht mehr darüber reden mag.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein uninteressantes Buch, aber ein wahnsinnig tolles Cover – das bisher schönste 2012. Wenn man den Schutzumschlag entfernt, ist man am Meer.
… fürs Hirn: für mich nur die Qual, das Buch schlecht, aber nicht schlecht genug zu finden.
… fürs Herz: Helenes großer, sehr trauriger Verlust.
… fürs Gedächtnis: endlich zu lernen, Bücher abzubrechen.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

“Ich bin eine Grille, ich spiele Lieder in der Sonne”
„Wir lebten am Rand der Welt und konnten jederzeit herunterfallen.“ Im Fall von Ludwig ist das wörtlich gemeint: Früher wohnte er mit seiner Mutter an der englischen Ostküste in einem Haus, das so nah an den Klippen stand, dass das Meer ihnen den sandigen Boden unter den Füßen wegfraß – bis schließlich alles versank. Auch zuvor hatte Ludwig einmal seine Heimat verloren, als er nach dem Weggang des Vaters mit seiner Mutter Alexandria verließ. Nun ist er erwachsen, verdient sein Geld als Pianist in Bars und kehr für eine Beerdigung nach Reading zurück. Die Asche seiner Mutter hat er in einer Urne bei sich. Was ist geschehen zwischen damals und heute? Ludwig erzählt es seiner Barbekanntschaft in den gemeinsamen Nächten: wie er seiner Mutter, einer Pornodarstellerin, in die USA folgte und sich dort verliebte und wie er schließlich den Vater, einen der Welt entrückten und völlig wahnsinnigen Künstler, fand.

Tommy Wieringa ist ein vielgerühmter Autor, der 2006 mit Joe Speedboat Beachtung fand. Ich bin durch eine Empfehlung zu diesem Schriftsteller gekommen – aber ich konnte seinem zweiten Roman wenig abgewinnen. Zwar klingt die Geschichte in ihren Möglichkeiten vielversprechend – Mutter Pornodarstellerin, Vater Künstler, wie entwickelt sich der Sohn? –, doch in der Umsetzung war sie mir zu langweilig. Protagonist Ludwig hat sich zwar viel bewegt in jungen Jahren, er wurde abgeschoben, umgesiedelt, zurückgelassen, aber wenig davon, so scheint es, hat ihn bewegt. Natürlich ist seine abgebrühte Art nur ein Schutz – aber ich möchte von solchen Männern, die nie Zugang zu ihrer Gefühlswelt geben, nicht lesen. Ludwig wirkt auf mich wie einer jener Männer, die reden und reden und dabei wenig sagen. Er schneidet sich seine große Liebe grundlos aus dem Herzen und gibt sich cool.

Nur für seine Mutter bringt Ludwig sehr wohl Gefühle auf – und zwar sexueller Art. Das ist irritierend. Vielleicht möchte der Autor damit ausdrücken, dass Ludwig mit der Berufswahl seiner Mutter nicht klarkommt. Doch schon als kleiner Junge ist Ludwig von seiner Mutter erregt und später sagt er beispielsweise: „Du schamloses Wesen, dachte ich, mit deinen herrlichen Titten. Ich sah ihr nach, ihrem prallen Po und ihren vollen Schenkeln. Ich warf meine Kleidung ab und folgte ihr. Als ich den Kopf untertauchte, dachte ich an ihren Urin, in meinem Zustand war alles sexuell aufgeladen.“ Ludwigs Konzentration auf seine Mutter hat krankhafte Auswüchse, dennoch ist ihre Beziehung nicht liebevoll. Dass dieses Tabu gebrochen wird, stört mich nicht weiter, aber da sich mir der Grund dafür nicht erschließt, fühle ich mich klarerweise abgestoßen. In all diesen Geflechten im Buch gibt es mit Sicherheit noch mehr zu entdecken, aber mir fehlte das Interesse, nach Bedeutsamkeit zu suchen. Denn Tommy Wieringa hat mit seinem Stil meinen Lesegeschmack nicht getroffen. Ich wünsche mir Bücher, deren Sprache wie eine Melodie erklingt, ganz egal, in welchem Tempo, und abgeschmackte Sätze wie „So ist das Leben, Herzchen … So ist es, wenn man erwachsen wird“ ertrage ich nur schwer. Der verlorene Sohn und ich sind uns nicht nahe gekommen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
Hanser-Cover sind in ihrer kraftvollen Schlichtheit immer sehr schön. Auch wenn ich nicht weiß, was das mit dem Pferd soll.
… fürs Hirn: die Frage: Was tust du, wenn du einen Porno anschaust und auf einmal deine Mutter mitspielt?
… fürs Herz: Ludwigs Verlorenheit.
… fürs Gedächtnis: merke: weniger online kaufen und öfter in einer Buchhandlung in ein Buch reinlesen. Dann wäre dieser Fehlgriff nicht passiert.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Die Kehrseite der Buch-über-seltsames-Kind-Medaille
Hazel ist noch ein Kind und hat trotzdem nicht so richtig Spaß am Leben. In der Schule geschieht wenig Aufregendes, Hazel gehört zum guten Mittelfeld kurz vor dem Außenseitertum. Sie hat einen kleinen Bruder, aber scheinbar keine besondere Beziehung zu ihm. Und dass die Eltern es nicht schaffen, zusammenzubleiben, macht Hazel zu einem von Millionen unspezifischen Scheidungskindern.

An der extrem kurzen Inhaltsangabe merkt man schon, dass in Help me, Jacques Cousteau von Gil Adamson nicht viel passiert. Dieses Buch gehört zu den Worst Cases unter den Romanen über kleine Kinder mit merkwürdigem Verhalten, er ist weder interessant noch witzig. In der Rezension zu Sarah Winmans Buch Als Gott ein Kaninchen war habe ich die zwei Bedingungen beschrieben, unter denen ein derartiger Roman mir gefällt, und im vorliegenden Fall sind sie definitiv nicht erfüllt. Es gibt keine verrückten, sonderbaren Menschen in Hazels Umgebung und somit auch keine erzählenswerten Ereignisse. Ihr Vater ist von Beruf Meteorologe, aber das Potenzial, daraus etwas Kurioses zu basteln, nutzt die Autorin nicht. Der kleine Bruder ist langweilig, Freunde gibt es in Hazels Leben nicht, und das Mädchen selbst ist zwar nett und ein wenig einsam, aber das lässt es nicht zu einer charakterstarken Protagonistin werden. Zudem sind die wenigen Seiten, auf denen Hazel am Ende erwachsen ist, völlig zusammenhangslos und sinnentleert. Deshalb ist dieses Buch von Anfang bis Ende nicht mein Fall, aber dank großer Schrift und Oberflächlichkeit in 1,5 Stunden ausgelesen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
beim Anblick dieses Covers hätte ich es eigentlich wissen müssen.
… fürs Hirn: der Gedanke, dass es genau so nicht sein soll.
… fürs Herz: pfffff.
… fürs Gedächtnis: nichts.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Der Krieg, der Krieg, nichts als der Krieg
Marija ist in Jugoslawien geboren, lebt aber lange schon in Wien. Als sie 50 ist, stehen die Zeichen in ihrem Heimatland auf Krieg, und Marija zieht es nach Zagreb. Ihr Mann und ihre Tochter, die in den USA wohnt, haben dafür kein Verständnis, aber Marija setzt sich durch und verschwindet in der bedrohten Stadt. Während sie dort wild mit einem jungen Soldaten vögelt, erlebt der traumatisierte Polizist Ludwig absurde Situationen in Brasilien als Adjutant im Haus von Don Filipo, der einst als Fallschirmjäger im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Deutschen gekämpft hat. Er ist in Brasilien im Exil mit seiner jungen Frau Claudia, die sich mit Ludwig vergnügt: “Er hatte noch nie eine Frau gekannt, die ihrem Mann mit einer solchen Hingabe Hörner aufsetzte, wie sie es tat, nie eine, die so hartnäckig immer neue Varianten ersann, als gäbe es genauso viele Möglichkeiten, ihn zu betrügen, wie es die Anatomie unter Verrenkungen zuließ, und sie war dabei so laut und wollte es auch sein, daß Ludwig die ganze Zeit auf die Tür starrte und hoffte, es würde davon so wenig nach draußen dringen wie von den Schüssen aus dem Raum nebenan.” Und Don Filipo ist Marijas Vater. Sie glaubt ihn tot, seit sie ein kleines Mädchen war, und hat doch nie aufgehört, auf ihn zu warten: „ (…) ein Warten, das längst nicht mehr das Warten auf ihren Vater war, sondern ein Warten darauf, daß etwas passieren würde, das ihr Leben endlich in Schwung brachte, während sie gleichzeitig nichts mehr fürchtete, als aus ihrem verträumt abwesenden Zustand herausgerissen zu werden.“ In Zagreb, das jederzeit explodieren könnte, findet Marija sozusagen Minuten vor dem Krieg heraus, dass ihr Vater lebt. Und dass er sie sucht.

Norbert Gstrein ist ein mit Preisen bedachter österreichischer Autor, von dem mir derart viel vorgeschwärmt wurde, dass ich mich entschlossen habe, einen seiner Romane zu lesen. Die Winter im Süden handelt von einer Frau und einem Mann, die nichts miteinander zu tun haben und abwechselnd erzählen, von einem Alten, der ein Kriegsfanat ist und noch mal kämpfen will, dieses Mal in Kroatien, und von einem Land, das an jenem Punkt ist, kurz bevor alles überkocht. Norbert Gstrein fackelt nicht lange herum, seine Sätze sind klar, logisch, geradeheraus und wirklichkeitsnah. Anfangs lasse ich mich gefangen nehmen von den Geschichten dieser Menschen, von denen keiner weiß, was er will und wo er es bekommen soll, doch dann merke ich von Seite zu Seite, wie ich aus dem Buch herausrutsche, als säße ich auf einem eisigen Hang. Meine Aufmerksamkeit nimmt ab, mein Unwille nimmt zu, denn es geht um den Krieg, den Krieg, nichts als den Krieg – jenen, der vorbei ist, und jenen, der beginnt – und das ist in Ordnung, doch in diesem Fall langweilt es mich. Aber dafür schäme ich mich, denn was könnte wichtiger sein als das Zuhören und das Erinnern, ich kämpfe mich weiter durch den Roman. Aber weder zu Ludwig noch zu Marija finde ich Zugang, beide Protagonisten bleiben blutleer für mich, ich nehme sie nur in ihren Handlungen wahr und in den Reaktionen der anderen darauf. Immer noch weigere ich mich, mir einzugestehen, dass das Buch mir so fremd bleibt wie die Ereignisse darin, weil man ein derart gepriesenes Buch doch gut finden muss, doch dann kommt das Ende. All die Energie, die sich aufgestaut hat, die ganze Erwartungshaltung, die der Autor aufgebaut hat, verpufft. Und übrig bleibt nichts. Außer mein Gähnen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
man muss genau hinschauen, das Foto ist toll!
… fürs Hirn: viel altes, gefährliches, nie vergrabenes Gedankengut.
… fürs Herz: nichts, nichts, nichts.
… fürs Gedächtnis: das persönliche Versagen, wieder mal an vermeintlich großer Literatur gescheitert zu sein.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Ringelreia in einem grönländischen Dorf
Der dänische Krankenpfleger Jesper kommt für ein Jahr in die Krankenstation eines kleinen Dorfs am östlichen Rand Grönlands. Er leitet sie zusammen mit einer Krankenschwester, einen Arzt gibt es nicht. Angesichts der Probleme ist Jesper oft hilflos: In Grönland stirbt man schnell. Man stirbt an einer Eileiterschwangerschaft, an einer Kopfverletzung, an einer Lungenentzündung – weil niemand da ist, der operieren kann; weil der dänische Hubschrauber wegen eines Sturms nicht fliegen kann. Jesper versucht sich mit Frauen abzulenken. Ob verheiratet oder nicht, spielt dabei keine Rolle, denn die Grönländer nehmen es mit der Treue überhaupt nicht genau. Sie spielen gern Karten, sitzen auf dem Boden und essen vergorenes Robbenfleisch. Das Leben ist beschwerlich, es ist kalt, stürmisch und dunkel, die Laune ist nicht immer die beste, Komfort sucht man vergebens. Und so vertreiben sich die Grönländer so gut es geht die Zeit, hier an diesem Ort, den man das Ende der Welt nennen könnte, wäre die Erde nicht rund.

“Die Handlung dieses Buches könnte sich in nahezu jeder der sechzig übrigen Siedlungen Grönlands abspielen, denn die Stimmung ist immer die gleiche: die Nähe zum Meer, die Gemütsschwankungen, die parallel zum Wetterwechsel verlaufen, die Schlepperei beim Beschaffen von Wasser und Heizöl, das Gefühl der Ausgesetztheit, Geborgenheit, Sorge, Vertrautheit”, schreibt der dänische Autor Kim Leine über sein Buch Die Untreue der Grönländer.Er stellt darin in einer Art „interlinking short stories“ ein grönländisches Dorf anhand seiner einzelnen Bewohner vor. Jedes Kapitel ist einem anderen Menschen gewidmet, aber sie gehören zusammen, erwähnen einander in ihren persönlichen Geschichten, weil sie Haus an Haus leben – und es gar nicht viele Häuser gibt in dieser Gegend. Die Bezugsperson im Buch, die alles locker zusammenhält, ist der Krankenpfleger Jesper, der aus Dänemark für ein Jahr nach Grönland kommt. Es ist möglich, dass Die Untreue der Grönländer für viele Leser ein interessanter Roman ist – aber mir ist es nicht gut ergangen damit.

Mich haben der Titel und die Aussicht, etwas über die Lebensart der Grönländer zu erfahren, angezogen, doch das Buch hat mich trotz der ersehnten Informationen über Grönlands Einwohner gelangweilt. Das liegt vielleicht daran, dass in Grönland nicht viel passiert und dass es irgendwann nicht mehr so aufregend ist, wenn jeder mit jedem ins Bett geht. Ich hatte zudem meine Schwierigkeiten damit, mich bei jedem Kapitel auf eine neue Persönlichkeit einzulassen, deren Schicksal dem der anderen immer irgendwie ähnelt. Kim Leines Erzählton konnte mich einfach nicht fesseln, aber nicht einmal das kann ich an einem konkreten Beispiel festmachen – im Gegenteil, denn einige Sätze haben mir außerordentlich gut gefallen, sie beweisen Kim Leines Schreibtalent: „Ein dänischer Vater oder Großvater hat ihre Haut gebleicht, einige Sommersprossen über die Nase verstreut und ihr diesen hellen, nebligen Schimmer in die Augen gelegt“ gehört dazu, genau wie: „Wenn er etwas sagen will, kommen die Wörter viel zu schnell angestürmt, wie panische Bewohner eines brennenden Hauses, die alle auf einmal hinausstürzen und die Tür blockieren.“ Das waren Satzperlen, nur gab es leider zu wenig davon. Und inhaltlich hat mich der sexuelle Ringelreia-Reigen der Grönländer auch nicht überzeugt. Letztlich lässt es sich vielleicht so ausdrücken: Ich konnte einfach keine Geduld für diesen Roman aufbringen. Aber ich wünsche anderen Lesern, dass sie es können.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein gut gemachtes, originelles Cover. Der Titel ist Programm!
… fürs Hirn: der Gedanke: Alter Schwede, dort würde ich nie leben wollen.
… fürs Herz: die eine oder andere Liebschaft im grönländischen Dorf.
… fürs Gedächtnis: mein seltsamer Unwille diesem sperrigen Buch gegenüber.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Klein in jeder Hinsicht
Arzee ist nicht gerade groß, aber seine Träume sind es: Er will erfolgreich sein, es weit bringen, Geld verdienen, eine Frau finden, die ihn liebt. Er lebt mit seiner Mutter und seinem Bruder in beengten Verhältnissen, und er wünscht sich mehr Respekt. Jeder sieht auf ihn herab, weil er klein ist, aber Arzee glaubt, dass sie ihn bald beneiden werden: Wenn sein Vorgesetzter im Filmtheater Noor in Pension geht, wird er selbst befördert werden, mehr Gehalt bekommen und endlich glücklich sein. Großmaulig verkündet Arzee schon, was für ein Wandel zum Guten ihm bevorsteht, doch das Schicksal macht ihm einen Strich durch die Rechnung: Das Kino soll geschlossen werden. Arzees Träume zerschlagen sich, und weil er noch dazu hohe Wettschulden hat, ist ihm ein Geldeintreiber auf den Fersen, den er nicht bezahlen kann. Arzee hat nicht vor, sich unterkriegen zu lassen – aber gegen die Steine, die das Leben ihm in den Weg wirft, kann er nicht viel ausrichten …

Chandrahas Choudhury ist in Bombay aufgewachsen, der wilden, ausufernden, stinkenden indischen Metropole. Er weiß, wie es ist, dort zu leben, und er erweckt in seinem ersten Roman Der kleine König von Bombay die hitzige Atmosphäre der Stadt. Was mir allerdings nicht so behagt, ist sein äußerst schwülstiger, aufgesetzter Erzählton. Protagonist Arzee wirkt auf mich wie ein Tolkien-Hobbit, der durch Bombay wandelt und sich halbphilosophisch mit sich selbst unterhält. Das klingt beispielsweise so: „Lauf, mein Freund! Die Scherereien des heutigen Tages liegen hinter dir – jetzt auf zum Ziel!“ Das ist mir viel zu krampfig und pathetisch. Das ganze Buch über geht es jedoch in diesem Stil weiter: „Um mich selbst mache ich mir keine Sorgen. Ich komme schon zurecht, bin mein Leben lang zurechtgekommen, sonst hätte ich es nicht so weit gebracht. Aber wer sagt das gerade? Das sage ich, während ich nach Hause gehe und zu diesem Mond hinaufschaue.“ Nun ja, ich gestehe, dass mich diese Monolog-Tiraden doch recht gelangweilt haben. Schön fand ich die liebevolle Beschreibung des alten Filmtheaters namens Noor, was „Licht“ bedeutet, und die lebhafte Schilderung von Bombay. Was den Hergang der Geschichte betrifft, so habe ich mir mehr Inhalt, mehr Action, mehr Höhepunkte erwartet – letztlich erzählt der Klappentext bereits alles, was im Buch geschieht, bis auf eine kleine Überraschung vielleicht. Sehr schade!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: das Cover gefällt mir an dem Roman am besten.
… fürs Hirn: da fällt mir nichts ein.
… fürs Herz: da auch nicht.
… fürs Gedächtnis: dito.

Der kleine König von Bombay von Chandrahas Choudhury ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-24917-1, 260 Seiten, 14,90 Euro).

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Schauderhaft wie ein Geist
Vier Tage war Aguilar fort, um Zeit mit seinen Söhnen aus erster Ehe zu verbringen, und als er zurückkehrt, findet er seine Freundin Augustina in einem völlig verwirrten Zustand: Er muss sie in einem Hotelzimmer abholen, erfährt aber nicht, was sie dort gemacht hat und mit wem. Augustina ist abweisend, bösartig, zu keinem Gespräch bereit und legt verrückte Verhaltensweisen an den Tag, stellt zum Beispiel in der gesamten Wohnung mit Wasser gefüllte Behältnisse auf. Sie stammt aus einer von Bogotàs angesehendsten Familien und hat beim Universitätsprofessor Aguilar, der sich mit dem Verkauf von Hundefutter über Wasser halten muss, eine bescheidene Bleibe gefunden. Als Augustinas Tante Sofi aus dem Nichts auftaucht und sich um sie kümmert, verbessert sich ihr Zustand ein wenig. Von ihr erfährt der ratlose Aguilar, der sich zwischenzeitlich einer anderen Frau zuwendet, Geheimnisse über Augustinas reiche Familie: Das Geld des Patriarchen stammt aus dem kolumbianischen Drogenhandel und ist gewaschen, der Umgang mit den Kindern war stets mehr als lieblos – so konnte Augustinas vermeintliche hellsichtige Gabe den kleinen Bruder nur selten vor Schlägen schützen. Augustinas Verrücktheit geht zurück auf das Erbe ihres Großvaters, und einen ausgewachsenen Ehebruch gibt es in der ach so ehrenwerten Familie auch.

Beste Kritiken und Lob aus Mündern wie jenem von José Saramago und Gabriel García Márquez umschwirren Laura Restrepos Roman Land der Geister. Ich kann keins davon nachempfinden. Von “großem Lesevergnügen” ist die Rede, von “einem der besten Romane der letzten Zeit”. Für mich ist es ausschließlich einer der anstrengendsten Romane der letzten Zeit. Das liegt zum einen an der extrem unrunden, kantigen Sprache. José Saramago hat mein Leseverhalten vor 15 Jahren stark beeinflusst, weshalb ich durchaus ein Freund von langen, verschachtelten Sätzen bin. Nicht aber von solchen, wie Laura Restrepo sie mir vorsetzt, denn sie wechselt regelmäßig mitten im Satz die Perspektive – von der dritten Person zu ersten und wieder zurück zur dritten, zur Erzählerin selbst. Über mehrere Seiten denke ich anfangs, neben den einzelnen Figuren stünde jemand, nämlich der Ich-Erzähler, dabei handelt es sich vielmehr um einen höchst schizophrenen Schreibstil. Ich sehe die Charaktere von innen und von außen gleichzeitig, aber nur in Scherben, denn weder da noch dort sehe ich sie ganz. “Aguilar nahm ihn wahr, sobald er die Wohnungstür aufmachte: diesen bitteren Geruch des Sonderbaren, er setzt sich bei uns fest, wenn Augustina durchdreht, wenn sie in eine ihrer Krisen gerät, ich habe gelernt, ihn zu erkennen und meiner eigenen Traurigkeit beizumengen, die genauso riecht.” Das klingt schön und irgendwie gut, aber auch abstoßend und zu gewollt. Gefangen hat mich das Buch, das als so spannend beschrieben wird, weil es die dunklen Machenschaften der Drogenbosse Kolumbiens aufdeckt, nicht. Viele Passagen sind zäh und langweilig, etwa wenn Augustinas Ex-Liebhaber Midas, der sie geschwängert und im Stich gelassen hat, in einem ewigen Monolog von Pablo Escobar und dem impotenten Spider erzählt oder wenn es um Augustinas demenzkranken Großvater geht. Augustinas angebliche hellseherische Fähigkeiten sind wohl nur eingebildet, da sie nur derart beschrieben werden, dass sie als Kind vorhersagen konnte, wann der Vater den Bichi schlagen würde – was wohl nicht schwer war, geschah es doch fast jeden Tag. Und die Geheimnisse, die sich entblättern – nun, all das kommt in den besten Familien vor. Um mich zu sagen: in fast jeder. Was ist also überraschend oder überragend an diesem Buch? Für mich nichts.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist das Beste am ganzen Roman.
… fürs Hirn: dass das Drogengeld in vermeintlich ehrbare Familien fließt – aber wen wundert das.
… fürs Herz: nicht einmal die Liebe zwischen Augustina und Aguilar, die gar nicht allzu groß zu sein scheint.
… fürs Gedächtnis: Enttäuschung.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Ein Thriller, wie Thriller eben sind
Seit 15 Jahren ist Niels Bentzon bei der Mordkommission der Polizei Kopenhagen, seit zehn Jahren arbeitet er als Vermittler bei Geiselnahmen. Sein neuester Fall ist eigentlich gar keiner: Niels soll die “guten Menschen” von Kopenhagen warnen – denn laut einer vom italienischen Polizisten Tommaso Di Barbara an Interpol gegebenen Meldung werden weltweit Morde begangen. Die Gemeinsamkeiten: Die Opfer haben merkwürdige Zeichen am Rücken, von denen niemand weiß, ob es Tätowierungen oder Brandnarben sind, und sie haben in ihrem Leben viel Gutes getan. Die Astrophysikerin Hannah Lund, die Niels bei seinen Nachforschungen kennenlernt, findet noch mehr Gemeinsamkeiten: 38 Auserwählte gibt es dem jüdischen Glauben zufolge, sie beschützen die Menschheit in jeder Generation. 36 von ihnen sind tot, die Zeitpunkte und Orte der Morde ergeben ein System. Hannah berechnet, wo der letzte Mord stattfinden soll: in Kopenhagen. Das Opfer: Niels.

Die Auserwählten ist ein typischer Thriller: Ein 08/15-Protagonist – in diesem Fall ein Kommissar – erfährt durch Zufall vom drohenden Untergang der Welt, auf den es immer irgendwie hinausläuft, und setzt natürlich alles daran, ihn zu verhindern. An die Seite gestellt bekommt er dabei etwas Hübsches, Weibliches und beim Autorenduo A. J. Kazinski auch Kluges: eine Frau. Gemeinsam kämpfen sie bis zum bitteren Showdown gegen alle Widrigkeiten – derer es viele gibt. Dass sie am Ende reüssieren, ist klar. So weit, so gut – oder schlecht, je nachdem, wo die persönlichen Vorlieben liegen. In den seltensten Fällen bietet ein Thriller mehr als seichte, vorhersehbare Unterhaltung, und leider bleiben am Ende oft mehr Fragen offen, als am Anfang gestellt wurden. A. J. Kazinski haben eigentlich alles richtig gemacht: ein netter Held, der selbst in Gefahr gerät, ein alter Mythos, mysteriöse Morde. Wer aber ein solches Rätsel um die Todesfälle macht, muss zum Schluss Erklärungen liefern, die Sinn ergeben. Wer hat die Morde begangen? Gott? Wozu, er muss doch gewusst haben, dass Niels überlebt? Wieso überlebt er überhaupt? Logisch ist es nicht im Geringsten.

Das Ende des Buchs ist ebenso unglaubwürdig und weit hergeholt wie die gesamte Handlung, es bleibt sehr schwammig, und der Roman hört unvermittelt auf. Dabei wird der Leser zuvor – als Hannah und Niels im Krankenhaus sind – über Seiten und Seiten hingehalten, während die beiden nach Lösungen suchen und ihnen die Zeit davonläuft. Das ist spannend – was dann aber als vermeintlicher Höhepunkt präsentiert wird, ist so mickrig, dass alles wie ein Berg heißer Luft in sich zusammenfällt. Grausam für jeden, der – wie ich – beim Lesen nichts so sehr fürchtet wie abgeschmackte Klischeesätze, ist die Sprache von Die Auserwählten. Formulierungen wie “Seine Arme bestanden nur aus Haut und Knochen und fühlten sich so an, als könnten sie jederzeit zerbrechen” oder “Er wollte leben. Wollte nicht sterben. Er hatte doch noch so viel vor” sind einfach unterste stilistische Schublade. Auch will ich nicht mehr lesen müssen, dass jemand einen anderen ärgerlich anschaut statt verärgert, das ist wirklich peinlich. Mit ganz billigen Tricks versuchen A. J. Kazinski, den Leser zu erschrecken: “Niels ging nach draußen auf die Hintertreppe und schaltete das Licht ein. “Wer ist da?” Keine Antwort.” Uuuh-huu. Oder eher gähn? Die beiden haben sich in ihrer Idee, das Ende der Welt durch den Tod der Guten herbeizuführen, komplett verzettelt. Fazit: Netter Versuch.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein genretypisches Cover mit schönen Blutflecken.
… fürs Hirn: alles Leben ist Mathematik.
… fürs Herz: der tragische Selbstmord von Hannahs Sohn.
… fürs Gedächtnis: nichts, ich brauche den Speicherplatz für Besseres.

Dieser Roman ist nominiert für den „M Pionier“-Buchpreis der Mayerschen Buchhandlung!

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Kein gutes Buch
“Was mir fehlte, war eine Aussicht, die Überzeugung, dass ich für etwas gebraucht wurde, das Gefühl, dass noch etwas für mich vorgesehen war, dass es ein Leben gab, in das ich gehörte.” Der Deutsche Tom lebt in Philadelphia. Seine Mutter ist Amerikanerin, die auf einer Europareise in Deutschland hängen blieb – und dann sehnsüchtig den Tod der Schwiegermutter erwartete, um in die USA zurückzukehren. Tom arbeitet sporadisch für eine Zeitung, gerade beschäftigt er sich mit den Selbstmorden junger Frauen. Maria, eine Freundin aus Kindertagen, in die Tom einst verliebt war, kommt ihn besuchen, kehrt aber nach einiger Zeit zu ihrem Freund, dem brutalen Schnitzer, zurück. Tom zieht daraufhin unvermittelt mit seiner Nachbarin Terry in einen Vorort. Terry ist Lehrerin und wurde von einem Schüler attackiert; das Haus im Vorort hat sie von ihrer Mutter geerbt. Dort sitzt Tom nun ohne Auto fest und die Perspektiven für seine Zukunft schwinden. Unglücklich ist auch die Deutsche Christiane, die in ihrer neuen Schule wie eine Gefangene gehalten wird und eigentlich nur nach hause will.

Kein fremdes Land ergibt – auf den Punkt gebracht – keinen Sinn. Die Handlungsweise der Figuren ist nicht nachzuvollziehen, die Ereignisse hängen kaum zusammen, ich kenne mich, ich muss es gestehen, teilweise überhaupt nicht aus. Was will Maria von Tom, warum kommt sie nach Philadelphia, warum verschwindet sie wieder? Keine Ahnung. Wie gehören Tom und Terry (ein Schelm, wer jetzt an eine Zeichentrickserie denkt) zusammen? Man weiß es nicht: “Seid ihr ein schönes Paar, Terry und du? Ich zuckte mit den Schultern. Paar ist vielleicht übertrieben.” Die beiden kennen sich eigentlich gar nicht – es ist nicht einmal klar, ob sie sich überhaupt mögen. Was hat es mit den Selbstmorden auf sich? Tom treibt sich in den Häusern herum, von denen jemand gesprungen ist, findet aber nie etwas heraus, forscht im Prinzip auch gar nicht richtig nach. Was soll das, wieso gibt es in diesem Punkt keine Auflösung? Und wie passt die junge Christiane in dieses Buch, deren Alltag wie ein Leben im Gefängnis geschildert wird, obwohl sie jeden Tag mittags nach hause gehen kann? Fragen über Fragen – und keine Antworten. Alles in diesem Roman wirkt überzogen dramatisch – obwohl im Grunde gar nichts geschieht. Ich kann mit Kein fremdes Land nichts anfangen und wundere mich, dass Ricarda Junge eine hochgelobte Nachwuchsschriftstellerin ist, denn auch stilistisch ist dieses Buch in meinen Augen nicht überragend. Zu vernachlässigen!

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Der Geschmack der Enttäuschung ist herb
Im Jahr 1916 arbeitet der dunkelhäutige Nathan Walker gemeinsam mit seinen Kumpel unter Manhattan: Sie graben ein Tunnelsystem für die U-Bahn. Viele Jahre später, die Tunnel sind längst stillgelegt, lebt dort der obdachlose Treefrog, versteckt sich vor der Kälte und den Menschen. Nathan Walker heiratet die Tochter seines verstorbenen Kollegen Con, eine Weiße – das ist im Amerika jener Zeit ein Skandal, das Ehepaar und die Kinder sehen sich nicht nur ständigen Anfeindungen, sondern auch echter Lebensgefahr ausgesetzt. Sie sind arme, traurige Gestalten – genau wie Treefrog und die anderen Heimatlosen, die unter der Stadt hausen.

Das Leben hat mich gelehrt, dass es oft, sehr oft keine gute Idee ist, von einem Autor, von dem man einen Roman toll fand, ein zweites Buch zu lesen. Doch obwohl ich das weiß, habe ich Der Himmel unter der Stadt vom Remittendentisch für wenig Geld mitgenommen. Und wer nicht hören will, muss fühlen: Ich habe es bitter bereut. Während Zoli von Colum McCann eines der besten Bücher war, die ich 2010 gelesen habe, ist Der Himmel unter der Stadt eine herbe Enttäuschung. Ich vermisse die Magie und Poesie von Zoli schmerzlich und kann gar nicht glauben, dass beide Bücher vom selben Autor sein sollen. Zwar klingt die Geschichte von Nathan Walker und Treefrog durchaus ansprechend, in der Umsetzung ist sie jedoch fad und ohne Höhepunkte. Es gibt viel Darstellung und Beobachtung, aber keine Bewegung. Zoli war sprachlich grandios, Der Himmel unter der Stadt ist allenfalls okay. Die Handlung geht ins Nichts, der Zusammenhang zwischen den Figuren ist mir so dermaßen lange nicht klar, dass es dann schon fast absurd wirkt, als ich es endlich begreife. Schade, schade – die Zweitbuchregel zu brechen, war in diesem Fall wirklich ein böser Fehler.