„Ich sah ihn an und dachte, er ist mir fremder als fremd und vielleicht liebe ich ihn“
„Haben Sie auch manchmal das Gefühl, Frau Gevorgian, die Arbeit an einem Buch ist mehr als Papier, Schimmel, Tinte, Leder? Wenn ich am Abend nach Hause gehe, vermisse ich dieses Buch, als wäre es etwas Lebendiges.“
Helen ist nach Jerewan gekommen, um ein Buch zu restaurieren, eine alte armenische Bibel. Sie hat Wurzeln in diesem Land, das sie nicht kennt, ihre Mutter gibt ihr ein Bild von Vorfahren mit, die Helen fremd sind. Sie findet rasch Anschluss bei den gastfreundlichen Menschen und lernt den jungen Soldaten Levon kennen, von dem sie sich angezogen fühlt. Zuhause gibt es Danil, mit dem sie zusammenwohnt. Viel mehr als an ihrer eigenen Geschichte ist Helen interessiert an der Geschichte des Buchs: Wer hat diese Sätze an den Rand gekritzelt, wo ist die Bibel gewesen, wer hat darin gelesen, wer hat verzweifelt gebetet? Im Jahr 1915 war dieses Buch alles, was den Geschwistern Anahid und Hrant geblieben war, als sie fliehen mussten. Und während sie auf der Suche waren nach einem Ort, an dem sie leben konnten, macht auch Helen sich auf die Suche – nach einer Spur, nach ihrem Ursprung, nach einer Antwort.
„Schon als Anahid noch klein war, war die Mutter sparsam mit Zärtlichkeiten, weil das Leben nicht verwöhnt. Anahid verstand das nicht, weil das Leben, das waren sie doch selbst.“
Katerina Poladjan hat ein wunderschönes, sehr stilles Buch geschrieben über Fremdheit und Entwurzelung, über das Bewahren von Dingen, die älter sind als wir selbst, und unsere Ehrfurcht davor. Elegant hat sie den Handlungsstrang der beiden Kinder, die mit der Bibel auf der Flucht sind, verwoben mit jenem der Restauratorin Helen, die behutsam und zärtlich dieselbe Bibel instand setzt, ohne je erfahren zu können, was Hrant und Anahid erlebt haben. Sie spürt die Geschichte hinter dem weitgereisten Gegenstand, hat aber keine Möglichkeit, seine Vergangenheit zu ergründen: All das ist längst geschehen, es ist vorbei. In einer bedachten, sparsamen Sprache erzählt die in Russland geborene Autorin, die für diesen Roman für den Deutschen Buchpreis nominiert war, von der Liebe zu Menschen und Dingen. Ihre Protagonistin Helen ist jemand, der nicht nur mit dünnen Papierseiten vorsichtig umgeht, sondern auch mit Gefühlen. Hier sind Löwenist ein leises, kluges, bestechend ausdrucksstarkes Buch, das einen kleinen Einblick in die Geschichte Armeniens gibt – und in das Herz jener Menschen, die nicht, wie die meisten anderen, getrieben sind von Zerstörungswut.
Hier sind Löwen von Katerina Poladjan ist erschienen bei S. Fischer.
mE der mit Abstand beste Roman auf der Shortlist. Scheinbar einfach, ohne fancy Tricks und Spektakel, aber mit jedem näheren Blick vielschichtiger. Der einzige auch, den ich definitiv nochmal leseen werde & den man auch in Jahrzehnten noch lesen kann ohne zu sagen, “naja, halt ein Zeitroman”. Leider wird er bis dahin wohl fast vergessen sein.