Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Shafak„Wenn sie erst wussten, dass man ein Herz aus Glas hatte, brachen sie es auch“
Pembe will fort, Jamila nicht. Die Zwillingsschwestern, deren Namen Genug Schönheit und Rosarotes Schicksal bedeuten, wachsen in Kurdistan auf, in einem abgelegenen Dorf, mit Eltern, die sich von Allah gestraft fühlen, weil sie nur Töchter bekommen haben und keinen einzigen Sohn. Als sie 19 ist, wird Pembe Mutter von Iksander und ist verheiratet mit Adem, dem Mann, der Jamila liebt. Er bringt sie tatsächlich fort, sie wandern aus nach London, wo Pembe in einem Friseursalon arbeitet und sich um ihre mittlerweile drei Kinder kümmert. Die Ehe ist unglücklich, Adem verfällt dem Glücksspiel und der schönen Roxana. Pembe lässt ihn ziehen, und schon bald erobert ein fremder Mann den freien Platz in ihrem Herzen. Doch Pembe hat Angst. Zu Recht – denn bald geschieht etwas Furchtbares, das die ganze Familie für immer in den Abgrund reißt …

Elif Shafak, die in Istanbul und London lebt, hat bereits zwölf Romane veröffentlicht, die in der Türkei zum Teil umstritten sind. In Ehre erzählt sie eine vielschichtige, farbenprächtige, Jahre umspannende Geschichte, die in Kurdistan und England spielt. Aberglaube und kurdische Sitten, Ehrenmorde, die Einsamkeit des Emigrantenlebens und die Liebe – dies sind die großen Themen, um die dieses Buch sich dreht. Dank ihrer Wurzeln weiß die Autorin, wovon sie schreibt, sie muss nichts kunstvoll erklären, die kulturellen Hintergründe fließen von selbst in die Handlung ein, sind begleitend und ausschlaggebend zugleich. Um die Protagonistinnen Pembe und Jamila gruppieren sich mehrere Figuren, die in eigenen Erzählperspektiven ebenfalls zu Wort kommen: Adem, Iksander, seine Geschwister. Die Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, im Gegenteil, Elif Shafak springt zwischen den Zeiten hin und her, lässt die Schwestern Briefe schreiben, nimmt Ereignisse vorweg und liefert die Erklärungen dazu später. Das ist schlau gemacht, verrät einiges, aber nicht zu viel, und hält die Spannung aufrecht.

Elif Shafak beleuchtet eine Familie mit drei Kindern, deren Eltern nie in Liebe verbunden waren, die in England aufwachsen, aber ihre Heimat im Herzen tragen, ohne zu wissen, was das bedeutet, und die rasend schnell erwachsen werden. Ihre Figuren sind tragische Gestalten, liebenswert in ihrer Versehrtheit, hilflos, gebrandmarkt durch eine große Schuld. Es ist der Autorin ausgezeichnet gelungen, das Verschiedene an den einzelnen Charakteren herauszuarbeiten: das Weiche, Kluge an Jamila, der Heilerin, Pembes gut verborgene Verzweiflung, Iksanders Hitzköpfigkeit, die kindliche Hingabe seines Bruders Yunus, die Lahmarschigkeit von Adem. Ich mag die Sprache, die Poesie, die Verflechtung der Kulturen, die Darstellung der Figuren, die Erzählweise. Ein wenig zu klischeehaft sind mir die Ereignisse zum Teil, und das Ende lässt mich doch recht verwundert zurück. Aber Ehre ist ein lesenswertes Buch, ein kraftvolles, trauriges, gut geschriebenes Buch, in dem das Schicksal gebeten wird, einzutreten – was völliges Chaos auslöst.

Banner

Ehre von Elif Shafak ist erschienen im Kein & Aber Verlag (ISBN 978-3-0369-5676-3, 528 Seiten, 24,90 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Shafaks fiktive Chronik eines Ehrenmordes, sehr fein übersetzt, kommt der europäischen Realität eindringlich und ungemütlich nahe“, schreibt spiegel.de.
– In der FAZ könnt ihr ein Interview mit Elif Shafak lesen.
– Sehr beeindruckend fand Die Leserin das Buch.
– Hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Netter Versuch: 2 Sterne

Die Türkei in Aufruhr
Am 1. Mai 1977 gerät der 18-jährige Eiche mitten hinein in die Unruhen: “Schlägereien und Schusswechsel zwischen Faschisten, revolutionären Studenten und der Polizei waren an der Tagesordnung.” Eine junge Frau namens Zuhal rettet Eiche aus der Gefahr, und als sich ihre Wege später erneut kreuzen, kommt Eiche mit dem revolutionären Gedankengut in Kontakt. Er lebt sehr behütet, er geht in ein Internat und plant, seine Freundin Ayfer zu heiraten. Doch durch die Berührung mit der Politik und die Anziehungskraft, die Zuhal auf ihn ausübt, nimmt sein Leben eine Wende: Eiche und Ayfer trennen sich, er beginnt ein Literaturstudium. Aber während Zuhal ernst macht, in den Untergrund geht, sich den Terroristen anschließt und Menschen tötet, kann Eiche sich nicht dazu überwinden, die Theorie vom freien Leben in die Praxis umzusetzen, er glaubt nicht an die Gewalt. Und so kann es für ihn und Zuhal niemals einen gemeinsamen Weg geben.

Zwei Beweggründe hatte ich, mir dieses Buch zu kaufen: Zum einen hatte ich eine sehr positive Rezension gelesen, zum anderen wusste bzw. weiß ich sehr wenig über die Türkei in den 1970er- und 1980er-Jahren und dachte, das könnte interessant werden. Das war es prinzipiell auch, allerdings sollte man wohl dennoch in Grundzügen über den geschichtlichen Hintergrund der Ereignisse Bescheid wissen, um sie zu verstehen. Schwarzer Himmel, schwarzes Meer ist ein sehr unstrukturiertes Buch, der Autor folgt seinem Protagonisten Eiche und dem Ziel seiner Sehnsüchte, der Aktivistin Zuhal, mal mehr, mal weniger nah, er lässt die Jahre vergehen, die Handlung verläuft enttäuschenderweise irgendwie im Sand. Da es – obwohl sie das Zweierpaar dieses Romans sind – nur wenige Überschneidungen zwischen Eiche und Zuhal gibt und ihr Erleben parallel geschildert wird, wartet man als Leser ständig auf einen großen Knall, ein Aufeinanderprallen, eine Lösung. Ab Seite 160 kommt auch Zuhal plötzlich selbst zu Wort, zuvor hat sie keine eigene Perspektive – dieser unerwartete Wechsel hat mich sehr irritiert. Ich hätte mir mehr Berührungspunkte zwischen den beiden Helden gewünscht, man kann in ihrem Fall ja nicht einmal von Sehnsucht oder gar Liebe sprechen.

Izzet Celasin war ins einer Jugend selbst politisch aktiv und hat einige Zeit im Gefängnis verbracht. In diesem Roman beschreibt er die Nöte und Pläne der türkischen Jugend von dazumals, die auf der Suche war nach der ultimativ gültigen Weltansicht. Während Eiche seltsam unentschlossen bleibt und nie richtig Stellung bezieht, wirkt Zuhal wie eine gar zu hochstilisierte Symbolfigur ohne eigene Persönlichkeit, die klischeehafte Terroristin, die nicht davor zurückschreckt, für ihre Ziele zu töten oder selbst in den Tod zu gehen. Alles in allem ein Buch über eine aufregende Epoche in der Geschichte der Türkei, dessen Handlung jedoch wegen vieler zäher Schwachstellen zu wünschen übrig lässt. Ein wenig versöhnlich stimmt mich der passende, wenn auch pathetische Schluss.